ADOLF VON HARNACK

MARCION: DAS EVANGELIUM VOM FREMDEN GOTT
Kapitel IV, Seite 35—73

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IV. Der Kritiker und Restaurator. Die Bibel Marcions.

    Marcion, seines eigenen Glaubens als des echtpaulinischen gewiß, sah die große Christenheit um sich in einer inneren Verfassung, in der alles verloren schien. Während er überzeugt war, daß Christus das AT und den Gott desselben abgetan und einen fremden Gott verkündet hatte, identifizierte sie fort und fort die beiden Götter und erbaute sich aus dem AT, war also durch und durch „judaistisch“. Ferner, Bücher unter den gefeierten Namen der Urapostel stützten und förderten offenkundig durch ihre Erzählungen diesen Irrtum. Endlich — das Schlimmste — selbst in den Briefen des Paulus stand unverkennbar vieles, was unzweideutig den Irrglauben bestätigte, daß Christus der Sohn des Weltschöpfers sei und den Willen dieses seines Vaters in seinem Werke fortgesetzt habe.
    Wie war das geschehen, und wie konnte es geschehen, wenn doch die Wahrheit nach einigen Hauptstellen in den paulinischen Briefen so unzweideutig und klar war?   E i n e   g r o ß e   V e r s c h w ö r u n g   w i d e r   d i e   W a h r h e i t   m u ß,   n a c h d e m   C h r i s t u s   d i e   W e l t   v e r l a s s e n,   s o f o r t   e i n g e s e t z t   u n d   m i t   d u r c h s c h l a g e n d e m   E r f o l g   i h r e   A b s i c h t e n   d u r c h g e s e t z t   h a b e n.   Keine andere Erklärung reicht hier aus. M. griff diese Erklärung auf. Um sie zu beweisen, stand ihm aber, wie seine Ausführungen lehren, schlechterdings nichts zu Gebote als die Erinnerung an den Kampf, den Paulus mit seinen judaistischen Gegnern geführt hatte, und auch von diesem Kampfe wußte er nichts anderes, als was in den Briefen des Apostels zu lesen stand.
    Es ist wichtig, diese Tatsache nicht zu übersehen. Niemals hat sich M. auf andere Zeugnisse zu berufen vermocht. Kein


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lebendiger Widerhall jener Kämpfe war mehr zu ihm gekommen; von keiner fortgesetzten Aktion wußte er über das aus den Briefen Bekannte hinaus, und keine neue Urkunde stand ihm zu Gebote, die ihm über die Absichten, sei es des Paulus, sei es seiner Gegner Aufschluß geben konnte ¹.
    Aber bei Paulus selbst, im Galaterbrief vornehmlich, waren zwei Leitsterne, so schien es M., gegeben, denen man nur zu folgen brauchte, um aus dem Labyrinth der schlimmen Überlieferungen auf den sicheren Weg zu gelangen: (1) Paulus erklärt, daß es nur   e i n   Evangelium gebe und daß er es   a l l e i n   vertrete,   w i e   e r   e s   a u c h   b e s o n d e r s   e m p f a n g e n   h a b e;   (2) er erklärt ferner, daß die anderen alle ein gefälschtes   j u d a i s t i s c h e s   Evangelium verkündigen und daß er sie daher   a l l e   schlechthin bekämpfen müsse als solche, welche in dem Irrglauben befangen sind, der Vater Jesu Christi sei mit dem Weltschöpfer und Gott des ATs identisch.
    Aus diesen Erklärungen ergaben sich für M. folgende Einsichten:
    (1) Das Evangelium, welches Paulus meint, muß nach seinen eigenen Worten von allem Judaismus frei sein, d. h. nicht nur keinen Zusammenhang mit dem AT haben, sondern ihm feindlich gegenüberstehen; also ist alles gefälscht, was als christlich gelten will, aber diesen Zusammenhang aufweist.
    (2) Daraus ergab sich ihm sofort, daß auch die Briefe des Paulus verfälscht sein müßten, da sie in ihrem gegenwärtigen Bestand vieles Judaistische enthielten.
    (3) Es ergab sich ihm aber ferner aus den paulinischen Briefen, daß das ganze apostolische Zeitalter ausschließlich von   e i n e m   Hauptthema bewegt gewesen ist, von dem Kampfe der judaistischen Christen gegen das wahre, d. h. das paulinische
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    ¹ Man muß aus dieser Tatsache schließen, daß man selbst an Hauptplätzen der Christenheit um d. J. 140 bereits nicht mehr sichere Unterlagen für ein wirkliches geschichtliches Wissen vom Urchristentum besaß, als wir besitzen. Immer wieder freilich wird man nachsinnen und nachforschen, ob M. nicht doch bei seiner Kritik der Apostel in ihrem Verhältnis zu Paulus durch eine lebendige, sei es auch tendenziöse Tradition bestimmt gewesen ist, aber gewiß werden solche Nachforschungen negativ enden. M.s Kritik ist also durchaus eine jede geschichtliche Unterlage entbehrende Sach- und Wortkritik gewesen.


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Evangelium. Der deutlichste Beweis für diese seine geschichtliche Ansicht sind die Prologe zu den Paulusbriefen, mögen sie nun von M. selbst stammen oder von einem seiner Schüler; denn in ihnen werden diese Briefe   a u s s c h l i e ß l i c h   unter dem Gesichtspunkt betrachtet, wie die Gemeinden, an die sie gerichtet sind, zum paulinisch-judaistischen Kampfe stehen, und der Verfasser bringt es wirklich fertig, ihnen allen dieses Thema aufzunötigen: die „falsi apostoli“ kommen entweder dem Paulus in der Mission zuvor oder dringen in seine Mission ein; die Gemeinden lassen sich entweder von ihnen berücken oder bleiben dem Evangelium des Paulus treu.
    (4) Die „falsi apostoli“ hat M. nach Gal. 1, 6—9; 2, 4 und II Kor. 11, 13. 14 bestimmt. Aus diesen Stellen, die er in eins faßte, ergab sich ihm, daß eine große Gruppe unautorisierter und namenloser Judaisten sich des Apostelamts in der Kirche Christi angemaßt und eine mit dem höchsten Erfolg gekrönte Propaganda im ganzen Reich in Szene gesetzt hat, und zwar muß ihr unheilvolles Treiben schon gleich nach der Auferstehung Christi begonnen haben. Sie werden (M. folgt dem Galaterbrief) zwar von den Uraposteln bestimmt unterschieden; aber M. hat sich überzeugt, daß diese eine ganz klägliche Rolle gespielt haben. Folgende Vorstellung von ihnen hat er sich gebildet: Jesus hat sie (die Zwölf) auserwählt (Luk. 6, 13 ff.; Tert. IV, 13) und sich die größte Mühe mit ihnen gegeben; aber selbst bei seinen Lebzeiten gelang es ihm nicht, sie dauernd zu dem Glauben zu bringen, daß er der Sohn eines fremden und nicht des ATlichen Gottes sei. Als Petrus in Cäsarea das große Bekenntnis zur Gottessohnschaft seines Meisters ablegte, mußte dieser ihm Schweigen auferlegen, weil Petrus ihn für den Sohn des Weltschöpfers hielt (Tert. IV, 21). Obgleich die Himmelsstimme bei der Verklärung deutlich erklärte, nicht Moses und Elias seien zu hören, sondern Christus, verstand Petrus das nicht, wie seine törichte Aufforderung,   d r e i   Hütten zu bauen, beweist (IV, 22). Zwar hatten die Jünger Lichtblicke in bezug auf die Erkenntnis „der Wahrheit des Evangeliums“ und das rechte Verhalten, so damals, als einer von ihnen Jesum bat, sie beten zu lehren, was er nicht getan, wenn er noch an den Gott des AT geglaubt hätte (IV, 26), oder damals, als Jesus ihre Praxis gegenüber der der fastenden Johannesjünger rechtfertigte (IV, 11: „Christus


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discipulos defendit, ut merito aliter incedentes, aliam scil. et contrariam initiatos divinitatem“). Aber alsbald fielen sie wieder zurück, und sie sind gemeint, wenn Jesus klagend von dem „ungläubigen Geschlechte“ spricht (Tert. IV, 22). Die Auferstehung Christi scheint sie eine kurze Zeit lang auf den rechten Weg geführt zu haben und sie wurden sogar als „Herolde eines anderen Gottes“ von den Juden verfolgt (IV, 39); allein sehr rasch verdunkelte sich ihnen alles wieder, zumal da sie auch die Menschenfurcht nicht überwanden. Als daher Paulus seinen Kampf gegen die falschen Apostel begann, da machten sie zwar mit diesen nicht gemeinsame Sache, aber sie unterstützten den Zeugen der Wahrheit nicht, sondern offenbarten sich als halbe Judaisten („Petrum ceterosque apostolos vultis Iudaismi magis adfines subintelligi“, Tert. V, 3), als Gesetzesmenschen („Petrus legis homo“, Tert. IV, 11), als furchtsame Begünstiger der pseudoapostolischen Mission (Tert. V, 3), ja als solche, die durch Quertreiberei und Täuschung den Verdacht, an der Depravation des Evangeliums schuld zu sein, schwerlich abzuwälzen vermögen („Si apostolos praevaricationis et simulationis suspectos Marcion haberi queritur usque ad evangelii depravationem“, Tert. IV, 3). Sie selbst schon haben in ihrem Unverständnis „Gesetzliches“ der Überlieferung der Worte Jesu beigemischt (Iren. III, 2, 2: „Apostolos admiscuisse ea quae sunt legalia salvatoris verbis“), und aus ihrer Missionstätigkeit konnte nichts Ersprießliches hervorgehen, da sie die volle Wahrheit nicht erkannt und, noch immer durch jüdischen Sinn beeinflußt, das Evangelium nur gebrochen verkündet haben (Iren. III, 13, 2: „Non cognoverunt veritatem“; III, 12, 12: „Apostoli adhuc quae sunt Iudaeorum sentientes annuntiaverunt evangelium“) ¹. Christus hat daher nicht nur durch die Wahl des Judas, sondern auch, wenn auch in anderer Weise, durch die Wahl der Zwölf eine schwere Enttäuschung erfahren. Daher mußte, sollte „die Wahrheit des Evangeliums“ nicht untergehen, ein neuer Zeuge und Missionar
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    ¹ Dazu Tert., De praesc. 22 f.: „Proponunt ad   i g n o r a n t i a m   aliquam apostolorum, quod Petrus et qui cum eo reprehensi sunt a Paulo; ,adeo‘, inquiunt,   ,a l i q u i d   e i s   d e f u i t‘ ... ,alia evangelii forma a Paulo superducta citra eam quae praemiserat Petrus et ceteri‘ .... s u s p e c t a m   faciunt doctrinam superiorem.“


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erweckt werden. Die Urapostel waren nicht dezidierte Irrlehrer, aber sie sind in einer schweren Konfusion stecken geblieben, ja immer tiefer in sie geraten und sind sogar nicht von dem „Schachern“ mit dem Evangelium zurückgeschreckt (II Kor. 2, 17).
    (5) Unzweideutig sagt Paulus, daß er ein von Christus selbst direkt berufener Apostel, daß sein Evangelium nicht durch menschliche Vermittlung an ihn gekommen sei, daß er es vielmehr durch Offenbarung erhalten habe und zwar durch eine Entrückung in den dritten Himmel, d. h. in einen Himmel, der hoch über dem Weltenhimmel liegt. Hieraus schloß M., daß Paulus als   d e r   Apostel von Christus berufen worden sei, um der falschen Predigt entgegenzuwirken, und ferner, daß   e i n   Evangelium vorhanden sein müsse, das von keinem Menschen geschrieben, sondern direkt von Christus dargereicht sei — wie, darüber scheint sich M. keine deutliche Vorstellung gemacht zu haben. Die Schüler haben bald an Christus selbst als Verfasser gedacht, bald an Paulus (Adamant., Dial. I, 8; II, 13f.; Carmen adv. Marc. II, 29); aber Tert. berichtet nur IV, 2: „M. evangelio suo nullum adscribit auctorem.“ Bemerkenswert ist hier vor allem, daß M. es für selbstverständlich gehalten haben muß, (indem er gewisse Äußerungen des Paulus so deutete), daß Christus für ein authentisches   g e s c h r i e b e n e s   Evangelium gesorgt hat — so verlassen war er von aller geschichtlichen Kunde und so gewaltsam machte er selbst Geschichte. Die Preisgabe des ATs hat ihn gewiß (neben den allgemeinen Zeitvorstellungen in bezug auf das, was eine zuverlässige Religion nötig hat) zu dieser fixen Idee geführt; denn eine littera scripta muß vorhanden sein, und wenn der Weltschöpfer eine solche gegeben hat, so mußte der fremde Gott erst recht eine solche darbieten. Wie unzureichend die mündliche Überlieferung sei, war ja durch die unzuverlässige Missionspredigt der zwölf Apostel aufs klarste dargetan.
    E i n   a u t h e n t i s c h e s   s c h r i f t l i c h e s   E v a n g e l i u m   m u ß   e s   g e b e n — in dem Momente, in welchem M. sich davon überzeugte, trat bei dem Zustande der Evangelien-Literatur, den er vorfand, eine schwere Versuchung an ihn heran, nämlich die Versuchung, ein solches Evangelium selbst zu schaffen! Allein hier zeigt sich mit besonderer Deutlichkeit das merkwürdige Ineinander von Meisterung und von Treue gegenüber der Geschichte, das diesen seltsamen Geist charakterisiert, dazu das


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Ineinander einer Energie, wie sie nur der Religionsstifter hat, und der Bescheidenheit des Schülers. So gewiß es nämlich ist, daß seine Kirche ihn, den Stifter, sehr bald hoch gefeiert hat — sie sah ihn zur Linken des thronenden Christus sitzen (Paulus zur Rechten), sie rechnete nach dem Tag, da er in Rom mit der judaistischen Kirche endgültig gebrochen hatte, sie nannte ihn   „d e n   Bischof“ (Adamant., Dial. I, 8) —, so gewiß ist auch, daß M. selbst niemals auf den Beruf und Rang eines Propheten oder Apostels Anspruch erhoben und niemals seine eigene Autorität oder gar Offenbarungen, die er gehabt, ausgespielt hat. Er wußte sich einfach als Schüler des Paulus; nur in dessen Spuren wollte er gehen, und wie er sich weit davon entfernt glaubte, eine eigene Frömmigkeit und Mystik zu lehren (s. u.), so hätte er es gewiß für den schwersten Frevel gehalten, die wahre Überlieferung oder gar das Evangelium zu schaffen.
    E i n   a u t h e n t i s c h e s   s c h r i f t l i c h e s   E v a n g e l i u m   m u ß   e s   g e b e n;   denn Paulus sagt es; aber wo ist es? Es muß unter den überlieferten vier Evangelien zu finden sein; denn daß es ganz wieder verschwunden, kann Christus nicht zugelassen haben. Daß es nur   e i n e s   sein könne, war keine Idiosynkrasie M.s; vielmehr war der Zustand, den er vorfand, eine unleidliche Kalamität und Verlegenheit, die erst jüngst in einigen Hauptkirchen eingetreten war und bei der sich gewiß die wenigsten damals noch beruhigt haben — jener Zustand, nach welchem die Christenheit die authentische Überlieferung von Christus aus vier Evangelienbüchern schöpfen sollte, was eine contradictio in sich selbst ist! Im besten Falle war die Nebeneinanderstellung dieser vier Bücher etwas Vorläufiges; demnächst mußte sie durch eine Verarbeitung zu einer Einheit aufgehoben werden. Aber eine solche Verarbeitung zu leisten, mußte M. so fern liegen wie die Schöpfung des authentischen Evangeliums; denn nur die reine Überlieferung wiederherzustellen, war sein Amt; eine „Verarbeitung“ wäre ein Attentat an ihr.
    W e l c h e s   v o n   d e n   v i e r   E v a n g e l i e n   i s t   d a s   a u t h e n t i s c h e ?   Tertullian berichtet uns, daß M. sie in den „Antithesen“ alle geprüft hat, und auch aus den Mitteilungen des Irenäus und Origenes läßt sich das entnehmen. Zunächst stellt er fest, daß die Urapostel selbst nichts geschrieben haben (Adam., Dial. II, 12: ἐκήρυξαν ἀγράφως) — woher er das zu wissen meinte, ist uns


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unbekannt —; damit waren die Evangeliennamen „Matthäus“ und „Johannes“ sofort als Fälschungen erwiesen ¹; aber nicht nur die Namen sind gefälscht, sondern alle vier Evangelien sind, so wie sie vorliegen, nach Aufschrift ² und Inhalt Fälschungen der Judaisten (Tert. IV, 3: „M.   c o n n i t i t u r   [scil. in den „Antithesen“] ad destruendum statum eorum evangeliorum, quae propria et sub apostolorum nomine eduntur vel etiam apostolicorum, ut scil. fidem, quam illis adimit, suo conferat“) ³. Eines von ihnen aber muß nicht gefälscht, sondern, wie die Paulusbriefe, nur   v e r f ä l s c h t   sein; denn sonst wäre ja das Evangelium der Wahrheit untergegangen. M. entschied sich für das Evangelium, welches „die judaistische Überlieferung“ fälschlich als das Lukanische bezeichnete .
    Die Auswahl muß M. nicht leicht gefallen sein; er hat sie und die Zurückweisung der anderen Evangelien samt den Interpolationen im „echten“ Ev. in seinen Antithesen begründet; leider fehlt uns die Begründung. Daß er das Matth.-Ev. sofort ablehnen mußte, ist freilich unzweifelhaft, und im 4. Evangelium mußten ihm sofort der Prolog („Er kam in sein Eigentum“), die Hochschätzung des Vorläufers Johannes, die Hochzeit von Kana usw., aber auch die ganze zum Spätjudentum gehörige Mystik äußerst unsympathisch sein, so lockend ihm auch ein
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    ¹ Da M. nach seinem abschätzigen Urteil über die Urapostel keinen Grund haben konnte, dem Matthäus und Johannes die Urheberschaft der unter ihrem Namen stehenden falschen Evangelien abzusprechen, so ist sein negatives Urteil in bezug auf die Verfasser dieser Evangelien auch heute noch nicht wertlos und darf nicht übersehen werden.
    ² Für Markus fehlt ein direktes Zeugnis; aber da M. die drei anderen Autorennamen für Fälschungen gehalten hat, wird er bei Markus keine Ausnahme gemacht haben.
    ³ Über die Beschäftigung M.s mit den anderen Evangelien bzw. die Bekämpfung s. Beilage S. 249* f. Am sichersten ist, daß er den Spruch: „Ich bin nicht gekommen aufzulösen, sondern zu erfüllen“, ausdrücklich bekämpft hat, also das Matth.-Ev. kannte.
     S. Iren. III, 14, 3: „Secundum Lucam evangelium decurtantes gloriantur se habere evangelium.“ Tert. IV, 2: „Ex his commentatoribus quos habemus, Lucam videtur (= „apparet“) M.   e l e g i s s e“;   IV, 4: „Evangelium, quod Lucae refertur apud nos, M. per Antitheseis suas arguit   u t   i n t e r p o l a t u m   a   p r o t e c t o r i b u s   I u d a i s m i   ad concorporationem legis et prophetarum“. So auch andere Zeugen.


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Spruch wie der war: „Alle, die vor mir gekommen sind, sind Räuber und Mörder gewesen“, und manches andere. Die Entscheidung mußte also entweder auf Lukas oder auf Markus fallen. Für diesen sprach, daß er keine Vorgeschichte bot, aber gegen ihn sprach die Dürftigkeit an Worten Jesu, die M. besonders empfindlich sein mußte. Für Lukas fielen der „heidenchristliche“ und der asketische Charakter, wohl auch, trotz Preisgabe des Namens, der überlieferungsgeschichtliche Zusammenhang mit Paulus schwer ins Gewicht; aber andrerseits war die Vorgeschichte in M.s Augen ein ungeheures Skandalon der Fälschung. Wenn er sich doch für dieses Evangelium entschied und nicht für Markus, so hat der Grund vielleicht nur in äußeren Umständen gelegen: das erste Evangelium, welches in den Pontus gekommen ist, war wahrscheinlich das Lukas-Ev.; mit ihm wird M. am frühesten vertraut gewesen sein, wenn es nicht gar Jahre hindurch in seiner pontischen Heimat sein einziges Evangelium gewesen ist. So mag er an dem Evangelienbuch festgehalten haben, das er zuerst kennen gelernt hatte.
    Die Prüfung ergab also: die „protectores Iudaismi“ haben, nachdem schon die zwölf Apostel Judaistisches in die mündliche Überlieferung des Evangeliums eingemischt, drei falsche Evangelien (und dazu unter falschen Namen) in die Welt gesetzt und das wahre Evangelium, welches Paulus seiner Missionspredigt zugrunde gelegt hat, sowie die Briefe des Apostels verfälscht. Dem verfälschten authentischen Evangelienbuch haben sie den Namen des Lukas vorgesetzt; denn falsch muß dieser Name sein — Paulus hat ja das Evangelium nach seiner eigenen Aussage von Christus selbst erhalten.
    Sind aber das wahre Evangelium und die Paulusbriefe verfälscht, so ist es, so schwer die Aufgabe auch sein mag, die oberste Verpflichtung, sie von dieser Fälschung zu befreien.   M i t   d i e s e r   V e r p f l i c h t u n g   b e t r a u t   z u   s e i n — nicht mit einer „innovatio“, sondern mit der „recuratio retro adulteratae regulae“ (Tert. I, 20) —, d a r i n   b e s t a n d   d a s   r e f o r m a t o r i s c h e   B e w u ß t s e i n   M.s, und als den „Restaurator“ hat ihn auch seine Kirche gefeiert. Aber für diese Aufgabe berief er sich nicht auf eine göttliche Offenbarung, auch nicht auf eine besondere Anweisung, auch nicht auf eine pneumatische Unterstützung; nicht als Enthusiast unternahm er sie,   s o n d e r n,


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a u f   i n n e r e   G r ü n d e   s i c h   s t ü t z e n d,   l e d i g l i c h   m i t   d e n   M i t t e l n   d e r   P h i l o l o g i e.
    Hieraus folgt sofort, daß er für seine Textreinigungen — es wird das gewöhnlich übersehen — absolute Sicherheit weder in Anspruch nehmen konnte, noch in Anspruch genommen hat. Das ergibt sich aber auch aus der Geschichte seines Textes; denn vielleicht noch unter seinen Augen, sicher seit seinem Tode, haben seine Schüler fort und fort — bald radikaler als er, bald konservativer — an den Texten geändert. Es ist uns das aufs bestimmteste von Celsus, Tertullian und Origenes, ja noch von Ephraem überliefert, und wir besitzen auch Proben. Die Marcionitische Kirche hat also von ihrem Meister das Evangelium und die zehn Paulusbriefe   n i c h t   mit der Anweisung erhalten, den wiederhergestellten Text als ein Noli me tangere zu verehren, sondern der Meister hat ihnen Freiheit gegeben, ja vielleicht die Verpflichtung hinterlassen, die Arbeit an der Herstellung des richtigen Textes fortzusetzen. Diese Freiheit ging so weit, daß spätere Marcioniten unbefangen die (gesäuberten) Pastoralbriefe zur Briefsammlung des Paulus gezogen haben — M. kann sie demnach nicht verworfen, sondern muß über sie geschwiegen haben —, und daß sie sich sogar nicht scheuten, aus den anderen Evangelien einzelne Stücke aufzunehmen ¹. Letzteres kann nicht auffallen; denn wenn auch M. diese Evangelien als gefälschte einfach verworfen hat, so kann ihm doch ihre Verwandtschaft mit dem Lukas-Evangelium,   a u c h   i n   d e s s e n   „e c h t e n“   A b s c h n i t t e n,   nicht entgangen sein. Wenn sie also unzweifelhaft Zuverlässiges neben den vielen Fälschungen enthielten, so konnte auch M. schwerlich etwas dagegen einwenden, daß man sie in seiner Kirche nachträglich vorsichtig heranzog; ja, es ist nicht ganz ausgeschlossen, daß er selbst die Fassung von Herrensprüchen, die auch Matthäus bot, beachtet hat, wenn auch (s. u.) fast alle Übereinstimmungen seines Lukastextes mit dem Matthäustext (wider den ursprünglichen Lukastext) auf Konformationen zurückzuführen sind, die das Exemplar des Lukas-Ev., welches er in Rom durchkorrigierte, schon aufwies.
    Wahrscheinlich in Rom, vielleicht schon früher, hat M. die
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    ¹ Die Fälschung eines Laodicenerbriefs steht auf einem anderen Blatte und liegt nicht auf der kritischen Linie des Stifters.


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große Aufgabe der Wiederherstellung der Texte unternommen. In den Beilagen III und IV habe ich die Überlieferung der Texte untersucht, sie selbst, soweit möglich, wiederhergestellt und gezeigt, daß der sog. Wtext den Bemühungen Marcions zugrunde liegt und daß eine Fülle von Lesarten, die früher als Marcionitische galten, einfach abendländische sind — mit einem Wort: fast alle die, welche dogmatisch neutral sind (auch wenn sie sonst der Bezeugung entbehren); denn daß M. nebenbei auch eine kritische Diorthose des Textes rein stilistischer Art hat geben wollen, läßt sich nicht erweisen, wenn auch einige Stellen sich so deuten lassen. Hin und her, jedoch ist auch das nicht sicher, hat er der Neigung nachgegeben, zu unterstreichen und zu verdeutlichen; an einigen Stellen, an denen seine Änderungen für uns undurchsichtig sind, mag eine tendenziöse Absicht gewaltet haben, die wir nicht mehr zu durchschauen vermögen. Begonnen aber hat M. seine Arbeit höchst wahrscheinlich mit der „Reinigung“ der Paulusbriefe; denn erst von hier aus konnte er den Maßstab für die Kritik der bunten Überlieferung finden, wie sie in dem „verfälschten“ dritten Evangelium vorlag. Für das folgende bitte ich stets die Texte in den „Beilagen“ zu vergleichen.
    Nach welchen Prinzipien hat nun M. die Arbeit an den Texten vollzogen? Wir sind noch in der Lage, diese Frage in der Hauptsache befriedigend zu beantworten, so trümmerhaft uns der Marcionitische Bibelkanon überliefert ist und so unsicher wir bei zahlreichen Abschnitten bleiben müssen, ob sie bei M. gefehlt haben oder ob sie Tertullian (bzw. andere Zeugen) übergangen hat ¹. Bei der Beurteilung muß man stets im Auge behalten, daß in M.s Sinne das, was er ausläßt, Zusätze der judaistischen Pseudoapostel sind, und das, was er hinzusetzt, von ihnen weggelassen ist ². Am Apostolos hat M. folgende tendenziöse Korrekturen nachweisbar vorgenommen:
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    ¹ Wäre M. bei seiner Textkritik stets konsequent verfahren, so ließen sich ex analogia unter den von Tert. übergegangenen Abschnitten und Versen nicht wenige bezeichnen, die gefehlt haben müssen. Allein diese Schlüsse sind unsicher, da M. nicht immer konsequent gewesen ist, wie nicht wenige Stellen beweisen, die ihm deutlich ungünstig sind und die er doch stehen gelassen hat. Vielleicht hatte er auch curae repetitae sich vorbehalten.
    ² Hat er selbst auch Zusätze gemacht? Kommen diese nicht vielleicht sämtlich auf Rechnung seiner Schüler?


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    D e r   G a l a t e r b r i e f.   In c. 1, 1 strich M. die (an sich nach Ἰησοῦ Χριστοῦ auffallenden) Worte „καὶ θεοῦ πατρός“ und erhielt dadurch im folgenden die Aussage, daß Jesus sich selbst vom Tode erweckt habe. Bei seiner dem Modalismus nahekommenden Auffassung des Verhältnisses von Vater und Sohn mußte ihm ebendies willkommen sein. Die Korrektur ist darin interessant, daß sie eine bestehende Textschwierigkeit zum Ausgangspunkt genommen hat.
    In c. 1, 7 fügte M. zu der Aussage, daß das Evangelium kein anderes neben sich habe, die Worte hinzu „κατὰ τὸ εὐαγγέλιόν μου“ (vgl. Röm. 2, 16). Es lag ihm daran, die Identität des Evangeliums mit dem Evangelium des Paulus im Eingang des Briefs zu markieren und damit sowohl das „judaistische“ Evangelium als auch eine Mehrzahl von evangelischen Schriften auszuschließen. Die Korrektur in demselben Verse „θέλοντες (ὑμᾶς) μεταστρέψαι εἰς ἕτερον εὐαγγέλιον τοῦ Χριστοῦ“ (für θέλοντες μεταστρέψαι τὸ εὐαγγέλιον τοῦ Χριστοῦ) liegt auf der Grenze einer tendenziösen Korrektur und einer Variante.
    C. 1, 18—24 waren wahrscheinlich gestrichen, weil M. diese Beziehungen des Apostels zu Petrus und den judenchristlichen Gemeinden nicht gelten lassen konnte; sie mußten von den „pseudapostoli et Iudaici evangelizatores“ (Tert. V, 9) eingefügt worden sein. 2, 1. 2 waren höchstens leicht verändert; doch fehlte aller Wahrscheinlichkeit nach „μετὰ Βαρνάβα“; M. wünschte die apostolische Souveränetät des Paulus von keiner Seite beeinträchtigt zu sehen.
    Die Einleitung zum Apostelkonzil fehlte entweder oder war umgestaltet (2, 6—9 a). In 9 b. 10 fehlte „κοινωνίας“, wodurch Art und Geist der Übereinkunft andere werden, und fehlte „καὶ Βαρνάβα“; durch die letztere Streichung bei beibehaltenem Plural „μνημονεύωμεν“ wird die dem Paulus gemachte Auflage zu einer Abmachung, die beide Teile bindet. So ist durch kleine Streichungen eine große Verschiebung des Sinns erreicht ¹.
    C. 3, 6—9. 14 a waren, wie ausdrücklich überliefert, gestrichen; denn nur die Judaisten konnten Abraham hier einge-
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    ¹ Nicht unwichtig ist die Vertauschung von ἀγαπήσαντος durch ἀγοράσαντος in Gal. 2, 20 und die Voranstellung des Petrus vor Jakobus (2, 9).


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führt haben; die Verse 10—12 lauteten bei M. mit Tilgung des durch γέγραπται eingeführten ATlichen Zitats und in Umstellung: Μάθετε ὅτι ὁ δίκαιος ἐκ πίστεως ζήσεται˙ ὅσοι γὰρ ὑπὸ νόμον, ὑπὸ κατάραν εἰσίν, ὁ δὲ ποιήσας αὐτὰ ζήσεται ἐν αὐτοῖς, doch ist der Text hier nicht ganz sicher. Vollständig getilgt war die große Ausführung 3, 15—25 über das Testament, Abraham, den Samen und das Gesetz; ebenso war in v. 29 ἄρα τοῦ Ἀβραὰμ σπέρμα ἐστέ ausgestoßen.
    In c. 4, 3 ist das aus 3, 15 hierher versetzte ἔτι κατὰ ἄνθρωπον λέγω undurchsichtig; in 4, 4 strich M. die Worte γενόμενον ἐκ γυναικός, γενόμενον ὑπὸ νόμον. Wie M. 4, 8. 9 gefaßt hat, ist nicht ganz deutlich; aber gewiß ist, daß er statt τοῖς μὴ φύσει οὖσι θεοῖς geschrieben hat: τοῖς ἐν τῇ φύσει οὖσι θεοῖς. Das ist eine seiner frappanten Korrekturen: ihm war es wichtig, die Heidengötter als Naturgötter bezeichnet zu sehen, während ihm ihre Bezeichnung als Nicht-Götter (um des Demiurgen und seiner Engel willen) unbequem war.
    C. 4, 21—26 bringt den großen Eingriff (samt einer Neugestaltung des Textes), der besondere Aufmerksamkeit erfordert; leider kennt man den Text hier nur zum Teil; aber sicher ist, daß M. hier den Abraham stehen gelassen hat. Die wichtigsten Veränderungen sind die Substituierung des Begriffs „ἐπιδείξεις“ für διαθῆκαι, die Streichung von Jerusalem, die Einfügung von Eph. 1, 21 und — wenn der Text wirklich so lautete, bezw. von M. selbst herrührt — der Zusatz: „ἐις ἣν ἐπηγγειλάμεθα ἁγίαν ἐκκλησίαν, ἥτις ἐστὶν μήτηρ ἡμῶν“ samt der Einführung der Judensynagoge. Daß Abraham hier von M. stehen gelassen worden ist, kann nicht auf einer Flüchtigkeit beruhen, da er augenscheinlich die Satzgruppe sorgfältig überlegt und durchgearbeitet hat. Also scheute er sich nicht, das AT unter Umständen auch positiv zu benutzen. Wenn er Eph. 1, 21 und das Gelöbnis zur Kirche als Mutter hier einschob, so läßt sich das, wenn überhaupt, nur so verstehen, daß er hier einen liturgischen Text von prinzipieller Bedeutung schaffen wollte. Besonders wichtig ist es, daß er nicht von zwei Testamenten reden wollte, sondern dafür „Schaustellungen“ („Aufstellungen“) setzte. Dieses Wort, im Zusammenhang mit „ἀλληγορούμενα“ verpflichtete gegenüber dem AT zu nichts und vermied auch den Anklang an „Weissagungen“; „An Abrahams Söhnen von der Sklavin und von der Freien kann


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man, wenn man sie allegorisiert, die beiden grundverschiedenen Veranstaltungen, die zur Synagoge und zur Kirche geführt haben, erkennen.“
    C. 4, 27—30 (das Jesajaszitat über die Unfruchtbare, Isaak und Ismael) müssen gestrichen worden sein.
    Wenn in c. 5, 14 (s. S. 153*) ἐν ὑμῖν die LA M.s ist („bei euch“, nicht bei den Juden), so ist hier eine solche in die kirchliche abendländische Überlieferung gedrungen (denn sie wird von zahlreichen abendländischen Zeugen bezeugt), und dies ist deshalb gewiß, weil die Streichung des gleich folgenden, „ἐν τῷ“ sicher tendenziös ist (die Worte ἀγαπήσεις τὸν πλησίον σου ὡς σεαυτόν sollten nicht als ATliches Zitat erscheinen); diese Streichung findet sich aber auch bei denselben abendländischen Zeugen!
    Wahrscheinlich ist in 6, 17 „τῶν ἄλλων“ eine tendenziöse Korrektur für „τοῦ λοιποῦ“; es sollten „die anderen“ als die judenchristlichen Feinde des Apostels verstanden werden.
    D e r   I.   K o r i n t h e r b r i e f.   Nur wenige tendenziöse Streichungen lassen sich hier   n a c h w e i s e n ¹:   In c. 3, 17 ersetzte M. φθερεῖ τοῦτον ὁ θέος durch „φθαρήσεται“, der gute Gott verdirbt niemanden. In 10, 11 schrieb er wahrscheinlich „ταῦτ’ ἀτύπως συνέβαινεν“ > ταῦτα πάντα τύποι συνέβαινον, der „Typus“ sollte ausgemerzt werden. In c. 10, 19 lag es ihm an der Präskribierung aller Opfer, während ihm das Nichtexistieren der Idola (vgl. Gal. 4, 8 f.) unbequem war; er schrieb also: „ἱερόθυτόν τι ἐστιν ἢ εἰδωλόθυτόν τι ἐστιν,“ für εἰδωλόν τί ἐστιν κτλ. In c. 15 sind vier tendenziöse Korrekturen nachweisbar: im Eingang des Kapitels strich er aus begreiflichen Gründen in v. 3 f. ὃ καὶ παρέλαβον und κατὰ τὰς γραφάς; in v. 20 verwandelte er ἐγήγερται in „κηρύσσεται ἀναστάναι“, weil er nicht gern von einer „Erweckung“ Christi hören wollte (s. Gal. 1, 1); in v. 38 haben spätere Marcioniten für σῶμα eingesetzt „πνεῦμα“ in dem Satze: ὁ δὲ θεὸς αὐτῷ δίδωσι σῶμα καθὼς ἠθέλησε. In v. 45 endlich schrieb M. „ὁ ἔσχατος, κύριος, εἰς πνεῦμα ζωοποιοῦν“ für ὁ ἔσχατος, Ἀδάμ, εἰς κτλ. Jesus sollte in keinem Sinn als „Adam“ bezeichnet
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    ¹ Der Zusatz in I Kor. 6, 13: ὡς ὁ ναὸς τῷ θεῷ καὶ ὁ θεὸς τῷ ναῷ, ist kein tendenziöser; seine Entstehung ist rätselhaft; dagegen ist der Zusatz καὶ σοφία nach δύναμις in 1, 18 wohl überlegt: δύναμις allein schien keine ausreichende Antithese zu μωρία zu sein.


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werden. Daß er die Erscheinungen des Auferstandenen am Anfang des Kap. nicht oder nicht ganz ausließ, ist wahrscheinlich.
    D e r   II.   K o r i n t h e r b r i e f.   In c. 1, 3 las M. „καὶ πατήρ“ nach ὁ θεός nicht; ob tendenziös? Sicher ist das Fehlen von τῷ θεῷ in 2, 15 absichtlich: für den guten Gott gibt es nicht wie für den Weltschöpfer eine εὐωδία, und eine schwerwiegende Korrektur ist in 3, 14 (ἐπωρώθη τὰ νοήματα αὐτῶν) „τοῦ κόσμου“ für αὐτῶν; denn da M. ὁ κόσμος = Weltschöpfer faßte, so läßt er Paulus sagen, daß sich die Gedanken dieses Gottes verhärtet hätten; auch am folgenden wird M. korrigiert haben. In 4, 10 ist die Korrektur „νέκρωσιν τοῦ θεοῦ“ für νεκρ. τοῦ Ἰησοῦ modalistisch-tendenziös. Ob in 4, 11 δίὰ Ἰησοῦν absichtlich getilgt, ist, ist fraglich. In 4, 13 ist der ATliche Spruch getilgt worden. Die späteren Marcioniten haben (5, 10) das „Tribunal“ Christi als unpassend beurteilt und ausgemerzt. Von einer Befleckung des Fleisches   u n d   G e i s t e s   (7, 1) wollte M. nichts wissen; er setzte „αἵματος“ für πνεύματος ¹.
    D e r   R ö m e r b r i e f.   In c. 1, 16 bot M. das „πρῶτον“ nach Ἰουδαίῳ nicht. Da dies augenscheinlich eine tendenziöse Streichung ist, das Wort aber auch in G g, ja sogar in B fehlt, so ist hier ein Einfluß des Marcionitischen Textes auf den katholischen anzunehmen. Ferner strich M. in 1, 17 die Worte καθὼς γέγραπται˙ ὁ δὲ δίκαιος ἐκ πίστεως ζήσεται ², und in 1, 18 „θεοῦ“ nach ὀργή, jenes als Schriftzitat, dieses weil der gute Gott nicht zürnt. Er merzte sodann 1, 19—2, 1 gänzlich aus, weil ihm dies Stück natürlicher Religion ebenso zuwider sein mußte, wie der Gedanke, daß die Menschen von Gott den schwärzesten Lastern zur Strafe preisgegeben werden. Ebenso strich er 3, 31—4, 25 völlig; denn der Gedanke: νόμον ἱστῶμεν war ihm ebenso unerträglich wie die Abrahams-Theologie. In 6, 9 vertauschte er ἐγερθείς mit „ἀναστάς“ (s. o.), und in 6, 19 schrieb er „παραστήσατε τ. μέλη τῷ θεῷ δουλεύειν ἐν τῇ δικαιοσύνῃ“
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    ¹ Hier könnte jemand folgern, M. habe, wie die Gnostiker, den menschlichen Geist für unbeflecklich gehalten; allein er ersetzte hier wahrscheinlich deshalb den „Geist“ durch das Blut; weil er an den empfangenen Gottesgeist dachte, der nicht befleckt werden kann.
    ² In Gal. 3, l l hat M. die Worte stehen gelassen, daß der Gerechte seines Glaubens leben wird.


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für παρασ. τ. μέλ. δοῦλα τῇ δικαιοσύνῃ), weil man sich Gott allein zu Dienst stellen soll. Verwandt ist die Streichung in 10, 3, wo M. für ἀλνοοῦντες τὴν τοῦ θεοῦ δικαιοσύνην vielmehr „θεὸν ἀλνοοῦντες“ schrieb. In 7, 5 ist „ἐν ἡμῖν“ > ἐν τοῖς μέλεσιν ἡμῶν wahrscheinlich eine tendenziöse Korrektur: die Sünde war nach M. unter dem Weltschöpfer nicht nur in den Gliedern wirksam, sondern im ganzen Menschen. C. 8, 19—22 („das ängstliche Harren der Kreatur“) mußte dem M. unverständlich, bzw. anstößig sein; er hat es ausgemerzt, ebenso den ganzen Abschnitt 9, 1—33 seiner Judenfreundlichkeit und der ATlichen Beziehungen wegen, endlich auch den großen Abschnitt 10, 5—11, 32, der ihm als ganz unerträglich für den guten Gott erscheinen mußte. In 11, 33 strich er καὶ γνώσεως nach σοφίας θεοῦ (welche Tendenz er dabei hatte, ist dunkel) sowie die ἀνεξερεύνητα κρίματα, denn der gute Gott richtet nicht. Aus demselben Grunde ist in 12, 19 ἀλλὰ δότε τόπον τῇ ὀργῇ entfernt und auch γέγραπται. Die Verse 18 und 19 sind bei M. umgestellt. — Das Fehlen der cc. 15 und 16 ist nicht M. zur Last zu legen, sondern schon der Vorlage, die er benutzte (s. S. 164* f.). Spätere Marcioniten haben 16, 25—27 hinzugefügt; die Fassung dieser Verse, die wir heute in unseren Bibeln lesen, ist eine Korrektur der Marcionitischen (a. a. O.). Hier hat also wiederum der Marcionitische Text auf den katholischen Einfluß geübt.
    D e r   I.   T h e s s a l o n i c h e r b r i e f.   Eine tendenziöse Einschaltung (ἰδίους) in 2, 15 bei προφήτας. In 4, 4 ist ἐν ἁγιασμῷ neben τιμῇ getilgt; in bezug auf das Verhalten zum Weibe schien dem M. jenes wohl als ein zu hoch gegriffener Ausdruck. In 4, 16 ist absichtlich θεοῦ aus der Verbindung mit σάλλπιγγι (ἐσχάτῃ ist hinzugesetzt) gelöst und zu κελεύσματι gestellt, ebenso ist absichtlich ἐν Χριστῷ nach οἱ νεκροί getilgt; M. wollte hier die allgemeine Auferweckung erblicken. Daß es in demselben Vers von den Toten heißt: ἐγερθήσονται (> ἀναστήσονται) ist vielleicht eine absichtliche Korrektur M.s, obschon auch einige andere Zeugen sie bieten. Auch die Streichung des ὁλόκληρον vor Geist, Seele und Leib (5, 23) läßt sich aus M.s Lehre unschwer erklären. In demselben Vers ist „καὶ σωτῆρσς“ zu κυρίου hinzugesetzt; M. legte also auf diese Bezeichnung besonderes Gewicht; oder war sie ihm hier überliefert?


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    D e r   II.   T h e s s a l o n i c h e r b r i e f.   In 1, 8 ist die Auslassung der Feuerflamme ebenso tendenziös wie die Vertauschung der Worte διδόντος ἐκδίκησιν durch „ἐρχομένου εἰς ἐκδίκησιν“. Der gute Gott übt nicht selbst das Gericht, sondern ist nur beim Gericht zugegen. Daher schreibt M. auch 2, 11 nicht πέμπει αὐτοῖς ὁ θεὸς ἐνέργειαν πλάνης, sondern „ἔσται αὐτοῖς εἰς ἐνέργ. πλάν.“. Auch εἰς τὸ πιστεῦσαι αὐτοὺς τῷ ψεύδει wollte er nicht stehen lassen, wie er ja auch Röm. 1 die Preisgabe der Menschen an die Sünden getilgt hat.
    D e r   L a o d i z e n e r b r i e f   (E p h e s e r b r i e f).   Ob M. 1, 21 hier bestehen ließ, da er den Vers schon Gal. 4, 24 angeführt hatte? In 2, 2 ist das Fehlen von τοῦ πνεύματος wohl als absichtliches zu beurteilen; in 2, 11 scheinen spätere Marcioniten ἐν σαρκί gestrichen zu haben. In 2, 14. 15 ist die Streichung von αὑτοῦ nach ἐν σαρκί tendenziös und ebenso die von ἐν vor δόγμασιν: nicht an   s e i n e m   Fleisch hat Christus die Feindschaft aufgehoben und nicht in Dogmen bestanden die Gebote, sondern durch die (neuen) Dogmen hat Gott das Gesetz der Gebote beseitigt; M. hat also die δόγματα gegen die ἐντολαί gestellt und sah in jenen die christlichen Glaubenssätze. In 2, 20 strich M. tendenziös καὶ προφητῶν nach ἀποστόλων, weil jene nicht die Grundlage des neuen christlichen Baus bilden dürfen. In 3, 9 ist M.s berüchtigste Streichung enthalten: er merzte das ἐν vor τῷ θεῷ τῷ τὰ πάντα κτίσαντι aus und erhielt so einen locus classicus für seine Lehre, daß die Heilsökonomie des guten Gottes dem Weltschöpfer von Urzeiten her verborgen gewesen sei. Über die tendenziöse Einschaltung von ἡμῖν in 4, 6 s. S. 154*. In 5, 22 ff. nahm M. Verkürzungen vor; dieser Abschnitt über die Ehe war ihm überhaupt unbequem; in v. 22 fehlte wahrscheinlich ἰδίοις, bei ἀνδράσιν, ferner ὡς τῷ κυρίῳ und αὐτὸν σωτὴρ τοῦ σώματος; den Satz in v. 28 faßte er so: „Der liebt sein Fleisch, der sein Weib so liebt, wie auch Christus die Kirche“ (d. h. ungeschlechtlich). Den ihm für Christus ganz unpassend scheinenden Vers 30 strich: er, schrieb statt ἀντὶ τούτου vielmehr „ἀντὶ ταύτης“, es auf die Kirche beziehend, und tilgte die Worte καὶ προσκολληθήσεται πρὸς τὴν γυναῖκα αὐτοῦ: „Statt der Kirche wird ein Mensch Vater und Mutter verlassen, und es werden die beiden (d. i. der Mensch und die Kirche) zu einem Fleisch“. Da auch katholische Mss. die Worte καὶ προσκολλ. κτλ. nicht


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bieten, so ist auch hier Einfluß des Textes M.s auf den katholischen anzunehmen (s. S. 154*). In c. 6, 2 strich M. tendenziös bei dem Gebot, die Eltern zu ehren, die Worte: ἥτις ἐστὶν ἐντολὴ πρώτη ἐν ἐπαγγελίᾳ, sowie den folgenden Vers („damit es dir wohlgehe“ usw.). Tendenziös ist auch die Streichung (v. 2) von σου bei πατέρα und ὑμῶν (v. 4) bei τέκνα; die Marcioniten sollten ja selbst nicht Väter sein; also mußte das Gebot in ein allgemeines umgewandelt werden, das von den Beziehungen der Väter als der älteren Generation zu den Kindern als der jüngeren handelte.
    D e r   K o l o s s e r b r i e f.   Die große Aussage über den präexistenten Christus (1, 15—17) ist von M. in den kurzen Satz zusammengefaßt worden: „ὅς ἐστιν εἰκὼν τοῦ θεοῦ τοῦ ἀοράτου, καὶ αὐτός ἐστιν πρὸ πάντων“, denn zur Schöpfung durfte Christus keine Beziehungen haben. In 1, 19 ist ἑαυτῷ > αὐτῷ tendenziös und aus dem relativen Modalismus M.s zu verstehen; ebenso 1, 20 ἑαυτόν > αὐτόν. In 1, 22 hat M. τῆς σαρκός nach τῷ σώματι (= Kirche) gestrichen; denn Christus hat kein Fleisch. Eine ingeniöse Vertauschung liegt in 2, 8 vor: in dem Satze διὰ τῆς φιλοσοφίας καὶ κενῆς ἀπάτης verwandelt M. das καὶ in „ὡς“. Wir erkennen hier, wie abschätzig er alle Philosophie beurteilt hat; den Ausdruck, den Paulus gewählt, hielt er für verfälscht, weil zu schwach. In 4, 14 strich er wahrscheinlich die Worte, die bei „Lukas“ stehen: ὁ ἰατρὸς ὁ ἀγαπητός; er wünschte kein Lob des Lukas, dem er ja das Evangelium entrissen hatte.
    D e r   P h i l i p p e r b r i e f.   In 1, 15 veränderte M. die Worte τινὲς δὲ καὶ δι’ εὐδοκίαν zu „τ. δ. κ. διὰ λόγου δόξαν (oder λόγου εὐδοκίαν)“ und wollte damit die eitle christliche Schulweisheit treffen. In 1, 16 setzte M. frei die Worte ein: „ἤδη καί τινες ἐξ ἀγῶνος“; es war ihm vermutlich ἐξ ἐριθείας noch nicht genug, und er wollte wohl ausdrücklich die kirchlichen Rivalitätskämpfe präskribiert sehen. In der berühmten Stelle 2, 7 ließ er γενόμενος und ὡς aus und erreichte so das christologische Bild, das er wünschte. In 3, 9 schrieb er wahrscheinlich: ἔχων δικαιοσύνην μὴ ἐμὴν ἤδη τὴν ἐκ νόμου, ἀλλὰ τὴν δι’ αὐτοῦ ἐκ θεοῦ (oder τὴν δι’ αὐτοῦ, τὴν ἐκ θεοῦ δικαιοσύνην); er brachte so den Gegensatz zum Gesetz noch kräftiger zum Ausdruck.


52 Der Kritiker und Restaurator. Die Bibel Marcions.

    Am Evangelium hat M. folgende Streichungen und Korrekturen vorgenommen ¹:
    K a p.   1—4. Nach Streichung von 1, 1—4, 15 vertauschte M. — wohl um Jesus von Nazareth möglichst zu trennen — die Stellung der Perikope vom Auftreten Jesu in Nazareth (s. die Apparate zu 4, 16 ff. in Beilage IV) mit der von der Heilung des Dämonischen in Kapernaum (4, 31 ff.), nachdem er jene Perikope verändert und verkürzt hatte (Weglassung der Predigt ²; spätere Marcioniten setzten Bethsaida für Nazareth ein, um jeden Zusammenhang Jesu mit dieser Stadt abzuschneiden; in 4, 34 hatte M. selbst Ναζαρηνέ gestrichen). Sicher fehlte hier 4, 27 (s. zu 17, 17 f). Unter den großen Streichungen, denen auch die Taufe Jesu zum Opfer fallen mußte, fällt die der Versuchungsgeschichte besonders auf; allein diese Geschichte war dem M. sicher zu „menschlich“; sein Christus war über solche Anläufe erhaben.
    Bei der Feststellung der tendenziösen Streichungen M.s im Evangelium waltet die Schwierigkeit ob, daß Tert. fast niemals angibt, ob er die betreffenden Perikopen nicht vorgefunden oder ob er sie in seiner Kritik übergangen hat. Stellt man aber diese Stücke zusammen, vergleicht sie mit dem sicher von M. Gestrichenen und beachtet die Übergänge bei Tert. (auch Epiph.) genau, so ergibt sich in vielen Fällen eine Wahrscheinlichkeit für die Streichung, bei einigen eine sehr hohe, auch wenn man berücksichtigt, daß M. nicht überall konsequent verfahren ist. Ich stelle diese Perikopen zusammen, ganz Unbedeutendes beiseite lassend:
    4, 36—39 (Allgemeines, Heilung der Schwiegermutter des Petrus) schwerlich gestrichen.
—————
    ¹ Wenn Tert. IV, 43 (zu Luk. 24, 38 f.) bemerkt: „Marcion quaedam contraria sibi illa, credo, industria eradere de evangelio suo noluit, ut ex his, quae eradere potuit nec erasit illa, quae erasit, aut negetur erasisse aut merito erasisse dicatur; nec parcit nisi eis, quae non minus aliter interpretando quam delendo subvertit“ — so ist das, wie schon „credo“ zeigt, eine Unterstellung. Richtig, wenn auch hämisch, ist dagegen die Bemerkung V, 4 (zu Gal. 4, 22 ff.): „Ut furibus solet aliquid excidere de praeda in indicium, ita credo et Marcion novissimam Abrahae mentionem dereliquisse“.
    ² C. 4, 16 hat M. τεθραμμένος und αὐτῷ gestrichen, mit ἐλθὼν δέ begonnen und so dem Satz, noch andere Streichungen vornehmend, einen anderen Sinn gegeben.


53 Der Kritiker und Restaurator. Die Bibel Marcions.

    4, 41 fin. („Sie wußten, daß er der Christus war“) ungewiß, ob gestrichen.
    4, 44 (Predigt in den Synagogen) ungewiß, ob gestrichen.
    5, 27 Die Worte καὶ ἀσκοὶ ἀπολοῦται fehlten wahrscheinlich.
    5, 39 („D e r   a l t e   W e i n   i s t   t r e f f l i c h e r“)   s i c h e r   g e s t r i c h e n.
    6, 17 Streichung von Judäa und Jerusalem sehr wahrscheinlich.
    6, 19 b („Eine Kraft war von ihm ausgegangen“) unsicher.
    6, 23 a (D a s   F r e u e n   u n d   H ü p f e n    a m   G e r i c h t s t a g e)   w a h r s c h e i n l i c h   g e s t r i c h e n.
    6, 30 b (Fordre nichts vom Räuber zurück) schwerlich gestrichen.
    6, 32. 33 (Unwert der Liebeserweise gegenüber denen, die uns lieben) schwerlich gestrichen.
    6, 34 b (Die Sünder und das Zinsnehmen) schwerlich gestrichen.
    6, 47—49 (Das Haus mit und ohne Grundlage) schwerlich gestrichen.
    7, 29—35 (D i e   s p i e l e n d e n   K i n d e r,   d a s   V e r h a l t e n   d e s   V o l k s   z u m   T ä u f e r   u n d   z u   J e s u s)   w a h r s c h e i n l i c h   g e s t r i c h e n.
    8, 19 (S e i n e   M u t t e r   u n d   B r ü d e r   k o m m e n)   g e s t r i c h e n.
    8, 28 (τοῦ ὑψίστου neben τοῦ θεοῦ) wahrscheinlich gestrichen.
    8, 32—37 (Die Geschichte von den Säuen innerhalb der Dämonengeschichte) ungewiß.
    8, 40—42 a. 49—56 (Jairusgeschichte) ungewiß, ob gestrichen.
    9, 23 (Kreuz auf sich nehmen) unsicher.
    9, 25 (Schaden an der Seele nehmen) ungewiß.
    9, 26 b. 27 (K o m m e n   d e s   M e n s c h e n s o h n e s   i n   H e r r l i c h k e i t   m i t   G e f o l g e.   „E s   s t e h e n   e t l i c h e   h i e r“   u s w.)   w a h r s c h e i n l i c h   g e s t r i c h e n.
    9, 31 (W e i s s a g u n g   d e s   M o s e s   u n d   E l i a s)   w a h r s c h e i n l i c h   g e s t r i c h e n.
    9, 36 (Schluß der Verklärungsgeschichte) ungewiß.
    9, 49. 50 (Jener, der in Jesu Namen Teufel austrieb) ungewiß.
    10, 12—15 W e h e   ü b e r   d i e   S t ä d t e   w a h r s c h e i n l i c h   g e s t r i c h e n.


54 Der Kritiker und Restaurator. Die Bibel Marcions.

    10, 21 h a t   M.   π ά τ ε ρ   u n d   κ α ὶ   τ ῆ ς γ ῆ ς   i m   G e b e t   J e s u   g e s t r i c h e n.   D i e   Ü b e r e i n s t i m m u n g   d e r   B e r i c h t e   T e r t .s   u n d   E p i p h.   i s t   h i e r   b e s o n d e r s   d e u t l i c h   u n d   w i c h t i g.
    10, 24 ἠ θ έ λ η σ α ν   ἰ δ ε ῖ ν   (v o n   d e n   P r o p h e t e n)   s i c h e r   g e s t r i c h e n,   d a f ü r   ο ὐ κ   ἴ δ α ν.
    10, 25 „E w i g“   n e b e n   „L e b e n“,   s i c h e r   g e s t r i c h e n.
    10, 27 (καὶ τὸν πλησίον σου ὡς σεαυτόν) ungewiß; die Verse 26. 28 w a r e n   g e t i l g t;   s.   u n t e n.
    10, 29—37 (Der barmherzige Samariter) ungewiß.
    10, 38—42 (Maria und Martha) ungewiß; aber man darf wohl vermuten, daß Tert. diese und die vorige Geschichte übergangen hat, weil er der Marcionitischen Auslegung nichts entgegenzusetzen wußte.
    11, 4 Daß M. die zweite Hälfte der 5. Bitte gelesen hat, ist nicht bezeugt.
    11, 23 (Wer nicht mit mir, ist wider mich) ungewiß.
    11, 24—26 (Fortsetzung der Beelzebulgeschichte) ungewiß.
    11, 29 (J o n a s)   u n d   30—32   (J o n a s,   d i e   K ö n i g i n   u n d   S a l o m o)   g e s t r i c h e n.
    11, 34—36 (Auge und Licht) ungewiß.
    11, 42 f i n.   („D i e s e s   s o l l   m a n   t u n   u n d   j e n e s   n i c h t   l a s s e n“)   g e s t r i c h e n.
    11, 44. 45 (Die Pharisäer μνημεῖα ἄδηλα die Frage des Gesetzeslehrers) ungewiß.
    11, 49—51 (D e r   S p r u c h   d e r   W e i s h e i t   G o t t e s;   d a s   u n g e r e c h t e   B l u t   v o n   A b e l   b i s   Z a c h a r i a s)   s i c h e r   g e s t r i c h e n.
    11, 53. 54 (Die Absichten der Pharisäer gegen Jesus) ungewiß.
    12, 4 Die Streichungen von ὑμῖν bezw. von μου sollen die Bezeichnung der Jünger Jesu als   F r e u n d e   Jesu tilgen.
    12, 6. 7 (G o t t e s   F ü r s o r g e   f.   S p e r l i n g e;   d e r   h ö h e r e   W e r t   d e r   M e n s c h e n)   s i c h e r   g e s t r i c h e n.
    12, 8. 9 S t a t t   „v o r   d e n   E n g e l n   G o t t e s“   s c h r i e b   M.   „v o r   G o t t“.
    12, 24 D i e   W o r t e   κ α ὶ   ὁ   θ ε ὸ ς   τ ρ έ φ ε ι   α ὐ τ ο ύ ς   f e h l t e n   w a h r s c h e i n l i c h.
    12, 25. 26 (Eine Elle seiner Länge zusetzen) ungewiß.


55 Der Kritiker und Restaurator. Die Bibel Marcions.

    12, 28 (B e k l e i d u n g   d e s   G e t r e i d e s)   g e s t r i c h e n,   a b e r   ὁ λ ι γ ό π ι σ τ ο ι   b e i b e h a l t e n.
    12, 32 N a c h   ὁ   π α τ ή ρ   w a r   ὑ μ ῶ ν   g e s t r i c h e n.
    12, 33. 34 (Vermögensentäußerung, Almosengeben, Schatz im Himmel) ungewiß.
    12, 49 b. 50 („Ich wollte, das Feuer brennte schon“; „ich habe eine Taufe usw.“) ungewiß.
    12, 52 (Fünf in einem Hause) ungewiß.
    13, 1—5 (D i e   g e m o r d e t e n   G a l i l ä e r.   T u r m   v o n   S i l o a m)   s i c h e r   g e s t r i c h e n.
    13, 6—9 (F e i g e n b a u m - G l e i c h n i s)   s i c h e r   g e s t r i c h e n.
    13, 22—24 (D i e   e n g e   P f o r t e)   u n g e w i ß.
    13, 29—35 (D i e   M a h l z e i t   i m   H i m m e l r e i c h e,   B o t s c h a f t   a n   H e r o d e s;   d e r   S p r u c h   ü b e r   J e r u s a l e m,   d a s   d i e   P r o p h e t e n   t ö t e t)   s i c h e r   g e s t r i c h e n.
    14, 1—6 (Heilung des Wassersüchtigen am Sabbat) ungewiß.
    14, 7—11 (Zurechtweisung der Ehrgeizigen: nicht obenan sich setzen) ungewiß.
    14, 15 (Selig, wer das Brot ißt im Reiche Gottes) ungewiß.
    14. 25—35 (Vater und Mutter hassen; Kreuz tragen; der leichtsinnig unternommene Bau und Krieg; allem absagen; das dummgewordene Salz) ungewiß.
    15, 10 (τ ῶ ν   ἀ γ γ έ λ ω ν   f e h l t   v o r   τ ο ῦ   θ ε ο ῦ)   s i c h e r   g e s t r i c h e n.
    15, 11—32 (D e r   v e r l o r e n e   S o h n)   s i c h e r   g e s t r i c h e n.
    16. 9 b (Aufnehmen in die ewigen Hütten) ungewiß.
    16, 10 (Treue im Großen und Kleinen) ungewiß.
    16, 15 b (Was vor den Menschen hoch ist, ist vor Gott ein Greuel) ungewiß.
    16, 29. 30 (f e h l t   A b r a h a m)   a b s i c h t l i c h   g e s t r i c h e n.   Nach M. ist 27—31 Gott selbst der Angeredete und Sprechende.
    17, 5. 6 (Glaube wie ein Senfkorn) ungewiß.
    17, 7—10 (der unnütze Knecht) ungewiß;   s i c h e r   f e h l t e   ἀ χ ρ ε ῖ ο ι.


56 Der Kritiker und Restaurator. Die Bibel Marcions.

    17, 11—19 (Die 10 Aussätzigen); in diese Perikope war 4, 27 eingesetzt (s. o.; warum dies geschehen, ist dunkel) und einiges fehlte; es ist aber unsicher, was fehlte, jedenfalls   ἐ ν   τ ῷ   Ἰ σ ρ α ή λ   (in 4, 27).
    17, 23. 24 (Das Erscheinen des Menschensohnes wie der Blitz) ungewiß.
    17, 33—37 (Die Seele suchen und verlieren; zwei werden in einem Bette sein, usw.) ungewiß.
    18, 23—30 (Gespräch über den Reichtum und Verheißung an die Jünger, die alles verlassen haben) ungewiß;   a b e r   v.   29. 30   w a r e n   s i c h e r   g e s t r i c h e n.
    18, 31—33 (L e i d e n s a n k ü n d i g u n g)   s i c h e r   g e s t r i c h e n.
    18, 34 (U n v e r s t ä n d n i s   d e r   J ü n g e r)   w a h r s c h e i n l i c h   g e s t r i c h e n.
    18, 37 (ὁ   Ν α ζ ω ρ α ῖ ο ς)   s i c h e r   g e s t r i c h e n.
    19, 9 b (Z a k c h ä u s)   e i n   S o h n   A b r a h a m s:   s i c h e r   g e s t r i c h e n.
    19, 10 Ob ζητῆσαι καί vor σῶσαι absichtlich fehlt?
    19, 27 (A b s c h l a c h t u n g   d e r   F e i n d e)   s i c h e r   g e s t r i c h e n.
    19, 28 (Reise nach Jerusalem) ungewiß.
    19, 29—46 (E i n z u g   i n   J e r u s a l e m,   T e m p e l r e i n i g u n g)   s i c h e r   g e s t r i c h e n.
    19, 47. 48. (Jesus lehrt im Tempel; die Schriftgelehrten trachten nach seinem Leben) ungewiß.
    20, 9—18 (D i e   s c h l i m m e n   W e i n g ä r t n e r)   s i c h e r   g e s t r i c h e n.
    20, 37. 38 (M o s e s   n e n n t   G o t t   d e n   G o t t   d e r   E r z v ä t e r;   G o t t   e i n   G o t t   d e r   L e b e n d i g e n)   s i c h e r   g e s t r i c h e n.
    20, 40 (Sie wagten ihn nichts mehr zu fragen) ungewiß.
    20, 45—47 (Warnung vor den eitlen und ehrgeizigen Pharisäern, die der Witwen Häuser verschlingen) ungewiß.
    21, 1—4 (Der Witwe Scherflein) ungewiß.
    21, 18 (K e i n   H a a r   v o n   e u r e m   H a u p t e   w i r d   v e r l o r e n   g e h e n)   s i c h e r   g e s t r i c h e n.
    21, 21—24 (D i e   A u f f o r d e r u n g   a n   d i e   J u d e n   z u   f l i e h e n;   W e h e   d e n   S c h w a n g e r e n;   J e r u s a l e m s   V e r n i c h t u n g)   s i c h e r   g e s t r i c h e n.


57 Der Kritiker und Restaurator. Die Bibel Marcions.

    21, 35 b. 36 (Der Gerichtstag kommt über alle; wachet, damit ihr dem Schrecken entgehen könnt) ungewiß.
    22, 2 (Die Schriftgelehrten suchen Jesum zu töten, fürchten sich vor dem Volk) ungewiß.
    22, 3 (Der Satan fuhr in Judas) ungewiß.
    22, 6. 7 (Judas sucht Gelegenheit zum Verrat; es kam der Passahtag) ungewiß.
    22, 9—13 (Die Ausführung des Befehls, das Passahzimmer zu bereiten) ungewiß.
    22, 14 D i e   W o r t e   ὅ τ ε   ἐ γ έ ν ε τ ο   ἡ   ὥ ρ α   s c h e i n e n   g e f e h l t   z u   h a b e n.
    22, 15 τοῦτο vor τὸ πάσχα vielleicht absichtlich gestrichen.
    22, 16 („I c h   w e r d e   n i c h t   m e h r   e s s e n,   b i s   d a ß   e s   v o l l e n d e t   i s t   i m   R e i c h e   G o t t e s“)   s i c h e r   g e s t r i c h e n.
    22, 17. 18 (S e g n u n g   u n d   D a r r e i c h u n g   d e s   K e l c h e s)   s i c h e r   g e s t r i c h e n,   a b e r   e s   f e h l t e   w o h l   s c h o n   i n   d e r   V o r l a g e.
    22, 19 b („Dies tut zu meinem Gedächtnis“) ungewiß.
    22, 20 κ α ι ν ή   n e b e n   δ ι α θ ή κ η   g e s t r i c h e n.
    22, 23—30 (Frage, wer der Verräter sei, und Rangstreit der Jünger; Jesu Rede über die wahre Größe; Verheißung für die Jünger als zukünftige Richter) ungewiß,   a b e r   v.   30 k o n n t e   M.   n i c h t   s t e h e n   l a s s e n.
    22, 35—38 (O b   d i e   J ü n g e r   j e   M a n g e l   g e l i t t e n   h ä t t e n?   D i e   S c h w e r t e r)   s i c h e r   g e s t r i c h e n.
    22, 39. 40 (Gang zum Ölberg) unbezeugt, aber ganz können sie nicht gefehlt haben.
    22, 42—46 (D a s   G e b e t s r i n g e n   i n   G e t h s e m a n e;   d i e   s c h l a f e n d e n   J ü n g e r)   w a h r s c h e i n l i c h   g e s t r i c h e n.
    22. 48 („Verrätst du den Menschensohn durch einen Kuß?“) ungewiß.
    22, 49—51 (D i e   G e s c h i c h t e   v o m   a b g e h a u e n e n   O h r)   s i c h e r   g e s t r i c h e n.
    22, 52—62 (Rede an die Häscher, Verleugnung des Petrus) unbezeugt; aber v. 31—34 fordert, daß Petri Verleugnung erzählt war.
    22, 65. 68. 71 wohl zufällig unbezeugt.


58 Der Kritiker und Restaurator. Die Bibel Marcions.

    22, 70 Die Worte ὅτι ἐγώ εἰμι hat M. wahrscheinlich gestrichen.
    23, 4. 5 (Pilatus findet keine Schuld; die Gegner bezeichnen Jesum als Aufwiegler) ungewiß.
    23, 13—17 (Verhandlungen des Pilatus mit den Hohenpriestern usw.) ungewiß.
    23, 26 (Simeon von Kyrene) ungewiß.
    23, 27—31 (Die wehklagenden Frauen von Jerusalem; das grüne Holz) ungewiß.
    23, 34 b (V e r t e i l e n   d e r   K l e i d e r)   g e s t r i c h e n,   aber Epiph. las es wieder in seinem Marcion-Evang.
    23, 35 (Verspottung) ungewiß.
    23, 36—42 (Der Galletrank; rette dich selbst! Die Kreuzesinschrift; die Schächer) ungewiß;   d i e   S c h ä c h e r   w a h r s c h e i n l i c h   g e s t r i c h e n.
    23, 43 („H e u t e   w i r s t   d u   i m   P a r a d i e s e   s e i n“)   s i c h e r   g e s t r i c h e n.
    23, 46 Vielleicht haben spätere Marcioniten das Wort: „Vater in deine Hände“ usw., getilgt.
    23, 47—49 (Der Hauptmann, das Volk, die Bekannten und die Frauen beim Tode) ungewiß.
    23, 54 (Daß der Sabbat bevorstand) ungewiß.
    24, 2 (Der Stein abgewälzt) ungewiß.
    24, 8 („Sie erinnerten sich seiner Worte“) ungewiß.
    24, 21 b—24 (Bericht der Emmauten über das, was am Ostermorgen geschehen) ungewiß, vielleicht getilgt.
    24, 27 (J e s u s   r e k a p i t u l i e r t   d i e   W e i s s a g u n g)   s i c h e r   g e s t r i c h e n.
    24, 28. 29 (Sie kommen ins Dorf Emmaus; Jesus soll bleiben) unbezeugt.
    24, 32—36 (Rede der beiden Jünger; Rückkehr nach Jerusalem; Berichterstattung; der Herr dem Petrus erschienen; Jesu Eintritt in den Kreis) ungewiß.
    24, 39 ψ η λ α φ ή σ α τ έ   μ ε   κ α ὶ   ἴ δ ε τ ε   s i c h e r   g e s t r i c h e n.
    24, 39 σ ά ρ κ α ς   κ α ί   f e h l t e,   w a s   s e h r   m e r k w ü r d i g   i s t.
    24, 40 (E r   z e i g t e   i h n e n   s e i n e   H ä n d e   u n d   F ü ß e)   s i c h e r   g e s t r i c h e n.


59 Der Kritiker und Restaurator. Die Bibel Marcions.

    24, 44—46 (J e s u s   ö f f n e t   d e n   J ü n g e r n   d i e   S c h r i f t)   s i c h e r   g e s t r i c h e n.
    24, 47 (ἀρξάμενον ἀπὸ Ἱερουσαλήμ) wohl gestrichen.
    24, 48—53 (A u s s e n d u n g   d e r   J ü n g e r;   B e t h a n i e n)   s i c h e r   g e s t r i c h e n.
    Außer den Streichungen, die bei weitem den größten Teil seiner Korrekturen ausgemacht haben, finden sich noch folgende Korrekturen:
    5, 18 ff. Hier war vielleicht bemerkt, daß die Heilung des Gichtbrüchigen an einem Sabbat stattfand.
    6, 43 Der schlechte Baum vor den guten gestellt.
    7, 28 Hier hat M. den Text in seinem Sinne verdeutlicht, indem er μείζων πάντων τῶν γεννητῶν γυναικῶν προφήτης Ἰωάννης ἐστιν schrieb.
    8, 20 f. („Mutter und Brüder“) umgestaltet zu einer schroffen, ablehnenden Frage Jesu; an Stelle vom „Gotteswort“ sind „meine Worte“ eingesetzt.
    9, 26 a lautete: ὃς ἂν ἐπαισχυνθῇ με, κἀγὼ ἐπαισχυνθήσομαι αὐτόν.
    9, 30 συνέστησαν αὐτῷ für συνελάλουν (Moses und Elias sollten nicht mit Jesus sprechen); spätere Marcioniten lasen wieder συνελάλουν.
    9, 41 Zugesetzt πρὸς αὐτούς, um die Jünger als die γενεὰ ἄπιστος erscheinen zu lassen.
    9, 54 f. M. schaltete hier die Zusätze ein: ὡς καὶ Ἠλίας ἐποίησεν und καὶ εἶπεν˙ οὐκ οἴδατε οἵου πνεύματός ἐστε ὑμεῖς.
    10, 21 M. schrieb tendenziös für ὅτι ἀπέκρυψας ταῦτα vielmehr ἅτινα ἦν κρυπτά.
    10, 25 ff. Diese Geschichte war tendenziös so erzählt, daß nicht der Gesetzeslehrer, sondern Jesus den (nicht als ATliches Wort bezeichneten) Spruch von der Gottesliebe gesprochen hat; dadurch war eine beträchtliche Kürzung nötig (s. o.); die Marcioniten des Epiphanius lasen wieder den echten Text.
    11, 3 M. änderte die 4. Bitte und schrieb τὸν ἄρτον σου (daß er als erste Bitte eine Bitte um den h. Geist brachte, ist nicht Korrektur, sondern ursprünglicher Lukastext).
    11, 4 M. schrieb μὴ ἄφες ἡμᾶς εἰσενεχθῆναι εἰς πειρασμόν für μὴ εἰσενέγκῃς.
    11, 42 Tendenziös τὴν κλῆσιν für τὴν κρίσιν. Die Überein-


60 Der Kritiker und Restaurator. Die Bibel Marcions.

stimmung der Berichte Tert.s und Epiph. ist besonders bemerkenswert.
    12, 4 M. schrieb: μὴ φοβηθῆτε ἀπὸ τῶν ὑμᾶς μόνον ἀποκτέννειν δυναμένων καὶ μετὰ ταῦτα μηδεμίαν εἰς ὑμᾶς ἐχόντων ἐξουσίαν.
    12, 8. 9 Stilistische Änderung (außer der Streichung der Engel, s, o.).
    12, 46 Hier ist wahrscheinlich διχοτομήσει getilgt und ἀποχωρίσει oder ein ähnliches Wort eingesetzt.
    12, 46 Statt θήσει setzte M. τεθήσεται, um Gott nicht als Richter erscheinen zu lassen.
    13, 28 Hier waren die Erzväter getilgt und dafür οἱ δίκαιοι eingesetzt, ferner war ἐκβαλλομένους durch κρατουμένους ersetzt (so Tert. und Epiph.).
    14, 21 Für ὀργιαθείς tendenziös „motus“ (κινηθείς?).
    16, 12 Für τὸ ὑμέτερον tendenziös τὸ ἐμόν (so auch einige Itala-Codd. und Minuskel 157).
    16, 17 Für τοῦ νόμου tendenziös τῶν λόγων μου.
    16, 26 Für οἱ θέλοντες διαβῆναι steht οἱ ἐνταῦθα διαβῆναι (ob tendenziös?).
    16, 28. 29 ἐκεῖ hinzugesetzt (verdeutlichend?).
    18, 19 ὁ πατήρ war nach Origenes und Epiph. (nicht nach Tert.) hinzugesetzt zu ὁ θεός.
    18, 20 M. schrieb wahrscheinlich ὁ δὲ ἔφη˙ τὰς ἐντολὰς οἶδα für τὰς ἐντολὰς οἶδας, um die ATlichen Gebote nicht aus dem Munde Jesu hören zu müssen.
    20, 35 Für οἱ καταξιωθέντε schrieb M. οὓς κατηξίωσεν ὁ θεός und zog die Worte τοῦ αἰῶνος ἐκείνου zu θεός, um eine Beweisstelle für die Unterscheidung der zwei Götter zu erhalten.
    21, 13 Zu εἰς μαρτύριον fügte M. καὶ σωτηρίαν hinzu.
    21, 19 σώσετε ἑαυτούς für κτήσασθε τὰς ψυχὰς ὑμῶν (ob nach Matth. 24, 13?).
    21, 27 Für ἐν νεφέλῃ tendenziös ἀπὸ τῶν οὐρανῶν.
    21, 32. 33 M. schrieb: οὐ μὴ παρέλθῃ ὁ οὐρανὸς καὶ ἡ γῆ, εἰ μὴ πάντα (γένηται)˙ ἡ (δὴ) γῆ καὶ ὁ οὐρανὸς παρελεύσονται, ὁ δὲ λόγος μου μένει εἰς τὸν αἰῶνα.
    23, 2 Zusatz: καὶ καταλύοντα τὸν νόμον καὶ τοὺς προφήτας und καὶ ἀποστρέφοντα τὰς γυναῖκας καὶ τὰ τέκνα.
    23, 3 M. schrieb ὁ Χριστός für ὁ βασιλεὺς τῶν Ἰουδαίων, da Jesus diese Frage des Pilatus bejaht.


61 Der Kritiker und Restaurator. Die Bibel Marcions.

    23, 56 M. schrieb tendenziös κατὰ τὸν νόμον für κατὰ τὴν ἐντολήν.
    24, 25 M. schrieb οἷς ἐλάλησεν (spätere Marcioniten ἐλάλησα) πρὸς ὑμᾶς für οἷς ἐλάλησαν οἱ προφῆται.
    24, 37 M. schrieb φάντασμα für πνεῦμα.

    Was zunächst das   f o r m a l e   Verfahren anlangt, so hat man zwischen   Z u s ä t z e n,   S t r e i c h u n g e n   und   U m w a n d l u n g e n   in den Texten zu unterscheiden.
    Die große Masse der Korrekturen besteht aus   S t r e i c h u n g e n,   von der Streichung   e i n e s   Wortes oder Wörtchens an ¹ bis zu der großer Abschnitte. Das Lukasev. hat sämtliche Anfangskapitel bis c. 4, 32. (mit Ausnahme von c. 3, 1) verloren; der Römerbrief hat fast die Hälfte seines Stoffes eingebüßt; wie viel in den anderen Briefen und im Evangelium gefehlt hat, läßt sich leider nicht sagen, da die Quellen ein sicheres Urteil nicht zulassen. M. hat also angenommen, daß die judaistischen Fälscher die Texte durch Zusätze aller Art aufs schlimmste beschwert haben.
    Die zahl der von M. gemachten   Z u s ä t z e   ist so verschwindend gering, daß man skeptisch gegenüber den wenigen Fällen wird, in denen solche angenommen werden müssen; doch sind sie gut bezeugt ². M. hat also in der Regel nicht angenommen, daß die judaistischen Pseudoapostel Streichungen in den echten Texten vorgenommen haben, oder er hielt es nicht für möglich, diese Streichungen zu ermitteln. Das macht seiner Kritik Ehre, ebenso die Beobachtung, daß er Apokryphes nicht herangezogen hat. Die wenigen, keineswegs an allen Stellen sicheren Zusätze finden sich Gal. 1, 7 (κατὰ τὸ εὐαγγέλιον μου), I Kor. 1, 18 (σοφία),
—————
    ¹ Die einschneidendste ist die Streichung des ἐν in Ep. 3, 9; vgl. dieselbe, auch verhängnisvolle Streichung von ἐν in Eph. 2, 15 sowie die folgenreichen Streichungen von γενόμενος und ὡς in Phil. 2, 7. Sehr wichtig ist auch die Streichung von καινή bei  διαθήκη in Luk. 22, 20, ferner von πάτερ und καὶ τῆς γῆς in Luk. 10, 21, von αἰώνιον (neben ζωήν) in Luk. 10, 25 (dagegen ist es 18, 18 stehen geblieben), von κοινωνίας in Gal. 2, 9, von ἐν τῷ in Gal. 5, 14.
    ² Die Annahme liegt nahe, daß die Zusätze sämtlich von Schülern M.s herrühren (s. o.), und man kann einiges für diese Annahme anführen; aber sie läßt sich nicht beweisen. Möglich ist auch, daß einige „Zusätze“ vormarcionitisch sind.


62 Der Kritiker und Restaurator. Die Bibel Marcions.

I Thess. 2, 15 (ἰδίους), I Thess. 5, 13 (καὶ σωτῆρος), Phil. 1, 16 (ἤδη καὶ τινες ἐξ ἀγῶρος), Luk. 9, 41 (πρὸς αὐτούς), Luk. 9, 54 f. (ὡς καὶ Ἠλίας ἐποίησεν und οὐκ οἴδατε οἵου πνεύματός ἐστε ὑμεῖς), Luk. 16, 28. 29 (ἐκεῖ), Luk. 18, 19 (ὁ πατήρ, zweifelhaft), Luk. 18, 20 (ὁ δὲ ἔφη), Luk. 21, 13 (καὶ σωτηρίαν), Luk. 23, 2 (καὶ καταλύοντα τὸν νόμον καὶ τοὐς προφήτας und καὶ ἀποστρέφοντα τὰς γυναῖκας καὶ τὰ τέκνα) ¹.
    Sehr bedeutend ist die Zahl der Stellen, an denen M.   U m w a n d l u n g e n   durch die Fälscher vorausgesetzt hat; hier hat er ihnen die raffiniertesten Methoden zugetraut und seinen ganzen Scharfsinn angewendet, um hinter ihre vermeintlichen Schliche zu kommen, sie aufzudecken und zu korrigieren.
    (a) Er hat angenommen, daß sie im Wortklang, bzw. in den Buchstaben ähnliche Worte miteinander vertauscht haben, um einen neuen Sinn zu gewinnen; deshalb setzte er Gal. 2, 20 ἀγοράσαντος für ἀγαπήσαντος, Gal. 4, 8 τοῖς ἐν τῇ φύσει οὖσι θεοῖς für τοῖς μὴ φύσει οὖσι θεοῖς, Gal. 5, 14 ἐν ὑμῖν für ἐν ἑνὶ (λόγῳ), II Kor. 7. 1 αἵματος für πνεύματος. Kol. 1, 19 ἑαυτῷ für αὐτῷ (s. auch v. 20), Luk. 11, 42 τὴν κλῆσιν für τὴν κρίσιν, Luk. 18, 20 οἶδα für οἶδας. I. Kor. 10, 11 verwandelte er wahrscheinlich τύποι mit vorangehendem πάντα in ἀτύπως. Diese Änderungen sind Konjekturen eines geschickten Philologen.
    (b) Er glaubte sich überzeugt zu haben, daß die Fälscher öfters das Aktivum und Passivum für ihre tendenziösen Zwecke vertauscht hätten; daher schrieb er I Kor. 3, 17 φθαρήσεται für φθερεῖ αὐτὸν ὁ θεός, I Kor. 15, 25 θώνται für θῇ (wenn diese LA nicht späteren Marcioniten gehört), Luk. 10, 21 ἅτινα ἦν κρυπτά für ὅτι ἀπέκρυψας ταῦτα, Luk. 11, 4 μὴ ἄφες ἡμᾶς εἰσενεχθῆναι für μὴ εἰσενέγκῃς, Luk. 12, 46 τεθήσεται für θήσει, Luk. 20, 35 οὓς κατηξίωσεν ὁ θεός für οἱ καταξιωθέντες. Hierher gehört auch, daß er an mehreren Stellen, wenn auch nicht konsequent (s. I Kor. 6, 14), die Auferweckung Jesu in Selbstauferweckung (Auferstehung) umgewandelt hat. Andere einschneidende Vertauschungen sind die von Pronomina (z. B. Luk. 11, 3 schrieb M. τὸν ἄρτον   σ ο υ   für ἡμῶν, Luk. 16, 12 τὸ   ἐ μ ό ν   für τὸ ὑμέτερον), von Partikeln (die wichtigste ist Kol. 2, 8, wo M. διὰ τῆς
—————
    ¹ Über den Zusatz in I Kor. 6, 13 s. o. S. 47.


63 Der Kritiker und Restaurator. Die Bibel Marcions.

φιλοσοφίας ὡς κενῆς ἀπάτης gibt, während der echte Text καί und nicht ὡς liest), und von Personen (so im Gespräch Luk. 18, 18 ff., wodurch ein ganz anderer Sinn entsteht), vgl. auch das Gespräch Luk. 8, 20 f.
    (c) Auch Umstellungen von Sätzen haben die Fälscher nach M., wenn auch nicht häufig, vorgenommen; daher stellte er Luk. 6, 43 den schlechten Baum vor den guten und in Röm. 12 den 19. Vers vor den 18.; s. auch Gal. 4, 3; I Thess. 4, 16 usw.
    (d) Er nahm an, daß die Fälscher auch ohne eine täuschende formelle Deckung ungescheut und frech einzelne Begriffe und auch sehr zahlreiche Sätze umgewandelt haben; daher sah er sich genötigt, sowohl einzelne Begriffe und Sätzchen umgestaltend zu divinieren, als auch große Sätze völlig umzugestalten. In bezug auf ersteres s. z. B. Gal. 4, 24, wo er die beiden διαθῆκαι nicht gelten lassen konnte und dafür ἐπιδείξεις oder ein ähnliches Wort einsetzte (wenn diese Operation nicht erst seinen Schülern gebührt); Gal. 6, 17 τῶν ἄλλων für τοῦ λοιποῦ; I Kor. 10, 19 ἱερόθυτον für εἴδωλον; 15, 20 κηρύσσεται ἀναστάναι für ἐγήγερται (s. o.); I Kor. 15, 45 κύριος für Ἀδάμ; II Kor. 3, 14 τοῦ κόσμου für αὐτῶν; II Kor. 4, 10 τοῦ θεοῦ für τοῦ Ἰησοῦ; Röm. 6, 19 τῷ θεῷ δουλεύειν ἐν δικαιοσύνῃ für δοῦλα τῃ δικαιοσύνῃ; Röm. 7, 5 ἐν ἡμῖν für ἐν τοῖς μέλεσιν ἡμῶν; Röm. 10, 3 θεὸν ἀγνοοῦντες für ἀγνοοῦντες τὴν τοῦ θεοῦ δικαιοσύνην; I Thess. 4, 16 ἐγερθήσονται für ἀναστήσονται; II Thess. 1, 8 ἐρχομένου εἰς ἐκδίκησιν für διδόντος εἰς ἐκδίκησιν; II Thess. 2, 11 ἔσται .. εἰς für πέμπει; Phil. 1, 15 διὰ λόγου δόξαν für δι’ εὐδοκίαν; Luk. 7, 28 πάντων τῶν γεννητῶν für ἐν γεννητοῖς; Luk. 8, 21 λόγον μου für λόγον τοῦ θεοῦ; Luk. 9, 30 συνέστησαν αὐτῷ für συνελάλουν; Luk. 12, 46 ἀποχωρίσει oder ähnlich für διχοτομήσει; Luk. 13, 28 οἱ δίκαιοι für die Erzväter; Luk. 14, 21 κινηθείς oder ähnlich für ὀργισθείς; Luk. 16, 17 τῶν λόγων μου für τοῦ νόμου; Luk. 21, 19 σώσετε ἑαυτοὺς für κτήσασθε τὰς ψυχὰς ὑμῶν; Luk. 21, 27 ἀπὸ τῶν οὐρανῶν für ἐν νεφέλῃ; Luk. 21, 33 ὁ λόγος μου μένει εἰς τὸν αἰῶνα für οἱ λόγοι μου οὐ μὴ παρέλθωσιν; Luk. 23, 3 ὁ Χριστός für ὁ βασιλεὺς τῶν Ἰουδαίων; Luk. 23, 56 κατὰ τὸν νόμον für κατὰ τὴν ἐντολήν; Luk. 24, 25 οἷς ἐλάλησεν πρὸς ὑμᾶς für οἷς ἐλάλησαν οἱ προφῆται; Luk. 24, 37 φάντασμα für πνεῦμα. — Die Zahl der nachweisbaren   u m f a n g r e i c h e n   Umgestaltungen ist nicht groß. Die wichtigste ist in Gal. 4, 21—26 zu finden; vgl.


64 Der Kritiker und Restaurator. Die Bibel Marcions.

Gal. 3, 10—12; Kol. 1, 15—17; auch kann Luk. 8, 20 f. und 10, 25 ff. hierher gezogen werden.
    Was die   M o t i v e   der Streichungen und Korrekturen anlangt, so liegen sie in den meisten Fällen auf der Hand, sobald man sich der Hauptlehren M.s erinnert ¹. Die wichtigsten Motive waren folgende:
    (1) Der Weltschöpfer und Gott des AT darf nicht als Vater Jesu Christi erscheinen; er ist „gerecht“ und bösartig; seine Verheißungen gelten dem jüdischen Volke und sind irdisch,
    (2) das AT kann nichts geweissagt haben, was sich in Christus erfüllt hat; es darf nicht von Christus oder Paulus als Autorität herangezogen worden sein ²; Gesetz und Propheten sind nach dem Buchstaben zu verstehen,
    (3) der gute Gott muß bis zu seinem Erscheinen dem Weltschöpfer verborgen gewesen sein,
    (4) er darf nicht als Lenker der Welt, bzw. als der Gott der weltlichen Vorsehung vorgestellt werden,
    (5) er darf nicht als Richter erscheinen, sondern ausschließlich als der Barmherzige und als der Erlöser,
    (6) seine Erlösungen und Verheißungen beziehen sich ausschließlich auf das ewige Leben.
    (7) der Sohn des guten Gottes, Christus, ist in seinem Verhältnis zum Vater modalistisch zu verstehen,
    (8) er hat nichts Irdisches an sich gehabt, also kein Fleisch und keinen Leib, und kann daher auch nicht geboren sein und Verwandte haben,
    (9) er hat das Gesetz nicht erfüllt, sondern aufgelöst, den entscheidenden Gegensatz von Gesetz und Evangelium aufgedeckt und seine Erlösung allein auf den Glauben gestellt,
    (10) er verlangt von den Menschen völlige Loslösung von der Welt und den Werken des Weltschöpfers,
    (11) er hat nur   e i n e n   echten Apostel erweckt, nachdem die ursprünglichen sich als unbelehrbar erwiesen haben; das Evangelium des Paulus ist das Evangelium Christi,
—————
    ¹ Bestimmte Äußerungen M.s über die Gründe seines Verfahrens bei der Kritik einzelner Stellen aus dem Evangelium oder dem Apostolos liegen nicht vor.
    ² Über Einschränkungen dieser Grundannahmen bei M. s. später.


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    (12) er wird nicht als Richter wiedererscheinen, sondern am Ende der Tage die große Scheidung, die sich vollzogen hat, deklarieren.
    Diese zwölf, in sich abgeschlossenen Motive kann man ohne weiteres aus den Streichungen und Korrekturen M.s ablesen ¹. Daneben hat er sich noch von einigen Motiven zweiten Ranges leiten lassen, die aber sämtlich mit den obengenannten in innerer Verbindung stehen; nur sehr wenige Streichungen sind in bezug auf ihre Motive undurchsichtig; denn bei genauerer Erwägung findet sich meistens das Motiv. Auf den ersten Blick ist man z. B. frappiert, daß das Gleichnis vom verlorenen Sohn (Luk. 15) gestrichen ist; allein so gewiß die Tendenz des Gleichnisses M. sympathisch sein mußte, so unannehmbar war für ihn der Rahmen: Rückkehr ins Vaterhaus! Die Tempelreinigung (Luk. 19) konnte ihm willkommen sein; aber die Worte: „Mein Haus ist ein Bethaus“, waren ihm, wie Epiphanius richtig gesehen hat, unannehmbar. Freilich läßt sich einwenden, daß er ja nur dieses Wort hätte zu streichen gebraucht; aber bei genauerer Überlegung wird man sich sagen müssen, daß Christus ja durch die Reinigung selbst eine Wertschätzung des Tempels zum Ausdruck brachte, die M. unmöglich annehmen konnte. Übrigens bleibt es in zahlreichen Fällen ganz dunkel, warum er hier radikal verfahren ist und ganze Abschnitte gestrichen hat, dort durch kleine und feine Korrekturen den Sinn durchgreifend geändert hat. Eine Tradition kann ihn dabei nicht geleitet haben, denn er besaß eine solche nicht, sondern blieb durchweg der dogmatische Kritiker. Daher ist es auch ein Irrtum zu meinen, bei der Streichung der Kindheitsgeschichte sei er durch die ältere Über-
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    ¹ Sehr mißlich und bedauerlich ist es, daß die Zahl der Stellen sehr groß ist, an denen es zweifelhaft bleiben muß, ob M. sie getilgt hat oder ob sie zufällig von seinen Gegnern nicht erwähnt worden sind. Die älteren Kritiker haben in diesen Fällen mehr oder weniger umfangreiche Erwägungen angestellt, um zu Entscheidungen zu gelangen, und auch   Z a h n   hat sich, jedoch mit Zurückhaltung, an ihnen beteiligt. Ich habe mich von ihnen mit ganz geringen Ausnahmen vollständig fern gehalten, weil eine wirkliche Erweiterung unserer Kenntnisse der Lehre M.s durch sie doch nicht erreicht werden kann, da die Entscheidungen auf Grund des Bekannten getroffen werden müssen und sie außerdem bei den notorischen Inkonsequenzen M.s fast niemals ganz sicher sein können (s. o. S. 44 ff.).


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lieferung, die sie nicht gekannt hat, beeinflußt gewesen; er hat ja auch die Taufgeschichte gestrichen, die doch zum Ältesten gehörte und höchst wahrscheinlich schon in der Quelle Q vorhanden war.
    Ein sicheres Bild von M.s Stellung zum Text kann man aber aus seinen Streichungen und Korrekturen noch nicht gewinnen; man muß vielmehr das hinzunehmen, was er stehen gelassen hat. Dann ergeben sich zwar sehr zahlreiche Inkonsequenzen und Unfertigkeiten; aber nur auf diesem Grunde — die Kritiker haben das bisher übersehen — ist es möglich, in seine Gedanken einzudringen und seinen Lehren Farbe und Leben zu geben. Es wird sich dann auch zeigen, daß seine Lehren   i n   i h r e r   A n l e h n u n g   a n   d a s   E v a n g e l i u m   u n d   d e n   A p o s t o l o s   nicht mit einigen charakterisierenden Schlagworten und Antithesen zu erfassen oder gar zu erschöpfen sind, sondern eine sachliche und begriffliche Tiefe besitzen, die sie erst wertvoll macht (vgl. das Kapitel über die Lehre).
    Bei der Feststellung des kritischen Standpunktes und des Verfahrens M.s darf schließlich nicht unbeachtet bleiben, daß er ein bewußter und entschiedener Gegner der allegorischen Erklärung war. Wir besitzen darüber zahlreiche ausdrückliche Zeugnisse, die uns belehren, daß M. die Frage prinzipiell erwogen hat (s. unten bei den „Antithesen“). Er hat ausdrücklich erklärt: Μὴ δεῖν ἀλληγορεῖν τὴν γραφήν, und verstand diesen Satz so, daß weder das AT noch das Evangelium und der Apostolos allegorisiert werden dürfen. Als „purae historiae deservientes“ bezeichnet Origenes die Marcioniten (Comm. XV, 3 in Matth., T. III p. 333), und einem anderen Zeugnis entnehmen wir, daß für ihn auch das Evangelium nicht νοητόν, sondern ψιλόν war; es dürfe daher nur allegorisiert werden, wo es offenkundig Parabeln enthalte. Ob M. selbst diesen Standpunkt ganz rein hat durchführen können, ist eine andere Frage, ¹ aber jedenfalls
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    ¹ Tertullian hat III, 5 dem M. mit vollem Recht vorgerückt, daß auch er allegorisiere, bzw. die Allegorien des Paulus anerkenne: „Et quid ego de isto genere amplius? cum etiam haereticorum apostolus ipsam legem indulgentem bobus terrentibus os liberum non de bobus, sed de nobis interpretetur (I Kor. 9, 9 f.), et petram, potui subministrando comitem, Christum adleget fuisse (I Kor. 10, 4), docens proinde et Galatas duo argu-


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hat es in der ältesten Kirche keinen Theologen gegeben, der mit solcher Konsequenz die allegorische Erklärung abgelehnt hat wie er. Für das AT ergab sich daraus die Folge, daß er in seinen Erklärungen der wichtigsten ATlichen Stellen, namentlich der prophetischen und messianischen, ganz mit den Erklärungen der Juden zusammenstimmte, da auch er annahm, die Prophezeiungen seien teils schon erfüllt (in David, Salomo usw.), teils bezögen sie sich auf ein irdisches Reich und auf den Judenmessias, der als Kriegskönig noch kommen werde. Dieses Zusammentreffen mit der jüdischen Exegese war für die Gegner M.s ein schweres Skandalon: ein Christ war bereits gerichtet, wenn ihm diese Bundesgenossenschaft nachgewiesen werden konnte. Für uns aber bleibt es ein psychologisches Rätsel, wie ein Kritiker, der einerseits die Phantasien der Allegoristik ablehnte, die „historia pura“ auf den Schild erhob   u n d   i m   A T   k e i n e   Z e i l e   ä n d e r t e,   j a   d e n   g a n z e n   T e x t   d e s   w e i t s c h i c h t i g e n   B u c h e s   a l s   u n v e r f ä l s c h t e   G e s c h i c h t e   a n e r k a n n t e ¹,   andrerseits die christlichen Schriften in solchem Umfang als verfälscht zu beurteilen und die Wiederherstellung so zuversichtlich in Angriff zu nehmen vermochte! Nicht nur die Allegoristik; auch die Dogmatik kann Berge versetzen!
    In diesem Zusammenhang hat   Z a h n   (Kanonsgesch. I S. 652 f. 717) die Frage aufgeworfen, ob und wie M.s Verfahren vom moralischen Standpunkt gerechtfertigt werden kann. Er geht von dem Zugeständnis aus, daß M. im allgemeinen ein gutes Gewissen gehabt haben wird, fährt aber dann fort: „Es ist doch schwer zu glauben, daß dies gute Gewissen und der positive Glaube, durch seine kritische Operation dem ursprünglichen
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menta filiorum Abrahae allegorice cucurrisse (Gal. 4, 22 ff), et suggerens Ephesiis, quod in primordio de homine praedicatum est, relicturo patrem et matrem et futuris duobus in unam carnem, id se in Christum et ecclesiam agnoscere“ (Eph. 5, 31 f). Tert. hätte hinzufügen können, daß M.s locus classicus für die Unterscheidung der beiden Götter („der schlechte und der gute Baum“) auf einer willkürlich allegorischen Interpretation eines Gleichnisses ruhe.
     ¹ In dieser Haltung tritt ein Respekt zutage, der schwer verständlich ist, wenn M. nicht mit dem AT aufgewachsen ist (s. o. S. 22). Einfluß der jüdischen Exegese ist wahrscheinlich.


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Paulus (und dem ursprünglichen Evangelium) wieder zum Wort zu verhelfen, ihn bei seiner Arbeit stets begleitet haben sollte. Wenn er das eine Mal Sätze, die in seiner Vorlage weit auseinanderlagen, künstlich verknüpfte, um einen ganz anderen Gedanken herauszubringen, wenn er mehrfach Umstellungen vornahm, welche im Falle ihrer Richtigkeit ein ganz zweckloses Verfahren der angeblichen judaistischen Fälscher voraussetzen würden, wenn er sehr häufig durch Zutun und Abtun von Silben und Wörtern den Gedanken in sein Gegenteil verkehrte, so verträgt sich dies künstliche und oft kleinliche Verfahren entweder nicht mit dem guten Gewissen oder nicht mit dem gesunden Verstande. Zwischen diesen beiden Erklärungsgründen eine sichere Wahl zu treffen, ist heute schwerlich noch möglich; aber man sollte es denen, die dem M. näher standen, nicht so übelnehmen, wenn sie unter dem Eindruck seiner geistigen Bedeutung mehr an seiner Redlichkeit, als an seinem Verstande zweifelten und ihn daher häufiger der dreisten Fälschung als der fanatischen Blindheit bezichtigten“.
    Das Problem ist damit richtig gestellt und die für M.s Charakter günstigere Lösung erscheint zunächst dadurch erschwert, daß zwei Milderungsgründe, die man geltend gemacht hat — den zweiten hat auch   Z a h n   gelten lassen — m. E. kaum in Betracht kommen können. Weder darf man sich für M.s Verfahren, als sei damit eine volle Analogie gegeben, auf die Entstehung der synoptischen Evangelien berufen (so   B a u r   und seine Schule, weil sie die großen Unterschiede zwischen ihnen auch auf Tendenzkritik zurückführten), noch auf die Verwilderung der Handschriften, die schon zu M.s Zeit bestanden haben wird. Die Abweichungen zwischen den Synoptikern beruhen in der Hauptsache auf mündlicher Überlieferung und nur in zweiter Linie auf tendenziösen Diorthosen, und sind auch diese öfters einschneidend und hin und her sogar dreist, so zeigen sich zwar Berührungspunkte mit dem Verfahren M.s, aber dieses bleibt doch sehr verschieden von ihnen. Man darf höchstens sagen, daß, was Lukas und Matthäus sich gegenüber Q und Markus an einzelnen Stellen erlaubt haben, das hat M. zum Prinzip seiner Kritik erhoben. Der andere Hinweis aber, die Verwilderung der Handschriften könne M.s Verfahren entschuldigen, trifft überhaupt nicht zu; denn wir wissen gar nichts darüber, ob ihm


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dieser Zustand überhaupt aufgefallen ist, oder vielmehr, es liegt, soviel wir zu urteilen vermögen, die Annahme nahe, daß er sich wesentlich an   e i n e n   gegebenen Text gehalten hat; denn daß er Textvergleichungen vorgenommen, ist nirgends sicher bezeugt, wenn es auch an einigen Stellen vermutet werden kann.
    Bleibt somit sein kritisches Verfahren in seiner tendenziösen Willkür einzigartig, so mag ihm zu einer gewissen Entschuldigung dienen, daß er in einem Zeitalter schrieb, in welchem autoritative Texte nicht nur durch Verwilderung, sondern vor allem durch Fälschungen sehr viel zu leiden hatten; klagt doch nur wenige Jahre später Dionysius von Korinth, daß seine Briefe hinter seinem Rücken von den Häretikern verfälscht würden, und Irenäus beschwört seine Abschreiber bei dem wiederkehrenden Christus, seine Bücher intakt zu lassen. Daß M. das Evangelium und die Paulusbriefe für durch und durch verfälscht halten konnte, darf man ihm daher zugestehen. Damit ist freilich sein positives Verfahren noch nicht gerechtfertigt. Aber m. E., und im Gegensatz zu   Z a h n,   liegt doch kein Verdacht gegen die subjektive Ehrlichkeit M.s vor, d. h. gegen seine Überzeugung, das, was er getan, sei richtig und führe zum Ziel. Wäre er ein Schwindler gewesen, so stand ihm mehr als ein Weg offen, um seinen Fälschungen eine hohe, ja absolute Autorität zu geben. Er hätte sich auf den „Geist“ berufen und erklären können, daß ihm dieser die Bücher eingegeben habe, oder er hätte eine Geheimtradition vorschwindeln können, aus der er das ursprüngliche Evangelium und die ursprünglichen Briefe erhalten habe, oder er hätte behaupten können, daß er eine Handschrift gefunden habe, in welcher diese Schriftstücke stünden. Jeder dieser Wege war damals leicht gangbar und hätte zum Ziel geführt — Beispiele fehlen nicht; er aber hat keinen von ihnen betreten und damit bewiesen, daß er kein Schwindler gewesen ist.
    Aber wie ist dann das Rätsel dieser „kritischen“ Schriftstellerei zu lösen, d. h. wie konnte M. an sein eigenes Unternehmen glauben?   Z a h n   erklärt, wenn M. ein redlicher Mann war, muß er mit fanatischer Blindheit geschlagen gewesen sein und des gesunden Verstandes ermangelt haben. Unzweifelhaft liegt ein Defekt an gesundem Verstand vor; aber alles kommt darauf an, in welchem Maße er ihm gefehlt hat. Wenn festgestellt werden müßte, er habe diesen seinen Text bis zum letzten Buch-


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staben für den echten ausgegeben, so fehlte unter den gegebenen Umständen freilich jede Möglichkeit des Verständnisses für eine solche Behauptung. Allein wir sahen bereits oben S. 42 f., daß M. dies nicht behauptet haben kann; denn seine Schüler haben die Textverbesserung eifrig fortgesetzt. Daher ist es sehr wahrscheinlich, daß M. die von ihm gereinigten und wiederhergestellten Texte   n i c h t   als schlechthin zuverlässige herausgegeben hat, sondern mit der Salvierung, daß die Arbeit zu revidieren und fortzusetzen sei. Auch dann freilich bleibt das Unternehmen im Hinblick auf viele Stellen fast unbegreiflich kühn; allein wenn man sich erinnert, was manche klassische Philologen in der Neuzeit an Korrekturen, Umstellungen und Ausmerzungen an den alten Texten, und zwar mit fleischlicher „Sicherheit“, geleistet haben, so kommt man der Geistesverfassung, in der sich M. befunden haben wird, schon näher. Daß sie noch um einige Grade naiver war als die mancher Moderner, die sich selbst nichts weniger als naiv vorgekommen sind, ist einzuräumen; aber das ganze Zeitalter war in bezug auf Kritik mit wenigen Ausnahmen naiver. Man wird daher anzunehmen haben, daß M., gestützt auf sein vermeintlich sicheres Verständnis des Evangeliums und des Paulus, eine Reinigung der Texte mit dem naiven Bewußtsein unternommen hat, er werde im wesentlichen das Richtige treffen, zumal da es vor allem darauf ankomme, das Falsche zu entfernen.   D i e   S t r e i c h u n g e n   s i n d   j a   d o c h   d i e   H a u p t s a c h e   i n   s e i n e m   V e r f a h r e n;   die positiven Ergänzungen und Umwandlungen, sofern auch sie sein geistiges Eigentum sind, können als Diorthosen erscheinen, zu denen der damalige Stand der philologischen Kritik ein gewisses Recht gab. Gerne würde man zur Erleichterung des Verständnisses dieses Verfahrens hören, M. habe sich dabei doch auch auf eine göttliche Unterstützung, bzw. Erleuchtung berufen; aber noch lieber stellt man den wirklichen Tatbestand fest, nach welchem M. so redlich gewesen ist, daß er keine göttliche Hilfe bei seiner Arbeit vorgespiegelt hat.
    Das kritische Verfahren M.s — kühnste negative und produzierende dogmatische Kritik unter Anlehnung an gegebene Texte — ist einzigartig, und doch hat es eine Parallele, die ziemlich weit reicht. Wie ist denn der vierte Evangelist verfahren? Auch


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er fußt auf einer gegebenen urkundlichen Unterlage, den drei ersten Evangelien, und schaltet mit dieser Unterlage aufs freieste, läßt fort, stellt um und korrigiert im einzelnen wie M. Auch er unterwirft den gesamten Stoff einer negativen und produzierenden dogmatischen Kritik; er verfährt aber dabei weit kühner als M., indem er nicht nur lange Reden entwirft, sondern wahrscheinlich auch ganz neue geschichtliche Situationen erfindet. Er geht aber vor allem darin weit über M. hinaus, daß er die Autorität für sein Werk nicht aus den Quellen folgert, sondern ihm in geheimnisvoller Weise eine selbständige Autorität verleiht. M.s Unternehmen will   R e s t i t u t i o n   sein, und so wenig es das ist, so gewiß ist es Restitution in der Meinung seines Verfassers; das vierte Evangelium dagegen gibt sich als   S c h a u u n g   u n d   Ü b e r l i e f e r u n g.   Fragt man aber, bei welchem der beiden Kritiker die Übermalung des geschichtlichen Bildes die stärkere ist, so wird man schwerlich eine Entscheidung treffen können, wenn sich Johannes auch von dem kapitalen Irrtum frei erhalten hat, Christus vom AT ganz loszureißen. M.s innere Verfassung bei seiner Arbeit läßt sich, wenn auch nur annähernd, verstehen; für die des vierten Evangelisten aber ist uns ein gewisses Verständnis nur möglich, wenn wir ihn als Enthusiasten (Pneumatiker) nehmen, eine Prädizierung, die ein volles Verständnis von vornherein ausschließt. Kommt man aber auch hier mit dem „moralischen“ Maßstab, so kann kein Zweifel sein, daß ein ehrlicher Moralismus bei dem vierten Evangelisten schwerer zu einer Freisprechung gelangen wird als bei Marcion, zumal da dieser mit aufgedeckten Karten spielt, was sich von jenem nicht sagen läßt. Aber der moralische Maßstab ist hier wie dort nicht angebracht, weil es sich in dem einen Fall um einen Enthusiasten voll Geistes handelt, dem gegenüber ehrerbietige Zurückhaltung geboten ist, in dem anderen um einen eigensinnigen, d. h. von   e i n e m   Gedanken beseelten, nüchternen und tatkräftigen religiösen Denker ¹.
    Um einen   t a t k r ä f t i g e n   religiösen Denker — die Tatkraft M.s liegt hier darin, daß er nicht einige christliche Texte verbessern,   s o n d e r n   d a ß   e r   d e r   G e m e i n d e   C h r i s t i
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    ¹ Über die innere Verwandtschaft zwischen „Johannes“ und Marcion, soweit sie besteht, wird später zu handeln sein.


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e i n e   n e u e   B i b e l   s c h a f f e n   w o l l t e.   Das Evangelium des Lukas und die Paulusbriefe hat er bearbeitet,   u m   s i e   z u s a m m e n z u s t e l l e n   u n d   d i e s e s   C o r p u s   a n   d i e   S t e l l e   d e s   A T   z u   s e t z e n.   Sowohl die Zusammenstellung im Sinne eines einheitlichen Kanons als die Idee, das AT durch eine neue Sammlung   a b z u l ö s e n,   sind sein Werk ¹, und dieses Werk hat er der großen Kirche siegreich aufgenötigt, wenn sie auch daneben das AT konserviert und die neue kanonische Sammlung anders bestimmt, d. h. durch „urapostolische“ Schriften und die Pastoralbriefe erweitert und in das Licht der Apostelgeschichte gerückt hat. Hiervon wird im Kapitel über Marcion als Organisator zu handeln sein; aber schon hier mußte darauf hingewiesen werden, daß die großen textkritischen Bemühungen M.s nicht die Arbeit eines Literaten sind, sondern die eines Kirchenschöpfers, der mit genialem Blick die Notwendigkeit erkannte, seiner Kirche, der er das AT vorenthalten mußte, eine neue littera scripta als Urkunde ihres Glaubens zu geben.
    Nach dem Tode des Meisters haben seine Schüler nicht nur die Arbeit am Texte der ihnen überlieferten Bibel fortgesetzt, sondern auch erstlich die Paulusbriefe durch vorangestellte „Argumenta“ verständlich zu machen gesucht, zweitens einen gefälschten Laodizenerbrief der Bibel hinzugefügt, s. unten Kap. VIII und Beilage III S. 127* ff. 134* ff.
    Vielleicht nur 20 Jahre, nachdem M. seine Bibel hergestellt hatte, und wahrscheinlich ebenfalls in Rom, hat   T a t i a n   i n   g r i e c h i s c h e r   S p r a c h e ²   sein mühsames Werk „Diatessaron“ hergestellt und damit die ursprüngliche Absicht, die
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    ¹ S.   m e i n e   Abhandlung: „Die Entstehung des NT.s“ (Beiträge z. Einl. i. d. NT, 6. Teil, 1914).
    ² In der Annahme, daß Tatian sein Diatessaron   g r i e c h i s c h   herausgegeben hat, bin ich durch das Werk von   P l o o i j   über den niederländisch-lateinischen Tatian (1923) nicht erschüttert worden, da ich seine Nachweise in bezug auf die Abhängigkeit des deutschen (lateinischen) Diatessarons vom syrischen so wenig für zwingend halten kann, wie die früheren „Nachweise“   H a r v e y s,   der Bibeltext des Irenäus sei vom   S y r e r   abhängig. Auf diesem Gebiet verlockendster Täuschungen ist der Gebrauch von Mikroskopen vom Übel. Es gelten nur sinnenfältige Evidenzen, und sie fehlen hier.


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bei der Aussonderung und Zusammenstellung der vier Evangelien gewaltet hat, verwirklicht ¹. Daß dieses Werk   a u c h   eine Tatbekämpfung des Evangeliums M.s sein sollte, ist aus der geschichtlichen Situation a priori gewiß (so offenbar sich das Christentum Tatians an einigen wichtigen Punkten mit dem M.s berührte; aber es war doch anders fundamentiert); aber a posteriori läßt es sich nicht erweisen. Übereinstimmungen in der Textfassung, wo sich solche finden, erklären sich am einfachsten durch die Annahme, daß M. und Tatian den römischen Text vor sich hatten.
    Keine 20 Jahre mehr kann es gedauert haben, da schritten maßgebende Bischöfe in Kleinasien-Rom dazu, der Marcionitischen Zweigeteilten Bibel eine ebenfalls zweigeteilte Sammlung entgegenzusetzen und sie als   d a s   a p o s t o l i s c h - k a t h o l i s c h e   N e u e   T e s t a m e n t   zu prädizieren. Diese Nachschöpfung, unter dem Eindruck der Schöpfung M.s entstanden, ist schwerlich als eine befremdliche Neuerung empfunden worden, weil die vier Evangelien bereits seit mehr als einem Menschenalter im Gebrauch jener Kirchen standen, neben ihnen längst Paulusbriefe und andere alte Briefe und Apokalypsen im Gottesdienst und sonst den Gemeinden zugänglich gemacht wurden und die Apostelgeschichte im Kampf gegen M. sich als unentbehrlich erwies.
    Was den Text anlangt, den M. für das Evangelium und die Paulusbriefe benutzt hat, so läßt sich sicher feststellen, daß er ein Wtext (= der Itext   S o d e n s)   war. Die Sonderlesarten M.s, die sich nicht aus seinen Tendenzen erklären, sind daher mindestens zum größten Teil nicht als von ihm geschaffene Lesarten, sondern als Varianten des ihm überlieferten Wtexts zu beurteilen. Näheres s. in den Beilagen III und IV.

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    ¹ Daß die Aussonderung und Zusammenstellung der vier Evangelien ursprünglich nur den Sinn haben konnte, sie zu   e i n e m   Werke zu verarbeiten, will ich nicht noch einmal beweisen. Es mußte aber die Ausführung von den führenden (d. h. den Kampf gegen die Häresien führenden) Kirchen unterlassen werden, weil sie bald alles Gewicht darauf legen mußten, authentische Schriften von Johannes und Matthäus zu besitzen; dadurch waren aber auch die Texte des Markus und Lukas gerettet.




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Letzte Änderung am 15. Dezember 2017