ADOLF VON HARNACK
MARCION: DAS
EVANGELIUM VOM FREMDEN GOTT
Beilage IIIE, Seite 149*—176*
149*
Beilage IIIE: Das Apostolikon
Marcions
E.
Untersuchungen.
Das Urteil der Kirchenväter hat sich
bewährt: Epiphanius hat recht, wenn er haer. 42, 9 sagt: Ὁ Μαρκίων
ἔχει καὶ ἐπιστολὰς παρ’ αὐτῷ τοῦ ἁγίου ἀποστόλου δέκα, αἷς μόναις
κέχρηται, οὐ πᾶσι δὲ τοῖς ἐν αὐταῖς γεγραμμένοις, ἀλλὰ τινὰ αὐτῶν
περιτέμνων, τινὰ δὲ ἀλλοώσας κεφάλαια ².
—————
² Bereits der älteste
Berichterstatter, Irenäus (I, 27, 2), hat das Apostolikon M.s
richtig charakterisiert: „Apostoli Pauli epistolas abscidit, auferens
quae manifeste dicta sunt ab apostolo et de eo deo qui mundum fecit,
quoniam hic pater domini nostri Iesu Christi, et quaecumque ex
propheticis memorans apostolus docuit praenuntiantibus adventum
domini“. Vgl. III, 12, 12: „Epistolas Pauli decurtaverunt“.
150*
Beilage IIIE: Das Apostolikon
Marcions — Untersuchungen
Der
kritische Apparat ergibt folgendes:
(1) Marcion hat an viel zahlreicheren Stellen, als
Tert. es angibt ¹, in den überlieferten Text der Paulusbriefe
eingegriffen.
(2) Die Eingriffe bestehen in großen
Streichungen und in kleinen, aber oft sehr einschneidenden, ja sogar
den Sinn des Textes an einigen Stellen in sein Gegenteil verkehrenden
Korrekturen und Streichungen — größtenteils nachweisbar im
Interesse seiner eigentümlichen Lehre. Große Streichungen
lassen sich auf Grund des uns überlieferten lückenhaften
Materials in I und II Kor., den beiden Thess., Phil. und Philem.
nicht n a c h w e i s e n, auch in Eph. nur das
Fehlen von 1, 21; 6, 2 b. 3 und starke Verkürzungen in 5, 22 ff.;
in Kol. nur das Fehlen von 1, 15 b. 16. 17 b. Dagegen fehlten in Gal.
die Verse 1, 18—24 (wahrscheinlich); 2, 6—9 a (wahrscheinlich) 3, 6—9.
10 b. 11 a. 12 a. 14 a. 15—25; 4, 27—30; in Röm. 1, 17 b; 1, 19—2,
1; 3, 31—4, 25; 8, 19—22; 9, 1—33 (wahrscheinlich ganz); 10, 5—11, 32;
15; 16. Da Tert. aber in seinen Auseinandersetzungen im Lauf seiner
Gegenschrift (eine Ausnahme bildet seine Polemik bei Eph.) immer
sprunghafter wird (weil er sich vor Wiederholungen scheute), so kann
auch in den zuletzt behandelten Briefen viel mehr bei M. gefehlt haben,
als wir nachzuweisen vermögen.
Die kleineren tendenziösen Streichungen,
Korrekturen und Umgestaltungen finden sich Gal. 1, 1. 7; 2, (1). 9. 10;
4, 4. 8. 21—26 (!); 5. 14; 6, 17. I Kor. 1, 18; 3, 17; 10, 11. 19; (6,
13); 15, 3. 20. 38. 45. II Kor. 1, 3; 2, 15; 3, 14; 4. 10. 11. 13; (5,
10); 7, 1. Röm. 1, 16. 18; 6, 9. 19; 7, 5; 10, 3; 11, 33; 12, 19.
I Thess. 2, 15; 4, 4. 16; 5, 23. II Thess. 1, 8; 2, 11. Ephes. 2, 2.
(11). 14. 15. 20; 3, 9; 5, 22. 28. 31; 6, 2. 3. 4. Kol 1, 19. 22; 2, 8;
4, 14; Phil. 1, 15. 17; 2, 7; 3, 9. Alle diese tendenziösen
Auslassungen und Korrekturen lasse ich hier beiseite, da sie in der
Darstellung behandelt sind.
(3) Das griechische Apostolikon M.s (Orig.,
Adamant., Epiph. usw.) stimmt mit seinem lateinischen (Tert.) im ganzen
trefflich
—————
¹ S. (nach K r o y
m a n n s Ausgabe) V, 1 p. 571 — V, 3 p. 575 — V, 3 p. 578 — V,
4 p. 579 — V, 4 p. 581 — V, 10 p. 607 — V, 11 p. 614 — V, 13 p. 619 —
V, 14 p. 624 — V, 14 p. 625 (bis) — V, 15 p. 627 — V, 16 p. 630 — V, 17
p. 632 — V, 17 p. 636 — V, 17 p. 637 — V, 18 p. 638 — V, 18 p. 641 — V,
19 p. 643 — V, 19 p. 644 — V, 21 p. 649.
151*
Beilage IIIE: Das Apostolikon
Marcions — Untersuchungen
zusammen
¹; die nicht zahlreichen nachweisbaren Ausnahmen erklären
sich teils aus den notwendigen Differenzen zwischen einem Original und
seiner Übersetzung ², teils aus den Veränderungen, die
der M. Text in der Kirche M.s erlitten hat ³.
(4) Neben der Erkenntnis der schweren
tendenziösen Eingriffe M.s in den Text ist die wichtigste Einsicht
in bezug auf Natur und Art des Textes die, daß der griechische
und lateinische Text M.s je ein Zwillingsbruder des bilinguen Textes D,
G ist und daher ein Blutsverwandter der Itala und Vulgata
(gegenüber dem afrikanischen Text), sowie der Texte, wie sie bei
Tert. (in seinen übrigen Schriften) ‚ Irenäus lat.,
Novatian, Ambrosiaster ‚ Lucifer, Origenes lat., Augustin usw.
vorliegen. Die Verwandtschaft mit D, G — und zwar gerade dort, wo diese
zusammenstimmen 6 — ist dabei im
höchsten Grade frappant;
—————
¹ Doppelt, bez. dreifach
bezeugte Korrekturen sind Gal. 1, 1; 1, 7; 1, 8; 3 ,6 ff.; 4, 21 f.; 5,
14 (bis); 6, 17; I Kor. 15, 3. 4; I Thess. 4, 15—17; II Thess. 1, 6;
Ephes. 2, 11; 2, 17; 5, 31. Auch die Stellen gehören hierher, bei
denen M.s Text von zwei oder mehreren Zeugen als gleichlautend mit dem
kanonischen bezeugt wird; ferner auch die, wo ein Zeuge eine Lücke
angibt und sich die Stelle auch bei den anderen Zeugen nicht findet.
² Z a h n konnte an einigen Stellen die
Auskunft gebrauchen, Tert. habe hier willkürlich übersetzt:
diese Auskunft durften wir nicht anwenden; allein es macht keinen
großen Unterschied, ob die Willkür bei Tert. liegt oder bei
dem älteren Übersetzer, wenn eine solche überhaupt
anzunehmen ist.
³ In bezug auf diese Veränderungen s.
(außer den „Argumenta“, der Hinzufügung von Laod. und der
Rezeption der Pastoralbriefe) zu I Kor. 15, 24. 25; I Kor. 15, 38; I
Kor. 15, 50 (?); II Kor. 5, 10 (?); Röm. 1, 24 ff. (?); Röm.
16, 25—27 (!); Ephes. 3, 9. Vielleicht ist Gal. 4, 26 keine Korrektur
M.s, sondern seiner Schüler.
Das Verhältnis, welches hier besteht, genau
darzulegen, ist nicht meine Aufgabe; nur soviel sei gesagt, daß
der kanonische lateinische Bibeltext der Paulusbriefe, der Tert. vorlag
— denn die Annahme, daß er nur einen kanonischen griechischen
Text besaß, ist hier ebenso undurchführbar, wie
gegenüber den ihm vorliegenden M.-Text — aufs engste mit dem
lateinischen M.-Text verwandt gewesen ist, aber doch auch (abgesehen
von den Verfälschungen M.s) nicht unbedeutende Verschiedenheiten
aufwies.
Die Verwandtschaft mit Iren. lat. u. Ambrosiaster
ist besonders groß.
6 Der Marciontext
steht G noch etwas näher als D und auch d, g etwas näher als
D, G.
152*
Beilage IIIE: Das Apostolikon
Marcions — Untersuchungen
im
ganzen handelt es sich um etwa 98 Stellen ¹. S o m i
t s i n d d e r
g r i e c h i s c h e u n d d e r l
a t e i n i s c h e M. T e x t d i e
ä l t e s t e n Z e u g e n
f ü r d e n W
T e x t d e r P a u l u s b r i e f e, d
i e w i r b e s i t z e n, a l s
o d i e
e h r w ü r d i g s t e n U r k u n d e n
f ü r d i e s e n. Daß diese Texte auch
eine nicht unbedeutende Verwandtschaft mit syrcu
einerseits und mit
dem ältesten ägyptischen Text andrerseits aufweisen ²‚
kann
nach dem, was wir sonst über den Einfluß des WTextes auf
diese in ältester Zeit wissen, nicht auffallen. Auch auf den
antiochenischen Text hat der Text, wie ihn M. vertritt, Einfluß
geübt, aber einen geringeren.
(5) M. hat hiernach sein
Apostolikon wahrscheinlich nicht im Pontus oder Asien rezensiert,
sondern erst im Abendland. Der Text, der ihm vorlag, war also der Text
der römischen Gemeinde kurz vor der Mitte des 2. Jahrhunderts
³.
(6) Eine sehr große Reihe
von Eigentümlichkeiten der beiden M.Texte gegenüber den
modernen Textrezensionen ist demgemäß nicht Marcionitisch,
wie man früher irrtümlich annahm, sondern der WText.
Auf dieser gewonnenen Grundlage aber erheben sich
nunmehr zwei Fragen:
(a) hat M. über die t e n d e n z i ö s e
Umgestaltung der
Paulusbriefe hinaus auch sonst den Text korrigiert und sich
undogmatische Eingriffe erlaubt und — wenn diese Frage zu bejahen ist
— aus welchen Motiven? (b) Welches Ver-
—————
¹ S. im Apparat zu Gal. 1, 6
(bis)
8; 2, 9; 3, 14; 5, 1. 9. 14 (bis). 24; 6, 7. — I Kor. 1, 11. 18. 21.
22; 3, 2. 3. 4. 21; 4, 5; 5, 3. 4 (bis); 6, 16. 20; 7, 29; 8, 4; 9, 7;
10, 3. 5 (bis). 7. 9. 16; 12, 9; 14, 19. 21. 34; 15, 4. 14.
20. 39 (bis). 50 (bis). 51. — II Kor. 2, 16; 4, 4. 5. 6 (ter). 10; 5,
3. 4 (bis); 5,
10 (bis); 17; 10, 18; 13, 3. 4. — Röm. 5, 8. 9; 6, 19; 8, 11
(bis); 13, 9; 15;
16. — I Thess. 2, 15; 4, 3. 16. 17.— Ephes. 1, 6. 9. 12. 13; 2, 10. 11
(bis). 13. 15.
19; 3, 8 (bis). 9. 10; 4, 6. 25; 5 31; 6, 11 — Kol 2, 16. 18; 3, 4;
4, 10, 11. — Phil. 1, 14. Einige merkwürdige
Bezeugungskombinationen bei starkem Hervortreten des Sinaiticus s. zu
Gal. 1, 8; 5, 6. — I Kor. 3, 16; 5, 4. 5; 10,
3 (bis). 5; 15, 36. — II Kor. 4, 4. 5. 6. 10; 10, 18; 13, 1 (bis). 4. —
Röm. 6, 14; 8,
11. — Ephes. 2, 11. 15. 19; 3, 8. 9 (bis); 4, 25. — Kol. 2, 18. — Phil.
3, 9.
² Ich habe die Verwandtschaft mit letzterem
(sah.
boh. ℵ*) nicht regelmäßig angegeben.
³ Der Wtext ist
dem Abendland nicht
eigentümlich, aber doch am stärksten vom Abendland bezeugt.
Immerhin muß die Möglichkeit offen gelassen werden,
daß M. seinen Text doch schon im Orient bearbeitet hat.
153*
Beilage IIIE: Das Apostolikon
Marcions — Untersuchungen
hältnis
besteht zwischen dem lateinischen Marciontext und dem
lateinischen WText? Hat jener diesen
beeinflußt oder ist er sogar
seine Grundlage? Diesen beiden Fragen ist aber noch eine weitere Frage
voranzustellen, nämlich ob unter den Stellen, an welchen M. ein
Zeuge für den WText ist, sich bereits
solche befinden, die
spezifisch-marcionitisch sind, weil sie seine eigentümlichen
häretischen Tendenzen ausprägen.
1.
D e r C h a r a k t e r d e r c a.
1 0 0 S t e l l e n, a n w e
l c h e n d e r
M a r c i o n t e x t g e g e n d i
e a n d e r e n H a u p t r e z e n s i o n e
n m i t d e m W
T e x t
ü b e r e i n s t i m m t.
Alle diese Stellen sind mit sehr geringen Ausnahmen
inhaltlich ganz unbedeutend, stellen eine wesentlich gleichgültige
stilistische Uniform dar und sind in bezug auf die eigentümlichen
dogmatischen Tendenzen M.s neutral mit Ausnahme von 10 Stellen; aber
auch bei der Hälfte von diesen ist die Tendenz zweifelhaft. (1)
Gal. 1, 6 fehlt bei M. und Fgr* Gg
Tert. Cypr.
Lucif. Victorin Χριστοῦ nach χάριτι, und das könnte eine
dogmatische Korrektur M.s sein, der bei seinem relativen Modalismus
nicht gelten lassen wollte, daß uns Gott ἐν χάριτι Χριστοῦ
berufen habe; aber anderswo hat er ähnliches stehen gelassen. Man
darf daher keineswegs mit Sicherheit behaupten, hier läge eine
spezifisch Marcionitische LA vor. (2) Das berühmte οὐδέ in Gal. 2,
5 kann eine Fälschung M.s sein; allein bekanntlich wird es (>
D*d Iren. Tert. Victorin. Ambrosiaster) von einer so
überwältigenden Mehrheit von Zeugen (auch Gg) geboten und ist
auch sachlich so viel wahrscheinlicher, daß es als die
ursprüngliche LA zu gelten hat. (3) Εὐλογίαν mit D*Gdg
Ambrosiaster, Vigilant. in Gal. 3, 14 > ἐπαγγελίαν kann man als
dogmatische Korrektur in Anspruch nehmen; allein näher liegt es,
einen Irrtum anzunehmen, da εὐλογία unmittelbar vorhergeht. (4) Die
Einfügung von ἐν ὑμῖν in Gal. 5, 14 zu ὁ νόμος πεπλήρωται (so auch
D*Gdg go Ambrosiaster etc.) ist wohl tendenziös. (5) Die
Ausmerzung von πρῶτον neben Ἰουδαίῳ in Röm. 1, 16 mit BGg
ist marcionitisch. (6) Daß auch in DG, wie bei M. Röm. 15
und 16 gefehlt haben, kann nicht als tendenziöser Eingriff gelten,
da dieses Motiv schlechterdings nicht ausreicht, um die Streichung
dieser beiden Kapitel zu erklären. (7) Die LA τοῦς ἰδίους προφήτας
154*
Beilage IIIE: Das Apostolikon
Marcions — Untersuchungen
ἀποκτεινάντων
in I Thess. 2, 15 mit Dbc syr go KL
und Vätern > τοὺς προφήτας ist wahrscheinlich marcionitisch und
(8) ebenso Ephes. 4, 6 das ἡμῖν in dem Satze: πατὴρ πάντων ὁ ἑπὶ πάντων
καὶ διὰ πάντων καὶ ἐν πᾶσιν ἡμῖν (mit DGKLdg vulg. Firmil. etc. etc.)
denn M. konnte es nicht stehen lassen, daß der gute Gott den
ganzen Kosmos durchwaltet. (9) Das Fehlen von καὶ προσκολληθήσεται τῇ
γυναικί in Ephes. 5, 31 in den Mss. des Orig. und Hieron. und andere
Veränderungen hier sind Einfluß M.s ¹. (10) Das Fehlen
von ὃ καὶ παρέλαβον in I Kor. 15, 3 ist tendenziös.
Es sind also nur die 6 Stellen in Gal. 5, 14;
Röm. 1, 16; I Kor. 15, 3; I Thess. 2, 15 und Ephes. 4, 6; 5, 31
mit hoher Wahrscheinlichkeit als Marcionitische tendenziöse
Korrekturen in Anspruch zu nehmen ². Daher: D i
e Ü b e r e i n s t i m m u n g e n d e
s M t e x t e s m i t d e
m W t e x t s i n
d m i t w e n i g e n
—————
¹ Bemerkenswert ist, daß
die sinnlose, im Abendland stark verbreitete, im Morgenland wenig
bekannte Variante I Kor. 6, 20 ἄρατε = „t o l l i t e“,
entstanden aus ἄρα γε, sich schon im lateinischen Text der Marcioniten
den Tert. bietet, findet. — Nicht hierher gezogen habe ich die
berüchtigte Streichung des ἐν in Ephes. 3, 9, obgleich sie sich
auch in ℵ* (sonst nirgends) findet; denn ich glaube nicht, daß
hier Einfluß des Marcionitischen Textes — die Gedankenlosigkeit
des katholischen Schreibers wäre zu groß — sondern lediglich
ein Schreibversehen anzunehmen ist. Möglich ist, daß das
Fehlen von τοῦ θεοῦ nach ὀργή (Röm. 1, 18) in der Minusk. 47
(sonst nirgends) auf Einwirkung des Mtextes beruht; aber auch hier kann
ein Zufall obwalten.
² Dazu kommen einige andere Stellen in einigen
Handschriften, die den Verdacht erregen, Marcionitisch zu sein; aber
der Wtext
fehlt hier, und so ist eine sichere Entscheidung unmöglich. Ich
denke an ἐν Ῥώμῃ in Röm. 1 und ein paar verwandte Fälle. —
Überblickt man den Mtext, so fällt auf, daß er an 19
Stellen den Jesus-Namen nicht liest, wo derselbe
höchstwahrscheinlich im Rechte ist (Gal. 2, 4; 5. 6, 24; 6, 17; I
Kor. 3, 11; 5, 5; II Kor. 4, 10 (bis). 11; Röm. 2, 16; 3, 21; 6,
3; 8, 11; I Thess. 2, 15; 5, 23; Ephes. 2, 10. 13. 20; Phil. 3, 8); man
könnte daher dem M. eine gewisse Abneigung gegen diesen Namen
vorwerfen. Allein unter den 19 Stellen sind nur wenige, an denen M. mit
der Streichung allein steht; sie findet sich auch sonst bei andern
abendländischen Zeugen (einmal auch bei B allein; s. Röm. 3,
21). Daher ist es, wenn man hier überhaupt eine Tendenz annehmen
will, wahrscheinlicher, diese schon dem Wtext selbst zuzuschreiben; denn das
liegt hier näher als die Annahme einer Einwirkung des Mtextes auf
den Wtext.
Übrigens fehlt umgekehrt bei M. Χριστός neben Ἰησοῦς I Kor. 1, 3
(mit A). Man läßt wohl besser diese Beobachtung als
undurchsichtig ganz beiseite.
155*
Beilage IIIE: Das Apostolikon
Marcions — Untersuchungen
A
u s n a h m e n a l s s t i l i s t i s c h
e u s w. E i g e n t ü m l i c h k e i t e
n d e s W t e x t
e s z u b e t r a c h t e n, a
n d e n e n d e r M t e x
t t e i l n i m m t. N a c h t r ä g l i c h e
r E i n f l u ß d i e s e s T e x
t e s a u f j e n e n u n
d a u f d i e Ü b e r l i e f
e r u n g ü b e r h a u p t f e h l t
e n i c h t g a n z, w a r a
b e r, s o w e i t d a s h i e
r v o r l i e g e n d e M a t e r i a
l S c h l ü s s e z u l ä ß t,
g e r i n g (s. weiteres darüber unten) ¹.
2.
D e r C h a r a k t e r d e r b e
i M a r c i o n a l l e i n s i c
h f i n d e n d e n V a r i a n t e n, a
b g e s e h e n v o n d e n d o g m
a t i s c h - t e n d e n z i ö s e n E i n g r i f f
e n.
Die große Menge der dem M. eigentümlichen
LLAA ist durch seine dogmatische Tendenz hervorgerufen. Aber abgesehen
von
—————
¹ Eine schöne
textkritische Frucht der Untersuchung des Wtextes im Zusammenhang mit dem
Marciontext ist die Wiederherstellung der richtigen LA in I Kor. 14, 33
f. Die Ausleger befanden sich hier in größter Schwierigkeit,
obschon sie es sich nicht recht eingestanden; denn der
überlieferte Text gibt (1) nur dann in v. 33 a eine
Begründung zu den Worten: Πνεύματα προφητῶν προφήτας ὑποτάσσεται,
wenn man ein kaum entbehrliches Mittelglied ergänzt, und er duldet
33 b so wenig neben 33 a, daß man entweder zu dem verzweifelten
Mittel griff, die Worte wider alle Wahrscheinlichkeit zu v. 34 zu
ziehen oder sie durch διδάσκω oder διατάσσομαι zu ergänzen (so
zahlreiche, aber nicht ausschlaggebende Zeugen). Aber alles wird
mit e i n e m Schlage klar, wenn man mit
Marcion-Tert. (IV, 4) und Ambrosiaster ὁ θεός in v. 33 nicht liest.
Dann lauten die Worte: Πνεύματα προφητῶν προφήταις ὑποτάσσεται˙ οὐ γάρ
ἐστιν ἀκαταστασίας ἀλλὰ εἰρήνης, ὡς ἐν πάσαις ταῖς ἐκκλησίαις τῶν
ἁγίων. Wie oft findet sich in der späteren Literatur von Jakobus
und Hermas an πνεύματα (πνεῦμα, δαιμόνιον) ἀκαταστασίας oder ἀκατάστατα
und umgekehrt εἰρήνης und εἰρηνικά! Sie sind hier gemeint. Paulus sagt:
„Die Geister der Propheten sind den Propheten untertan, weil sie, wie
in allen Gemeinden und so auch in Korinth, nicht Geister der
Aufsässigkeit sind, sondern Geister des Friedens“. Jede
Schwierigkeit ist gehoben, denn Gedanke und Ausdruck sind nun glatt;
aber nur Marcion (Tert.) und Ambrosiaster haben die richtige LA.
bewahrt! Das sehr alte Eindringen von ὁ θεός aber erklärt sich
aufs einfachste aus dem Zusammenwirken von ἐστιν und der
geläufigen Wendung: ὁ θεός τῆς εἰρήνης, an die man sich erinnerte
oder die von selbst in die Feder eines der frühesten Kopisten
floß. Näheres s. in m e i n e r Abh. in
den Sitzungsber. der
156*
Beilage IIIE: Das Apostolikon
Marcions — Untersuchungen
ihnen
finden sich etwa 100 Stellen ¹, an welchen M. singuläre LLAA
bietet, die dogmatisch fast oder total indifferent sind. Bei ihrer
Beurteilung hat man sich zu erinnern, daß Tert.s Angaben neben
wörtlich genauen Zitaten in zwar guten, aber nicht immer bis ins
einzelste korrekten R e f e r a t e n bestehen,
daß Epiphanius bei der Wiedergabe von Marciontexten, die er
anführt, um aus ihnen zu erweisen, daß sie die katholische
Lehre bezeugen, nicht immer sorgfältig gewesen ist ², und
daß Adamantius seine Zitate aus zweiter Hand hat. Dazu kommt noch
die Möglichkeit, daß M. an der einen oder anderen
Stelle a l l e i n den Originaltext bewahrt haben
kann, der bei allen übrigen Zeugen verloren gegangen ist. Ist er
doch für den Text der Paulusbriefe unser ältester Zeuge. Wir
werden daher annehmen müssen, daß von den c. 100
singulären und doch nicht dogmatisch-tendenziösen Varianten
M.s wahrscheinlich eine beträchtliche Zahl ausschiede, wenn wir
M.s Originaltext noch besäßen, und daß umgekehrt
vielleicht einige Marcionitische Varianten den Originaltext enthalten
(gegen die anderen abendländischen Zeugen).
Versucht man nun diese Stellen nach Kategorien zu
ordnen, so ergibt sich, daß weitaus die größere
Hälfte der Varianten in solchen bestehen, die sich ihrer Art nach
von den Varianten nicht unterscheiden, welche die Überlieferung
überhaupt bietet. Es handelt sich (1) um Wortstellungen im Satz,
(2) um Tempusverschiedenheiten, (3) um Vertauschung von Sing. und
Plural (οὐρανός > οὐρανοί usw.), (4) um Vertauschung von Synonymen
oder Auslassung eines Gliedes in einer Reihe von Synonymen (κύριος >
θεός usw.), (5) von Präpositionen (πρός > εἰς, διά
—————
Preuß. Akad. d. Wiss. 1919 S. 527 ff.: „Über
I Kor. 14, 32 ff. und Röm. 16, 25 ff. nach der ältesten
Überlieferung und der Marcionitischen Bibel“.
¹ Gal. 1, 7 (bis). 8; 2, 2. 20; in 3, 10—12.
34; 4, 3. 8 f. 24 f.; 6, 7. 6. 17. — I Kor. 1, 11. 18. 28; 2, 16; 3, 2.
3. 16. 17. 19; 4, 15; 6, 11. 13; 8, 5. 8 f.; 10, 5. 6; 12, 28; 15, 20.
22. 25. 29. 31. 38. 50. — II Kor. 2, 16; 3, 16; 18 (quinquies); 4, 4. 7
(ter). 11. 16; 5, 1 (bis). 4 (bis). 17; 10, 18. — Röm. 1, 18; 3,
21; 5, 1. 9. 21 (bis); 6, 19. 20; 7, 7 (bis). 25 (bis); 8, 5. 9; 11, 5;
13, 19. — I Thess. 4, 15. 16; 5, 23. — II Thess. 1, 6 (bis); 2, 4. —
Ephes. 1, 9. 13; 2, 2. 11. 13 (ter). 16. 17. 19; 5, 19. 23. 29; 6, 11.
— Kol. 1, 5. 24; 2, 16 f. — Phil. 1, 18; 2, 7; 3, 7. 9.
² Weil es ihm hier sozusagen nur auf das
Stichwort ankam; sorgfältiger ist er, wenn er Marcionitische
Textkorrekturen verzeichnet (s. o.).
157*
Beilage IIIE: Das Apostolikon
Marcions — Untersuchungen
>
ἐν usw.), (6) von Partikeln (ἀλλά > καί, οὖν > δέ, οὔτε > οὐδέ
usw.), resp. um Einschiebung oder Auslassung von solchen, (7) um
Einschiebung oder Auslassung von Pronomina (αὐτοῦ usw.) und um
ähnliche Dinge. Nach Ausscheidung dieser nahezu
gleichgültigen Fälle soll eine kurze Übersicht zeigen,
was hier noch übrig bleibt:
Im G a l a t e r b r i e f 1, 7 a
Verstärkung des Gedankens durch ein eingeschobenes πάντως und 1, 8
durch ein eingeschobenes ἄλλως; vermutlich ist auch ὑμᾶς θέλοντες
μεταστρέψαι εἰς ἕτερον εὐαγγέλιον τοῦ Χριστοῦ für θέλοντες
μεταστρέψαι τὸ εὐαγγέλιον τοῦ Χριστοῦ als Verstärkung zu
beurteilen. 2. 2 logische Verbesserung des Gedankens: ἔδραμον ἢ τρέχω
> τρέχω ἢ ἔδραμον. 2, 20 Verstärkung des Gedankens durch die
Aussage „der Gottessohn, der mich e r k a u f t hat“
statt „der Gottessohn, der mich g e l i e b t hat“.
3, 10 ὑπὸ νόμον für ἐξ ἔργων νόμου ist eine Verdeutlichung. 4, 3
Undurchsichtige Voranstellung der aus 3, 15 stammenden Worte:
<ἔτι> κατὰ ἄνθρωπον λέγω, vor die Worte: ὅτε ἦμεν νήπιοι,ὑπὸ τὰ
στοιχεῖα τοῦ κόσμου ἦμεν δεδουλωμένοι, das sonst nicht bezeugte ἔτι ist
stilistische Hinzufügung. 4, 24 f. Undurchsichtige Einschiebung
von Ephes. 1, 21 an dieser Stelle. 6, 17 Logische Präzisierung des
Gedankens durch Einschiebung von εἰκῆ in den Satz: κόπους μοι μηδεὶς
παρεχέτω. Zu 4, 24 f. noch ein Wort: Diese Stelle ist deshalb so
merkwürdig, weil sich hier neben einem einschneidenden
tendenziösen Eingriff noch zwei Maßnahmen
finden, d i e s o n s t b e i
M. b e i s p i e l l o s s i n d,
nämlich außer dem eben berührten Einschub aus dem
Epheserbrief noch der andere freigestaltete Einschub: εἰς ἣv
ἐπηγγειλάμεθα ἁγίαν ἐκκλησίαν. Der Versuch, M. selbst von diesen
Einschüben zu entlasten, ist möglich; aber nicht
ausgeschlossen bleibt, daß M. als Textkritiker sich
an e i n e r Stelle etwas erlaubt hat, was er sich
sonst nie gestattet hat. Nur wenn er diese Stelle für einen
besonderen Zweck brauchen wollte, läßt sich diese
Ausgestaltung verstehen. War sie, die so scharf den Gegensatz der
beiden „Ostensiones“ hervorhebt (die Veranstaltung der Knechtschaft,
die vom Sinai zur Synagoge geführt hat, und die überirdische
Veranstaltung, die zur heiligen Kirche, unsrer Mutter, geführt
hat), vielleicht dazu bestimmt, bei der Aufnahme in die Marcionitische
Kirche als heilige Formel zu dienen?
158*
Beilage IIIE: Das Apostolikon
Marcions — Untersuchungen
Im I K o r i n t h e r b r i e f 1, 11
ἤκουσται > ἐδηλώθη undurchsichtig; doch ist mir fraglich, ob hier
überhaupt eine Variante anzunehmen ist. 1, 18 Logische
Verbesserung des Gegensatzes μωρία > δύναμις durch die Fassung μωρία
> δύναμις καὶ σοφία. 1, 28 Verstärkung des Gedankens durch
Einschiebung von τὰ ἐλάχιστα zwischen τὰ ἀγενῆ und τὰ ἐξουθενημένα
(wohl in Rücksicht auf I Kor. 15, 9). 3, 3 Tilgung der Worte καὶ
κατὰ ἄνθρωπον περιπατεῖτε (undurchsichtig). In 3, 20 (s. auch 2, 16)
scheint M. den korrekten LXXText eingesetzt zu haben, oder es ist
vielmehr eine Eigentümlichkeit des WTextes
hier zu konstatieren (s. L i e t z m a n n,
Römerbrief ² S. 15). 6, 13 Zusatz ὡς ὁ ναὸς τῷ θεῷ καὶ ὁ θεὸς
τῷ ναῷ, der für M. so unwahrscheinlich ist, daß man vermuten
muß, er habe hier einen ursprünglichen Satz konserviert, der
sehr frühe verloren gegangen ist. 15, 20 M. schreibt Χριστὸς
κηρύσσεται ἐκ νεκρῶν ἀναστάναι > Χρ. ἐγήγερται. Daß er statt
„Erweckt werden“ bei Christus „Auferstehen“ setzt, ist auch sonst zu
belegen und tendenziös (s. u.); warum er aber nicht einfach Χρ.
ἀνέστη geschrieben hat, ist dunkel. 15, 25 u. 29 lasse ich beiseite, da
mir nicht ganz sicher ist, daß er wirklich πάντας dort und ὅλως
hier ausgelassen hat; hat er sie ausgelassen — sie sind nicht notwendig
—‚ so hat er die hier vorliegenden Verstärkungen des Gedankens
für überflüssig erachtet, während er anderseits
unterstreicht (s. o.).
Im II. K o r i n t h e r b r i e
f 3, 18. An diesem Verse muß M. besonders viel
gelegen haben. Ich stelle die beiden Fassungen nebeneinander:
Originaltext: |
Marcion: |
Ἡμεῖς δὲ πάντες
ἀνακεκαλυμμένῳ προσώπῳ τὴν δόξαν κυρίου κατοπτριζόμενοι τὴν αὐτὴν
εἰκόνα μεταμορφούμεθα ἀπὸ δόξης εἰς δόξαν, καθάπερ ἀπὸ κυρίου πνεύματος.
|
Ἡμεῖς ἤδη
ἀνακεκαλυμμένῳ προσώπῳ τὸν Χριστὸν κατοπτριζόμενοι τὴν αὐτὴν εἰκόνα
μεταμορφούμεθα ἀπὸ δόξης τοῦ κυρίου εἰς δόξαν, καθάπερ ἀπὸ κυρίου
πνευμάτωv.
|
Die Veränderungen dürfen als logische
Verbesserungen bezeichnet werden; so läßt sich die
Auslassung von πάντες, das eingeschobene ἤδη (s. z. Röm, 3, 21; 8,
9), die Vertauschung der Herrlichkeit Christi mit Christus, die
Präzisierung der δόξα durch τοῦ κυρίου, um die genaue
Korrespondenz mit dem Schluß herzustellen und die Vertauschung
von πνεύματος mit πνευμάτωv
159*
Beilage IIIE: Das Apostolikon
Marcions — Untersuchungen
verstehen.
— Der pedantische Zusatz τοῦ σώματος 5,4 zu ἐν τῷ σκήνει dient zur
Verdeutlichung des Sinns.
I m R ö m e r b r i e f 1,
18 ist wiederum πᾶσαv ausgelassen (s. zu I Kor. 15, 25; II Kor. 3, 18);
es konnte als pleonastisch, wie I Kor. 15, 25, wegfallen. Bei der
Verbindung von 3, 21 mit 5, 1 hat M. das Einst und Jetzt scharf
hervorgehoben: τότε νόμος, νυνὶ δικαιοσύνη θεοῦ und zu διὰ πίστεως zur
Sicherstellung des Begriffs τοῦ Χριστοῦ hinzugefügt. 5, 21 ist
αἰώνιον weggelassen; der Gegensatz von Tod und Leben wird so straffer.
In 8, 9 ist νῦν im Interesse der Präzision hinzugesetzt (s. o.).
I m I T h e s s a l o n i c h e r b r
i e f 4, 16 ist ἐσχάτη zu σάλπιγξ hinzugefügt aus
Pedanterie. 5, 23 ist die Hinzufügung von καὶ σωτῆρος zu τοῦ
κυρίου bemerkenswert; M. legte also in einer feierlichen Formel darauf
Gewicht, daß dieser Begriff nicht fehlte.
I m E p h e s e r b r i e f 1, 13: hat
nach εὐαγγέλιον bei M. τῆς σωτηρίας ὑμῶν wirklich gefehlt? man begreift
nicht, warum er es ausgelassen haben sollte; wollte er etwa
verkürzen? 2, 14 f. τὸ μεσότειχον τοῦ φραγμοῦ λύσας, τὴν ἔχθραν ἐν
τῇ σαρκὶ αὐτοῦ hat M. verändert zu τ. μες. τῆς ἔχθρας ἐν σαρκὶ
λύσας. Hier liegt sicher eine Verkürzung vor. 6, 11 wenn M.
wirklich ἐν ᾗ στῶμεν > πρὸς τὸ δύνασθαι ἡμᾶς στῆναι geschrieben hat,
so ist der Grund der Änderung undurchsichtig.
I m P h i l i p p e r b r i e f 1, 18
ist οὐδέν μοι διαφέρει, wenn M. so geschrieben hat, eine bloße
stilistische Korrektur. In 3. 7 ist νῦν, in 3, 9 ἤδη hinzugefügt,
s. ähnliches oben.
Man sieht, daß sich aus diesen nicht
zahlreichen Varianten generelle Motive schwerlich gewinnen lassen. Hat
M. auch — im besten Fall — an ein paar Stellen u n t e r s
t r i c h e n, an ein paar Stellen l o g i s c h e
Verbesserungen angebracht, an anderen die Gedanken
verstärkende Zeitpartikeln hinzugefügt usw., so sind doch
diese Stellen, gemessen an dem Umfang der Texte, so wenig zahlreich,
daß man von bestimmten Absichten, die ihn in erheblichem Grade
bestimmt haben, nicht sprechen darf. Die Untersuchung endet also hier
negativ, d. h. es läßt sich über die Tatsachen hinaus,
daß M.s Text im Griechischen und im Lateinischen der WÜberlieferung angehört, und daß
er aus dogmatischen Tendenzen an den Texten korrigiert hat, nichts
Bestimmtes über seine Absichten sonst ermitteln. Wahrscheinlich
hat er überhaupt solche nicht gehabt, mag er auch hie und da
einmal, da er
160*
Beilage IIIE: Das Apostolikon
Marcions — Untersuchungen
überhaupt
korrigierte, eine „Verbesserung“ angebracht haben — Diorthosen, wie sie
sich auch sonst Textkritiker damals gestattet haben. D o c
h k a n n e i n g r o ß e
r T e i l v o n i h n e
n s c h o n d e m W T
e x t e a n g e h ö r t h a b e n,
d e n e r z u g r u n d e l e g t
e, w e n n w i r d a s a u c
h n i c h t m e h r n a c h z u w e
i s e n v e r m ö g e n ¹. Daß er
irgendwo an den angeführten Stellen den Urtext bewahrt hat, ist,
soviel ich sehe, nicht wahrscheinlich zu machen; es sei denn etwa in I
Kor. 6, 13. — Fremde Stoffe hat er nirgendwo eingemischt.
3.
W e l c h e s V e r h ä l t n i s b e s t
e h t z w i s c h e n d e m l a t e
i n i s c h e n M a r c i o n - T e x t u n
d d e m l a t e i n i s c h e n W T e x t ? H a t j e n
e r d i e s e n b e e i n f l u ß t ?
I s t e r s o g a r s e i n
e G r u n d l a g e ?
Es sind oben (S. 154*) sechs
Stellen nachgewiesen worden (dazu Röm. 16, 25—27), an denen
Lesarten M.s — daß sie solche sind, zeigt ihre Tendenz — in der
Überlieferung des WTextes zu finden
sind ². Da der griechische und lateinische M.Text selbst zur WÜberlieferung gehört, so erhebt sich
die Frage, ob nicht der lateinische M.Text die erste Übersetzung
der Paulusbriefe ins Lateinische ist, auf welcher die katholische
Übersetzung (Wlat.) fußt. A
priori ist das sehr wohl möglich; denn das Bedürfnis einer
lateinischen Übersetzung der Paulusbriefe muß bei des
Griechischen unkundigen Marcioniten stärker gewesen
—————
¹ Z a h n schreibt (a.
a. O. I S. 649): „... Harmlose Verbesserungen (an mehreren Stellen)
zeugen von dem Streben nach strafferem, bald nach
unmißverständlicherem Ausdruck. Vor allem aber ist
unverkennbar das Streben nach Verkürzung der großen
Briefsammlung... Er liebte nicht die Wiederholung. Er hatte auch kein
Interesse an den äußerlichen Geschichten und
persönlichen Verhältnissen auf welche Paulus in seinen
Briefen einzugehen veranlaßt war.“ Für solche
Verallgemeinerungen bietet der uns erhaltene Marcion-Text keine
genügende Unterlage. Z a h n nimmt u. a. an,
daß M. den Namen des Apollo aus den Briefen gestrichen habe: „Was
ging die Gemeinden des 2. Jahrhunderts Apollo an?“ Allein es ist mehr
als unsicher, daß Apollo’s Name überall in I Kor. gestrichen
war. Wohl aber scheint M. den Barnabas Galat. 2, 1. 9 entfernt zu
haben, damit er nicht als wahrhaftiger Apostel neben Paulus erscheine.
² Über sie hinaus auch in anderen Stellen,
wo man aber nur mutmaßen kann, daß hier der M-Text vorliegt.
161*
Beilage IIIE: Das Apostolikon
Marcions — Untersuchungen
sein
als in der lateinischen Großkirche. Daher meinte L i
e t z m a n n ¹, das Problem, das hier vorliegt „finde
seine Lösung vielleicht am einfachsten durch die Annahme,
daß in der Mitte oder zweiten Hälfte des 2. Jahrhunderts,
als die amtliche römische Kirche noch griechisch sprach,
Marcionitische Prediger für ihre Lehre auch in der lateinisch
sprechenden Bevölkerung Roms Jünger zu werben suchten und zu
diesem ihren Propagandazweck zuerst den ihnen besonders am Herzen
liegenden Paulustext ins Lateinische übersetzten; diese
Übersetzung hat dann die katholische Kirche übernommen und
ihrem Texte angeglichen, aber doch nicht überall die Spuren des
Ursprungs verwischen können“.
Diese Hypothese wird, so scheint es, durch die
Tatsache gestützt, daß die Marcionitischen Prologe
(Argumente) in die katholischen Mss. gekommen sind, und daß es
katholische Handschriften mit Röm. 16, 25—27 und anderen
Marcionitischen Lesarten gibt. Aus dem Vorhandensein der Prologe
läßt sich indes keineswegs ein zwingendes oder auch nur
wahrscheinliches Argument für die Priorität des lateinischen
MTextes vor dem katholischen WText
gewinnen; wie steht es mit dem Gewicht der Marcionitischen Lesarten?
Da Wgraec. die
Voraussetzung von Marciongraec. ist, so dürfen die dogmatisch
indifferenten LLAA, die sie gemeinsam haben, hier nicht in Betracht
kommen. Dann bleiben also nur Gal. 5, 14; Röm. 1, 16; I Kor. 15,
3; I Thess. 2, 15; Ephes. 4, 6; 5, 31; Röm. 16, 25—27. Auf
weiteres Marcionitisches Gut hat L i e t z m a n n
(a. a. O.) aufmerksam gemacht; er verweist auf Röm. 5, 6; 14, 10;
I Kor. 5, 8 sowie auf Ephes. 1, 1; Röm. 1, 7. 15 und Röm. 15.
16.
Bei I Kor. 5, 8 handelt es sich nach L i
e t z m a n n selbst (S. 33) nur um eine Möglichkeit:
Röm. 1, 20 hat das Abendland πονηρία zu πορνεία umgestaltet.
Dadurch sieht sich L. erinnert daß I Kor. 5, 8 der Kod. G
dieselbe Umwandlung bietet; da nun Tert. (adv. Marc. V, 7) von I Kor.
5, 5 sofort zu 6, 13 übergeht mit den Worten: „Avertens autem nos
a fornicatione manifestat carnis resurrectionem“, so ließe sich
vermuten, daß M. in I Kor. 5, 8 — der Vers ist uns für M.
nicht überliefert — πορνείας für πονηρίας gelesen hat und
dies also eine Marcionitische Lesart sei. Allein
—————
¹ Römerbrief ², S. 14
f.
162*
Beilage IIIE: Das Apostolikon
Marcions — Untersuchungen
selbst
wenn diese Kombination Vertrauen verdiente — Tert.s Satz ist doch
bereits dadurch gedeckt, daß der ganze Abschnitt I Kor. 5, 1—7
von der Hurerei handelt —‚ so wäre es sehr vorschnell, die Lesart
als Marcionitische zu bezeichnen. Sie hat vielmehr als eine Lesart des WTextes zu gelten, da sie dogmatisch indifferent
ist. Wohin kämen wir, wenn wir alle Sonderlesarten des WTextes dem M. als Urheber zuwiesen!
Nicht verständlich ist mir, inwiefern ἔτι γάρ
Röm. 5, 6 eine Marcionitische Lesart sein soll, da L i
e t z m a n n selbst sie als die ursprüngliche verteidigt
(S. 56).
Röm. 14, 10 hält L. den
Richterstuhl G o t t e s für die
ursprüngliche Lesart, „C h r i s t i“ für
Korrektur. Allein er selbst macht darauf aufmerksam, daß Χριστοῦ
sich schon bei Polykarp (ep. 6, 2) findet; also hat die Lesart mit
Marcion nichts zu tun (der DGText hat sie nicht).
Diese drei Stellen müssen somit für unsern
Zweck als unbrauchbar zurückgewiesen werden; die Fragen aber, die
sich an Ephes. 1, 1; Röm. 1, 7. 15 und Röm. 15. 16 (dazu 16,
25—27 besonders) anschließen, hängen aufs engste zusammen.
Es steht nach der Angabe Tert.s fest, daß M. den Epheserbrief als
Laodicenerbrief in seinem Kanon hatte (s. o. zu Laod. 1 S. 114*). Wenn Tert. das so
ausdrückt: „Marcion et titulum aliquando interpolare
gestit, q u a s i et in isto diligentissimus
explorator“, so muß man sowohl q u a s i als
auch den Hohn hier völlig verkennen, wenn man aus dieser Bemerkung
schließen will (so Z a h n), Tert. bezeuge
hier dem M., er habe auf Grund einer kritischen Untersuchung — die also
Tert. bei ihm gelesen hat — diese Änderung vorgenommen ¹. Der
Satz ist vielmehr sachlich völlig belanglos — der „so
sorgfältige Forscher“ hat die Zahl der Briefe angetastet, die
Briefe selbst
—————
¹ Welches
Schwergewicht Z a h n an Tert.s ironischen Ausdruck
hängt, zeigt u. a. S. 625 (Ed. 1) seines Werks: „Wenn Tert. sagt,
M. habe sich a u c h i n d i e s e m
Punkte als einen sehr sorgfältigen Forscher beweisen wollen [aber
das sagt Tert. gar nicht], so müssen wir schließen,
daß er für seine auf Herstellung einer Bibel gerichtete
Tätigkeit überhaupt diesen Anspruch erhoben hat. An
diesem e i n e n Beispiel aber, das in hellem
Tageslicht liegt [nein, das aus dem Nichts geschaffen ist], erkennen
wir auch, daß der Gegenstand der Kritik und der Forschung M.s und
die Grundlage seines Aufbaus die vor ihm in der Kirche vorhandene Bibel
war“.
163*
Beilage IIIE: Das Apostolikon
Marcions — Untersuchungen
verfälscht
und an e i n e r Stelle nicht einmal die Titel
verschont! ¹ — und wenn er fehlte, wüßten wir nicht
weniger. Aber deshalb darf auch das Wort „titulus“ nicht gepreßt
und nicht behauptet werden, Tert. werfe dem M. nur vor, daß er
die Ü b e r s c h r i f t geändert hat,
während er ihm eine Korrektur in c. 1, 1 nicht zur Last lege, eine
solche also hier ausschlösse. Er macht vielmehr nur zur
Überschrift seine Bemerkung und geht dann sofort zu 1, 9 f.
über. Da wir aber hier keine weiteren Zeugnisse besitzen, so
bleibt es völlig im Dunklen, ob M. in 1, 1 τοῖς ἁγίοις τοῖς οὖσιν
ἐν Λαοδικείᾳ καὶ πιστοῖς oder schon τ. ἁγ. τ. οὖσιν κ. πιστοῖς (sei es
mit, sei es ohne, ἐν Ἐφέσῳ) gefunden hat. Hat er ersteres gefunden, so
war in der Briefsammlung, die er durchkorrigierte, noch der
ursprüngliche Text vorhanden; denn es ist mir nicht zweifelhaft,
daß ἐν Λαοδικείᾳ die ursprüngliche Lesart ist ². In
diesem Falle ist es ihm leider nicht geglückt, die richtige
Adresse wieder zur Anerkennung in der Christenheit zu bringen. Hat er
aber schon den korrigierten Text in 1, 1 vorgefunden, so ist mit zwei
Möglichkeiten zu rechnen: entweder stand bereits in der Aufschrift
„An die Epheser“, dann hat er das als Irrtum korrigiert, oder es stand
überhaupt keine Ortsbezeichnung im c. 1, 1, dann hat er Laodicea
eingesetzt, weil er eine alte (richtige) Überlieferung
besaß, oder den beraubt vorgefundenen Text von 1, 1
unverändert gelassen. Da sich aber nirgendwo bei ihm h
i s t o r i s c h - kritische Erwägungen nachweisen lassen ³‚
so ist die erste Möglichkeit m. E. recht unwahrscheinlich.
M. hat aller Wahrscheinlichkeit nach wiedergegeben,
was er vorfand: in der Aufschrift Πρὸς Λαοδικέας und in 1, 1 entweder
ἐν Λαοδικείᾳ oder den schon dieser Worte beraubten Text. Die Hypothese
aber, daß er selbst die Beraubung vorgenommen, schwebt
völlig in der Luft. Mag sich die Ausmerzung in c. 1, 1 daraus
erklären, daß die Laodicener-Gemeinde sich zeitweilig durch
innere Verwahrlosung so gut wie aufgelöst hatte (s. Offenb. Joh.
3),
—————
¹ Es mag sein, daß Tert.
an Kol. 4, 16 gedacht hat, als er M. bei seiner angeblichen
Umadressierung des Epheserbriefs den „diligentissimus explorator“
nannte; aber auch das ist nicht sicher, da Tert. es nicht sagt.
² S. m e i n e Abhandlung in
den Sitzungsberichten der Preuß. Akademie „Die Adresse des
Epheserbriefs des Paulus“ 1910, S. 696 ff.
³ Weiteres darüber s. später.
164*
Beilage IIIE: Das Apostolikon
Marcions — Untersuchungen
und
man deshalb keinen Paulusbrief an sie zu lesen wünschte, oder mag
sie aus der Absicht entsprungen sein, den Brief zu einem k
a t h o l i s c h e n zu machen — in beiden Fällen liegt
nicht der geringste Grund vor, M. dafür verantwortlich zu machen.
Dazu: es ist doch sehr unwahrscheinlich, weil beispiellos, daß
eine Text-Korrektur Marcions e i n e s o l c h
e V e r b r e i t u n g erlangt hat wie die Fassung: τοῖς
ἁγίοις τοῖς οὖσιν καὶ πιστοῖς in der alten Kirche.
Aber hat nicht auch Röm. 1, 7. 15 „ἐν Ῥώμῃ“ in
Marcionitischen Bibeln gefehlt, steht diese Ausmerzung nicht mit der
von „ἐν Ἐφέσῳ“ in einem innern Zusammenhang, und ist nicht er für
diese Auslassung verantwortlich? Nun, zunächst sind uns die Texte
dieser Verse bei M. überhaupt nicht überliefert. Das Fehlen
von ἐν Ῥώμῃ in ihnen (bezw. ihre Ersetzung durch andere Worte) ist
für 1, 7 bezeugt durch Orig. G (d Cod. Fuld. der Vulgata,
Ambrosiaster, diese nur indirekt), für 1, 15 allein durch G. Nun
ist gewiß die Überlieferung des WTextes
in G dem Marcion-Text am nächsten verwandt, und es hat daher eine
gewisse Wahrscheinlichkeit, daß auch bei M. ἐν Ῥώμῃ gefehlt hat.
Allein in dem Verhältnis der beiden Texte (s. o. S. 154* f.) gilt die Regel, d a
ß g e m e i n s a m e L e s a r t e
n s o l a n g e a l s s o l c h
e z u b e t r a c h t e n s i n d,
b e i d e n e n M. d e
m a n d e r e n T e x t g e f o l g
t i s t, b i s n i c h t d a
s U m g e k e h r t e e r w i e s e n i s t.
Da dies hier nicht erwiesen werden kann, so ist zu urteilen,
daß, wenn ἐν Ῥώμῃ bei M. gefehlt hat, er einfach, wie in vielen
Dutzenden von Fällen, der G Rezension des WTextes
gefolgt ist, welche die Worte nicht bot.
Es erübrigt das wichtigste Problem, das Fehlen
von Röm. 15. 16 bei Marcion. Aus dogmatisch-tendenziösen
Motiven kann M. diese Kapitel nicht gestrichen haben ¹; warum
fehlten sie also bei ihm? Alles, was bis vor kurzem über dies
Problem geäußert worden ist, war ganz unbefriedigend;
erst C o r s s e n hat hier Licht gebracht, indem er
gezeigt hat, daß die Kapitel in der DG Überlieferung des WTextes gefehlt haben; s i
e s i n d a l s o g a r n i c h
t v o r M.s A u g e n g e k
o m m e n; mithin hat nicht e r sie
gestrichen oder etwa durch Zufall ein verstümmeltes
—————
¹ Einige Anstöße,
die c. 15 bot, hätte Marcion leicht beseitigen können.
165*
Beilage IIIE: Das Apostolikon
Marcions — Untersuchungen
Exemplar
in die Hand bekommen ¹. Aber könnte er es nicht doch gewesen
sein, und die DGÜberlieferung wäre erst durch ihn zur
Streichung veranlaßt worden? Dann müßte man bei M. ein
spezifisches Motiv nachweisen können; ein solches aber
läßt sich nicht ermitteln; denn er hatte bei seinen
Streichungen nur ein dogmatisch-tendenziöses Interesse ².
Aber wird das Problem nicht einfach zurückgeschoben, wenn man es
der Rezension DG aufbürdet? Nein; denn hier ist es auf einen Boden
versetzt, auf dem eine Lösung leichter ist, ja auf dem man sich
sogar bei einem Non liquet zu beruhigen vermag. In bezug auf M. hat
unsere Untersuchung gezeigt, daß (von einigen Diorthosen
abgesehen, die auch nicht sicher sein Eigentum sind) seine
Textkorrekturen auf dem dogmatisch-tendenziösen Motiv beruhen und
daß man bei ihm daher Nebenabsichten nicht annehmen darf; dagegen
läßt der breite Boden der großen Kirche für die
Annahme der verschiedensten Möglichkeiten Raum. Er fällt
nicht in den Rahmen unserer Aufgabe, die wahrscheinlichste
herauszusuchen. Es mögen Röm. 1, 8. 15; Ephes. 1, 1 und das
Fehlen von Röm. 15. 16 ein gemeinsames Problem bilden, und aus dem
Gemeinsamen mag das Motiv zu den hier erfolgten Streichungen
abstrahiert werden ³; aber das gehört nicht in die
Marcion-Forschung, sondern in die allgemeine Geschichte des Bibeltextes
in der Kirche.
Ein Wort ist noch nötig über die Verse
Röm. 16, 25—27, die ein ganz selbständiges Stück bilden
und deren Textgeschichte ich als bekannt voraussetzen darf. M. hat sie
nicht geboten und nicht gekannt; aber sie sind offenbar streng
Marcionitisch und nur durch 2 (3) Zusätze mühsam und
unzureichend katholisiert. Ich setze die Zusätze in Klammern:
Τῷ δὲ δυναμένῳ ὑμᾶς στηρίξαι κατὰ τὸ εὐαγγέλιόν μου
[καὶ τὸ κήρυγμα Ἰησοῦ Χριστοῦ oder καὶ κυρίου Ἰ. Χρ.], κατὰ ἀποκάλυψιν
μυστηρίου χρόνοις αἰωνίοις σεσιγημέτου, φανερωθέντος δὲ νῦν [διά τε
γραφῶν προφητικῶν] κατ’ ἐπιταγὴν τοῦ αἰωνίου θεοῦ εἰς ὑπακοὴν πίστεως
εἰς
—————
¹ S. L i e t z m a n n,
Römerbrief 2. Aufl. S. 125.
² Selbst an den zahlreichen Grüßen
kann er sich nicht gestoßen haben, da er Kol. 4, 10 ff.
beibehalten hat.
3 Ich selbst bekenne, keine befriedigende
Lösung zu wissen. Das Motiv, die Briefe durch Streichungen des
Lokalen und Partikularen zu „katholisieren“ genügt nicht.
166*
Beilage IIIE: Das Apostolikon
Marcions — Untersuchungen
πάντα
τὰ ἔθνη [γνωρισθέντος], μόνῳ σοφῳ θεῷ διὰ Ἰησοῦ Χριστοῦ, ᾧ ἡ δόξα κτλ.
Die „prophetischen Schriften“ können
schlechterdings nur das A. T. bezeichnen (gegen die Ausleger, die hier
in verständlicher Verlegenheit an christliche Prophetenschriften
denken), aber ebenso gewiß ist, daß die alttestamentlichen
Propheten neben νῦν unmöglich stehen können; denn dieses νῦν
zeigt unwidersprechlich die christliche Epoche an. Dazu kommt,
daß γνωρισθέντος neben φανερωθέντος eine Überladung ist.
Ferner ist καὶ τὸ κήρυγμα Ἰ. Χρ. n a c h κατὰ τὸ
εὐαγγέλιόν μου nahezu unerträglich ¹. Endlich sowohl das
absolute κατὰ τὸ εὐαγγέλιόν μου als auch die Vorstellung,
daß e r s t j e t z t das bisher
unbekannte Heil offenbart worden ist, sind Marcionitisch. Also haben
wir hier den Fall, daß spätere Marcioniten dem
Römerbrief einen Schluß gegeben haben und daß dieser
Schluß in die kirchliche Überlieferung gekommen ist, jedoch
mit Korrekturen, da er sonst unerträglich war. S. m e
i n e Abhandlung in d. Sitzungsber. der Preuß. Akad. d.
Wiss. 1919 S. 527 ff., in denen der Marcionitische Charakter dieser
Verse und die Annahme katholischer Interpolationen genau begründet
sind.
Einige Marcionitische Lesarten sind wirklich in die
Überlieferung des katholischen Textes gelangt, aber es sind nur
wenige nachweisbar. Die überwältigende Mehrzahl der LLAA, die
als Marcionitisch in Anspruch genommen werden können, sind
vielmehr LLAA des Wtextes, zu welchem der
Marciontext Graec. und Lat. selbst gehören ². Auf die
Hypothese aber, in der Marcionitischen Kirche seien die Paulusbriefe
zuerst ins Lateinische
—————
¹ Auf die Varianten berufe ich
mich nicht, da sie m. E. den überlieferten Text voraussetzen.
² Hiernach erledigt sich die
Bemerkung Z a h n s (a. a. O. I S. 638): „Angesichts
der unversöhnlichen Feindschaft der Kirche gegen M. ist es ganz
undenkbar, daß der unermüdlich als ketzerische
Fälschung verurteilte Text M.s auf die Gestaltung des kirchlichen
Textes einen positiven Einfluß geübt hat.“ Richtig aber ist
seine Erkenntnis in bezug auf die große Mehrzahl der Fälle,
„daß alle Textgestaltungen, welche dem Unkundigen als
Eigentümlichkeiten der Bibel M.s erscheinen, welche aber zugleich
durch katholische Handschriften, Übersetzungen und Schriftsteller
bezeugt ... sind, von M. nicht geschaffen, sondern ...
herübergenommen worden sind“ (nämlich aus dem WText). Man muß
nur hin-
167*
Beilage IIIE: Das Apostolikon
Marcions — Untersuchungen
übersetzt
worden und die katholische Kirche habe diese Übersetzung rezipiert
und nach dem ursprünglichen griechischen Text
zurückkorrigiert, wird man durch keine Beobachtung geführt.
Sie unterliegt auch dem Bedenken, daß eine solche Rekorrektur ein
sehr schwieriges und mühsames Unternehmen gewesen wäre
¹. Doch bleibt die Hypothese als eine bloße Möglichkeit
bestehen, und vielleicht untersucht jemand in Zukunft die Frage, ob
etwa die lateinische Übersetzung der von M. ausgeschiedenen
Abschnitte der Paulusbriefe und die Übersetzung der Pastoralbriefe
ins Lateinische beachtenswerte Unterschiede von der
Übersetzung d e r Teile aufweist, die M. und
der Kirche gemeinsam sind. Diese Teile repräsentieren den Text,
wie er — wahrscheinlich in Rom — kurz vor der Mitte des 2. Jahrhunderts
gelesen wurde; es ist ihnen daher größere Beachtung zu
schenken — das gilt namentlich vom Römerbrief —‚ als dies bisher
geschieht.
Die Frage liegt nahe (s. Z a h n,
a. a. O. I. S. 648), ob M. etwa mehrere Handschriften für seine
neue „gereinigte“ Ausgabe hinzugezogen hat. Man muß a priori, so
scheint es, annehmen, daß er das getan hat; denn er muß
doch wohl nach „unverfälschten“ Handschriften gesucht haben. Aber
da er solche nicht fand und nicht finden konnte, ist es sehr wohl
möglich, daß er sich mit e i n e r
Handschrift begnügt hat. Jedenfalls läßt sich der
Gebrauch mehrerer Handschriften nicht nachweisen, und jede Spur fehlt,
daß er neben dem Wtexte auch noch
einen andern hinzugezogen hat. Auch legt weder sein weltlicher Beruf
noch sein reformatorischer Zweck die Annahme nahe, daß er als
technischer Philolog gearbeitet hat, wenn auch einzelne
Textänderungen in der schlagenden Kürze, in der sie seine
dogmatische Tendenz zum Ausdruck bringen, virtuos sind. Seine
tendenziösen Korrekturen sind oben (in dem Hauptteil) so eingehend
behandelt worden, daß sich eine Untersuchung hier erübrigt.
—————
zufügen, daß dies auch sehr wahrscheinlich
für eine Gruppe von Fällen gilt, in denen sich zufällig
in den uns erhaltenen Zeugen des WTextes die Variante nicht findet, die man bei M. liest.
¹ Aber wie ausgezeichnet wäre es
geglückt, wenn der lateinische WText der Paulusbriefe, also auch die
Vulgata, ein korrigierter Marcion-Text wäre.
168*
Beilage IIIE: Das Apostolikon
Marcions — Untersuchungen
4.
D i e R e i h e n f o l g e d e r P
a u l u s b r i e f e b e i M a r c i o n.
Die Reihenfolge Gal., Kor., Röm., Thess.,
Ephes., Kol., Phil., Philem. ¹ ist einzigartig ². Wie ist sie
zu erklären? In der Tübinger Schule glaubte man einst, an ihr
einen äußeren Beweis für die Unechtheit der Briefe
Thess. bis Philem. zu besitzen; denn in dieser Reihenfolge stünden
zuerst die 4 echten Briefe (in chronologischer Reihenfolge), dann
(wiederum in chronologischer Reihenfolge) die unechten. Daran wird
heute niemand mehr denken. Z a h n hält die
Reihenfolge ebenfalls für chronologisch, aber als ganze, indem er
in bezug auf Thess. annimmt, M. habe sich entweder eine falsche Meinung
über den Ursprung dieser Briefe gebildet oder er habe Thess. ihrer
geringeren Bedeutung wegen an den Schluß der ersten Abteilung
(woher diese Scheidung?) gestellt, „wodurch er dann den Vorteil hatte,
daß gleich an der Spitze seines Apostolikons der für ihn vor
allen anderen wichtige Galaterbrief stand“. Wie man aber hier auch
erklären möge, gewiß sei, daß die Ordnung der
Briefe aufs neue beweise, „daß M. in Dingen, welche für ihn
dogmatisch indifferent waren, h i s t o r i s c h e n
Erwägungen folgte“ (Bd. I S. 623; II S. 346 f.). Allein der
Riß, der in diese Betrachtung durch die falsche Stellung von
Thess. kommt, bleibt bestehen, und von chronologischen Studien M.s in
bezug auf die Briefe wissen wir nichts. Mir scheint sich die
Reihenfolge anders zu erklären: Den Galaterbrief hat M. aus
sachlichen Gründen vorangestellt; er war ihm die Magna Charta
seines Christentums und erfüllte ihm das Bedürfnis, das die
große Kirche durch die Rezeption der Apostelgeschichte
befriedigte. Aus Tert. IV, 3 und V, 2 erkennen wir noch aufs
deutlichste, daß für M. alle anderen Paulusbriefe im
Schatten des Gal. gestanden haben. Die übrigen Briefe aber ordnete
M.‚ wie es scheint, einfach nach
—————
¹ Nach Epiph. (also für
die cyprisch-palästinensischen Marcioniten): Philem., Phil. Jener
Brief sollte wohl zu dem mit ihm geschichtlich zusammengehörigen
Kol. gestellt werden. Z a h n (Kanonsgesch. I S.
623) denkt an die Möglichkeit, daß dies die
ursprüngliche Reihenfolge sei (gegen Tert.s Angabe), obgleich sie
später bezeugt ist, weil er die ganze Reihenfolge für eine
chronologische hält.
² S. über die Reihenfolge der paulinischen
Briefe die große Untersuchung von Z a h n, a.
a. O. II, S. 344 ff.; dazu I, S. 456. 623. 836.
169*
Beilage IIIE: Das Apostolikon
Marcions — Untersuchungen
der
Größe. Ich setze die Stichen des Euthalius hinzu und in
Klammern die Buchstabenzahl der Briefe ¹, Gal., I u. II Kor. 1460
(54 536), Röm. 920 (35 266), I u. II Thess. 299 (11 479), Ephes.
312 (11 932), Kol. 208 (7745), Phil. 208 (7975), Philem. 37 (1567).
Hier fällt nur auf, daß I und II Thess. vor Ephes. stehen;
allein es waren z w e i Briefe, und der Raum, den
sie mitsamt Titel und Schlußstrich beanspruchten, war daher
größer als der für Ephes. nötige. So wird man
annehmen dürfen, daß die Länge der Briefe das Prinzip
ihrer Anordnung bei M. gewesen ist ². Eine „historische“
Betrachtung kommt also nicht in Frage.
5.
H a t t e d a s M a r c i o n i t i s c h
e A p o s t o l i k o n s c h o n e
i n e C a p i t u l a t i o ? ³
C o r s s e n hat in seiner anregenden
Abhandlung „Zur Überlieferungsgeschichte des Römerbriefs“
(Ztschr. f. d. NTliche Wissensch. 10. Bd. S. 21 ff. 25 ff.) zuerst auf
Spuren ältester Capitulatio der Texte in der abendländischen
Kirche (bei Tert.) hingewiesen. Mit Recht legt er Gewicht auf Tert. V,
7, wo der Abschnitt I Kor. 10, 6—11 als ein Kapitel für sich
erscheint („denique et in clausula praefationi apostolus respondet“).
Geht man nun von dieser Stelle aus vorwärts, so stößt
man in V, 8, wo Tert. zu I Kor. 12, 1 ff. übergeht, auf die
zusammenfassende Bezeichnung „Nunc d e s p i r i t a
l i b u s“, ohne weiteren Zusatz; Tert. fährt in einem
neuen Satz fort: „Dico haec quoque in Christo a creatore promissa“.
Zwei Seiten weiter, noch in demselben Kapitel, heißt es dann beim
Übergang zu c. 13: „D e d i l e c t i o n e
q u o q u e o m n i b u s c h a r i s m
a t i b u s p r a e p o n e n d a a p o s t o l u
s i n s t r u x i t“; Tert. läßt dann das
ganze 13. Kap. beiseite, bringt also nur diese Überschrift. Aber
auch wenn man von c. 10, 6 ff. rückwärts geht,
stößt man V, 7 beim Übergang zu I Kor. 7, 1 ff. auf die
Bemerkung: „Sequitur d e n u p t i i s
(congredi, quas Marcion ... prohibet“). Andere Spuren habe ich nicht
gefunden. Schon für Tert. reichen sie nicht
—————
¹ S. die Tabelle
bei Z a h n, a. a. O. I, S. 76. Die Buchstabenzahl
hat natürlich nicht die Bedeutung wie die antike Stichenberechnung.
² Kol. und Phil. konnte man nach der
Stichenzahl beliebig ordnen.
³ S. dazu d e B r u y n
e, Rev. Bénéd. 1911 p. 9 f. des Separatabzugs
(sonst S. 141 f.).
170*
Beilage IIIE: Das Apostolikon
Marcions — Untersuchungen
aus,
um seinem Bibeltext eine Capitulatio zuzusprechen, wenn sie nicht durch
andere Beobachtungen ergänzt werden (was jedoch der Fall ist); um
Marcion aber eine solche beizulegen, bzw. dem von ihm bearbeiteten WText, dazu sind sie ungenügend. Doch
erhalten sie vielleicht eine schwache Beweiskraft, wenn man auf das
Marcionitische Evangelium blickt; denn hier stößt man bei
Tert. und Epiph., wo sie zur Perikope vom reichen Mann und armen
Lazarus übergehen, auf folgende Beobachtung: Tert. schreibt (IV.
34): „Subsequens argumentum divitis apud inferos dolentis et pauperis
in sinu Abrahae requiescentis“, und Epiph., Schol. 44: Περὶ τοῦ
πλουσίου καὶ Λαζάρου τοῦ πτωχοῦ, ὅτι ἀπηνέχθη ὑπὸ τῶν ἀγγέλων εἰς τὸν
κόλπον τοῦ Ἀβραάμ. Soll man hier annehmen, daß beide sich auf
eine „Überschrift“ beziehen, die im Evangelium M.s stand? Vgl.
auch Tert. IV, 19 zu Luk. 8. 4 ff.: „De parabolis“.
6.
M a r c i o n u n d d i e P a s t o
r a l b r i e f e.
In bezug auf M.s Verhältnis zu diesen Briefen
wissen wir nur, daß M. sie nicht in seiner Paulinischen
Briefsammlung hatte (s. Tert. V, 1. 21; Epiph.; vgl. Pseudotert. sub.
„Cerdo“), daß aber eine Gruppe späterer Marcioniten sie
aufgenommen hat (s. den Prolog zu Tit., oben S. 129* ff.) ¹. Daraus
läßt sich mit großer Wahrscheinligkeit
schließen, daß kein ausdrückliches Verbot M.s, diese
Briefe zu rezipieren, in seiner Kirche bekannt war, d. h. daß er
sich in den „Antithesen“ oder sonstwo n i c h t
über sie geäußert hat. Das wird auch durch Tert.
bestätigt, der es sich gewiß nicht hätte entgehen
lassen, wenn er bei M. ein (verwerfendes) Urteil über die Briefe
gefunden hätte ². Hieraus läßt
—————
¹ Auch die Marcioniten, mit
denen es Chrysostomus zu tun gehabt hat, haben sich die Pastoralbriefe
(aber gewiß mit Korrekturen) gefallen lassen; s. Chrysost. zu II
Tim. 1, 18: „Die Marcioniten folgern aus den Worten: δῴη ὁ κύριος παρὰ
κυρίου, daß es zwei Herren gebe“.
² Er bemerkt aber zu ihnen beim Philemonbrief
lediglich dies (V, 21): „Soli huic epistolae brevitas sua profuit, ut
falsarias manus Marcionis evaderet [das ist natürlich eine
höchst subjektive und unrichtige Erklärung Tert.s ohne jeden
Wert]. miror tamen, cum ad unum hominem litteras factas receperit, quod
ad Timotheum duas et unam ad Titum de ecclesiastico statu compositas
recusaverit. adfectavit, opinor, etiam
171*
Beilage IIIE: Das Apostolikon
Marcions — Untersuchungen
sich
weiter folgern, daß die Briefe überhaupt nicht in M.s
Gesichtskreis getreten sind ¹; denn er hätte schwerlich
über sie in den Antithesen schweigen können, wenn er sie in
mehreren oder auch nur in e i n e r Sammlung der
Paulusbriefe gefunden hätte. Da indessen dieser Schluß schon
nicht mehr ganz sicher ist, mag man ihn ablehnen und sich lediglich mit
der Einsicht begnügen, daß die Pastoralbriefe bei M. gefehlt
haben.
Ganz anders urteilt Z a h n
². Er behauptet, Tert. habe von sich aus gar nicht auf den
Gedanken kommen können, die Briefe seien von M. wegen ihres
privaten Charakters ausgeschlossen worden; demnach müsse M. selbst
den Grundsatz ausgesprochen „und den Ausschluß der Briefe unter
anderem damit gerechtfertigt haben, daß nur, was Paulus
den G e m e i n d e n geschrieben habe, der Gemeinde
zur Erbauung zu dienen geeignet sei“. Tert.s Bemerkung „wäre eine
ebenso unerklärliche Albernheit, wenn er den bei M.
vorausgesetzten Grundsatz aus der Luft gegriffen hätte, wie sie
schlagend ist, wenn M. wirklich gegen die Aufnahme der Briefe unter
anderem ihren Charakter als Privatschreiben geltend gemacht
hätte“. Was aber den Philemonbrief betrifft, „so konnte M.
antworten, er sei allerdings ein Gemeindebrief, da er laut v. 2
zugleich an die im Hause Philemons sich versammelnde Gemeinde gerichtet
sei“ ...³ „Für bewiesen halte ich [lediglich auf Grund des
Vorstehenden], daß M. die Pastoralbriefe nicht nur gekannt,
sondern auch ihren Ausschluß von seiner Bibel zu rechtfertigen
für nötig gehalten hat; daß sie also in der kirchlichen
Bibel seiner Zeit enthalten waren. Weiter
—————
numerum epistolarum interpolare“ [das ist
natürlich ebenso eine Unterschiebung].
¹ Damit ist nicht gesagt, daß sie noch
nicht vorhanden waren, wie C o r s s e n a. a. O. S.
100, mit Recht bemerkt.
² Bd. I, S. 634 ff.
³ Doch besteht Z a h n nicht
auf dieser Begründung der Rezeption des Briefs durch M. Er gibt S.
637 noch eine andere: „Der Philemonbrief behandelte eine Frage von
hoher sittlicher Bedeutung für die alte Kirche, die Frage der
Stellung der christlichen Gesellschaft zur Sklaverei oder vielmehr der
Sklaven in der christlichen Gesellschaft(?). M. bewährte seinen
praktischen Sinn(?)‚ indem er ihn aufnahm“. Aber bleibt nicht trotz
dieser fragwürdigen Begründung bestehen, daß wer den
Philemonbrief aus solch einem Grunde, trotzdem er ein Privatschreiben
war, aufnahm, die Pastoralbriefe erst recht aufnehmen mußte?
172*
Beilage IIIE: Das Apostolikon
Marcions — Untersuchungen
ergibt
sich aber auch, daß M. nicht die paulinische Herkunft der
Pastoralbriefe beanstandet hat. Hätte er sie für unecht
gehalten, so hätte er auch diese seine Überzeugung und nicht
den feineren und viel anfechtbareren Grund für ihre
Ausschließung geltend gemacht, welchen wir beiläufig durch
Tert. erfahren.“
Dies alles hat Z a h n aus
dem e i n e n Satze herausgelesen: „Miror tamen, cum
ad unum hominem litteras factas receperit, quod ad Timotheum duas et
unam ad Titum de ecclesiastico statu compositas redusaverit“. Das ist
noch viel mehr, als was er bei dem Titel des Laodicenerbriefs aus den
beiden Worten „diligentissimus explorator“ gefolgert hat. Ich darf es
dem Leser überlassen, ob er sich durch die Beweisführung
überzeugt sieht, und bemerke meinerseits nur, daß das, was
Tert. gesagt hat, schlechthin das N ä c h s t l i e g
e n d e war, was man hier bemerken konnte. Die Privatschreiben
des Paulus im Kanon waren zu Tert.s Zeit und auch später noch ein
Problem, und wer da hörte, daß irgendwo die Pastoralbriefe
verworfen werden, der mußte sofort auf den Gedanken kommen, das
sei geschehen, weil sie nicht an Gemeinden gerichtet seien.
7.
M a r c i o n u n d d i e A p o s t
e l g e s c h i c h t e u n d d i e A p
o k a l y p s e J o h a n n i s. H a t M
a r c i o n s c h o n d a s k a t h
o l i s c h e A p o s t o l i k o n, b e s t e h e n
d a u s A k t., I P e t r.,
I u n d II J o h., J u d a s,
13 P a u l., A p o k. v o r g e f u n d e n
?
In dem Bericht Pseudotertullians über „Cerdo“ —
der Bericht (c. 6) gehört zu „Marcion“ — heißt es: „Apostoli
Pauli neque omnes neque totas epistolas sumit, Acta Apostolorum et
Apocalypsin quasi falsa reicit“. Diese Worte in einem sonst kurzen
Referat können schwerlich anders verstanden werden, als daß
sich bei M. Äußerungen über diese beiden Bücher,
bzw. ein a u s d r ü c k l i c h e s
Verwerfungsurteil, gefunden haben: denn warum nennt er nicht auch
Judas, I Petr., I Joh.? Sie brauchte M. nicht mehr ausdrücklich zu
verwerfen, nachdem er die Urapostel in Bausch und Bogen als falsche
Apostel bezeichnet hatte; aber über das „Offenbarungsbuch“, wenn
es in seine Hände gekommen war, mußte er sich
äußern, denn es machte den Anspruch, maßgebende
christliche Prophetie zu sein, und
173*
Beilage IIIE: Das Apostolikon
Marcions — Untersuchungen
die
Apostelgeschichte warf seine ganze dogmatisch-historische Konstruktion
um, wenn er sie nicht ausdrücklich ablehnte, falls er Kenntnis von
ihr genommen. Daß beides geschehen ist, bezeugt eben Hippolyt,
die Quelle Pseudotert.s ¹.
Von hier aus gewinnen aber auch einige Stellen bei
Tert. eine größere Bedeutung, die es an sich noch
zweifelhaft erscheinen lassen, ob Tert. die Verwerfung der beiden
Bücher bei M. nur folgert oder auf Grund von Äußerungen
M.s konstatiert. Von M.s Verhältnis zu Judas, I Petr., I Joh.
spricht er niemals — eben weil er direkte Äußerungen
über diese Briefe nicht fand —‚ aber in bezug auf die Apok.
schreibt er III, 14: „Nam et apostolus Ioannes in Apocalypsi ensem
describit ... Quodsi Ioannem agnitum non vis, habes communem magistrum
Paulum“. III, 24 setzt sich Tert. mit M. über die Verheißung
Christi und das 1000 jährige Reich auseinander; in diesem
Zusammenhang bringt er einen Ausspruch M.s: „Vester Christus pristinum
statum Iudaeis pollicetur ex restitutione terrae“. IV, 5 heißt
es: „Habemus et Ioannis alumnas ecclesias; nam etsi Apocalypsin eius
Marcion r e s p u a t“, etc. Ähnlich in bezug
auf die Apostelgeschichte, s. de praescr. 22: „Probantibus Actis
Apostolorum descensum spiritus sancti. quam scripturam qui non
recipiunt, nec spiritus sancti esse possunt“. Adv. Marc. V, 2: „Quodsi
et ex hoc congruunt Paulo Apostolorum Acta, cur ea r e s p
u a t i s iam apparet“. Auf Grund des positiven Zeugnisses
Hippolyts darf man diese Stellen wohl anführen: M. hat die Apok.
und die Akta als f a l s c h e, d. h. als
Bücher des Judengotts verworfen.
Folgt aber daraus, daß ihm schon das
katholische Apostolikon von 18 (19) Schriften vorgelegen hat? Durchaus
nicht; vielmehr ist es im höchsten Grade unwahrscheinlich,
daß ihm eine solche Sammlung oder überhaupt irgend eine
Sammlung dieser Art mit autoritativem Ansehen vorlag. Die Antithesen
haben sich, wie in der Darstellung gezeigt worden, eingehend über
Christus, die Urapostel und Paulus ausgesprochen. Hätte sich nun
M. bei der Polemik gegen die katholische Überlieferung bereits
einer kanonischen Schriftensammlung gegenüber gesehen (einem
Apostolikon), so hätte er ganz anders polemisieren müssen,
nämlich
—————
¹ Ich habe früher diese
Stelle übersehen, bzw. ihre Bedeutung nicht richtig geschätzt.
174*
Beilage IIIE: Das Apostolikon
Marcions — Untersuchungen
nicht
nur — wie er immer tut — gegen das AT, sondern auch gegen das NT der
Kirche. V o n e i n e m
NT d e r K i r c h e i s
t a b e r n i e m a l s d i
e R e d e: d a s i s t e n t
s c h e i d e n d ¹. Auch konnte er nicht so einfach
und ohne Begründung drei von den 13 Briefen des Paulus streichen,
wenn ihm eine Sammlung von 13 Briefen vorlag. Ferner, wir wissen,
daß die älteste kirchliche Reihenfolge der Paulusbriefe sehr
anders aussah als die Marcionitische, die ganz singulär geblieben
ist. Warum schuf er überhaupt diese Reihenfolge, wenn es eine
ältere der 13 Briefe bereits gab, statt sich mit der Voranstellung
des Galaterbriefs zu begnügen? Und so lassen sich noch viele
Fragen stellen, die alle zu dem Ergebnis führen, daß dem M.
kein katholisches Apostolikon vorlag, daß vielmehr sein
Apostolikon das früheste ist: Die Paulusbriefe liefen vermutlich
noch
für sich (vielleicht auch noch in kleineren Gruppen), Apok. und
Akt. als einzelne in den Gemeinden um, als er sein Apostolikon schuf.
Mit ihm hat er als erster in der Christenheit den Begriff eines
festbegrenzten Apostolikons verwirklicht.
8.
D a s M a r c i o n i t i s c h e E r s a t z b
u c h f ü r d i e
A p o s t e l g e s c h i c h t e. M a r c i o n i t i s c h
e P s a l m e n.
Der Polemiker gegen die mesopotamischen Marcioniten
um das J. 400, Maruta, Bischof von Maipherkat (s. Beil. VI),
bestätigt im Umriß die Marcionitische Bibel nach Umfang und
Art, fügt aber noch hinzu: „Das Buch der Πράξεις haben sie
vollständig
—————
¹ Es steht also bei M. in bezug
auf das NT wie bei Justin (Dial. c. Tryph.), nur war M. in einer
vorteilhaften Lage,
Justin in einer sehr unbequemen. Auch Justin kennt zwei „Bünde“,
aber nicht zwei Bundesurkunden, vielmehr besitzt nur der ältere
Bund
eine schriftliche Bundesurkunde. Wie viel leichter hätte es Justin
gehabt,
wenn er den Juden gegenüber auf eine schriftliche Urkunde des
zweiten Bundes
hätte verweisen können! Statt dessen muß er sich mit
der mühsamen Feststellung begnügen, daß die alte
schriftliche Bundesurkunde, richtig verstanden, auch die Urkunde des
neuen Bundes ist. Umgekehrt war es für M. sehr willkommen,
daß er noch kein kirchliches NT sich gegenüber sah und daher
das AT als „die“ schriftliche Urkunde der Kirche ansehen konnte.
Daß er das getan hat, ist offenbar; denn die kirchlichen
Evangelien und Briefe behandelt er nie als eine Einheit; also
betrachtete er sie als einzelne Stücke.
175*
Beilage IIIE: Das Apostolikon
Marcions — Untersuchungen
aus
der Mitte geräumt und statt seiner ein anderes Buch (der Πράξεις?)
eingeschoben. das sie Sākā = „Summa“ (der Araber bietet:
„Liber propositi finis“) nennen, so daß es sei gemäß
ihren Meinungen und Lehren.“ Auch nach diesen Worten liegt die Annahme
nahe, daß die Ausstoßung der Apostelgesch.
ausdrücklich begründet war; das Buch aber, welches sie an
ihrer Stelle hatten, können doch wohl nur die „Antithesen“ sein;
denn diese haben auch nach Tert. eine Auseinandersetzung mit den
Uraposteln enthalten, ja wahrscheinlich in ihrer Einleitung.
Darüber hinaus aber sind die Antithesen wirklich ein „Ersatz“
für die Apostelgeschichte; denn mit dieser begründete die
Kirche die Konkordanz zwischen dem Alten und dem Neuen Bund und
zwischen den Uraposteln und Paulus; mit den Antithesen aber begrundete
M. die Diskordanz zwischen diesen Größen. Nicht durchsichtig
— auch
ist die Überlieferung zwiespältig — ist der Titel, mit
welchem
die Antithesen hier erscheinen; man hat sich an den Syrer zu halten,
und es ist wohl kein wirklicher Buchtitel gemeint, sondern das Buch
soll seinem Inhalt und seiner Bedeutung nach als „Summa“ bezeichnet
werden. Das paßt auf die Antithesen sehr gut. Das kanonische
(bzw. semikanonische) Ansehen des Buches in der Marcionitischen Kirche
läßt sich auch sonst nachweisen. Daß es aber hier
ausdrücklich bezeugt ist, ist von Wichtigkeit.
Maruta bezeugt aber auch noch Marcionitische Hymnen
bzw. Psalmen: „Hymnen (Psalmen), die sie bei den Gebeten rezitieren,
haben sie sich andere als die Davids erdichtet“. Diese Mitteilung
trifft mit einer dunklen Stelle am Schluß des Muratorisehen
Fragments zusammen, wo es heißt: „Arsinoi autem seu Valentini
vel Mitiadis (? ich halte noch immer „Tatiani“ für die
wahrscheinlichste LA) nihil in totum recipimus, qui etiam novum
psalmorum librum Marcioni conscripserunt“. Nach dieser Stelle
wußte dieser Autor ebenso wie Maruta, daß die Marcioniten
nicht-davidische Psalmen — Maruta sagt ausdrücklich: in ihren
Gottesdiensten; aber das brauchte nicht erst gesagt zu werden — singen.
Diese Tatsache steht also für die Zeit um d. J. 400 und d. J. 200
fest; aber nach Maruta sind diese Psalmen Marcionitischen Ursprungs,
nach dem Fragment stammen sie von Valentin und anderen Gnostikern. Da
Marcion um 200 als der schlimmste Ketzer galt, so sollten Valentin und
die anderen durch die Ver-
176*
Beilage IIIE: Das Apostolikon
Marcions — Untersuchungen
bindung
mit M. diskreditiert werden. Augenscheinlich war eine Gefahr vorhanden
(die M. gegenüber nicht bestand), daß in den katholischen
Kirchen Werke von jenen gelesen wurden, und um diese Gefahr zu
beschwören, macht der Verf. des Fragments darauf aufmerksam,
daß sie dem Erzketzer nahestehen. Daß sie ein neues
Psalmbuch für „Marcion“, d. h. „ad haeresem Marcionis“ geschrieben
haben, ist freilich auf alle Fälle eine starke Übertreibung;
vielleicht aber ist irgend ein wirklicher Kern in der Mitteilung
enthalten. Uns muß die Tatsache, daß es in den Kirchen
Marcions nicht-davidische Psalmen gegeben hat, genügen.
—————
Letzte
Änderung
am 25. Januar 2018