ADOLF VON HARNACK

MARCION: DAS EVANGELIUM VOM FREMDEN GOTT
Beilage IIID, Seite 134*—149*


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134* Beilage IIID: Das Apostolikon Marcions


D. Der Laodicener- und der Alexandrinerbrief.

    Im vorigen Jahre, als ich den altbekannten gefälschten Laodicenerbrief in die Hand nahm, entdeckte ich, daß dieser Brief eine Marcionitische Fälschung sei und daher identisch mit jenem Laodicenerbrief, der im Muratorischen Fragment als Marcionitische Fälschung abgewiesen wird ¹. Die Abhandlung, in der ich den Nachweis hierfür erbracht habe (Sitzungsber. der Preuß. Akademie, 1. Nov. 1923), rücke ich hier mit geringen Änderungen ein. Über den Marcionitischen Alexandrinerbrief wissen wir noch immer schlechterdings nichts; denn das, was   Z a h n   beigebracht hat ², hat leider keine Aufklärung herbeigeführt und uns kein Fragment geboten. Hat es sich vielleicht um eine Fälschung zum Zweck der Propaganda in Ägypten gehandelt? Vorzustellen haben wir uns den Brief wahrscheinlich nach dem Muster des gefälschten Laod.-Briefes, d. h. als einen Cento aus echten Paulusbriefen; denn schwerlich werden es sich Marcioniten zugetraut haben, einen ganzen Paulusbrief aus eigenen Mitteln herzustellen.
    In zahllosen Vulgatahandschriften des Neuen Testaments und auch in sog. Itala-Handschriften ³, ferner in böhmischen,
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    ¹ Murat. Fragm. Z. 63 ff.: „Fertur etiani ad Laudicenses, alia ad Alexandrinos, Pauli nomine finctae ad haeresem Marcionis, et alia plura quae in catholicam ecclesiam recipi non potest; fel enim cum melle misceri non congruit“.
    ² Einl. i. d. N. T. Bd. 2³ S. 113. 121, Gesch. des Kanons I S. 277 ff., II S. 82 ff. 238. 586 ff.
    ³ „At all ages from the VI. to the XV. century we have examples of its occurrence among the Pauline Epistles and most frequently without any marks which imply doubt respecting its canonicity. These instances are more common in proportion to the number of extant Mss. in the earlier epoch than in the later. In one of the three or four extant authorities for


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englischen und deutschen Bibelhandschriften und -drucken des Mittelalters ¹. findet sich ein Brief des Paulus an die Laodicener (in wechselnder Stellung, in der Regel bei Koloss. 2), Ein griechisches oder orientalisches Exemplar ist bisher nicht nachgewiesen — ein arabisches, welches bekanntgeworden, ist jung und aus dem Lateinischen geflossen —, aber die alte griechische Kirche kannte den Brief auch, wie die ablehnenden Äußerungen antiochenischer und späterer Väter beweisen. Im Abendland haben erst die Renaissance, die Reformation und das Tridentinum diesem zähesten Eindringling in die Bibel ein Ende gemacht. Die ältesten Zeugen des Briefs sind der Cod. Fuldensis saec. VI und das sog. Speculum Augustini; aber gekannt (und verworfen) hat ihn schon Hieronymus, als paulinischen Brief gelesen und verteidigt Priscillian ³, und seine Aufnahme in Itala-Bibeln macht es gewiß, daß er spätestens dem 4. Jahrhundert angehören muß; er kann jedoch bedeutend älter sein.
    Alles, was man vor achtzig Jahren über den Brief und seine Geschichte ermitteln konnte. hat   A u g e r   in einer ausgezeichneten Monographie zusammengefaßt („Über den Laodicenerbrief“,
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the Old Latin Version of the Pauline Epistles it has a place. In one of the two most ancient copies of Jerome’s revised Vulgate it is found. Among the first class Mss. of this later Version its insertion is almost as common as its omission. This phenomenon moreover is not confined to any one country. Italy, Spain, France, Ireland, England, Germany, Switzerland — all the great nations of Latin Christendom — contribute examples of early Mss. in which this epistle has a place“   (L i g h t f o o t).
    ¹ Sowohl in tschechischen Bibelhandschriften als auch in gedruckten Bibeln findet sich der Brief in verschiedenen Rezensionen. Die deutsche Übersetzung stammt spätestens aus dem 14. Jahrhundert und ist in mehr als 14 deutschen Bibeldrucken (vor Luthers Bibel) aufgenommen. In englischen Bibeln stand der Brief vor   W y c l i f f s   und   P u r v e y s   Zeit; sie merzten ihn aus, aber der Brief erhielt sich doch, und zwar in zwei voneinander unabhängigen Übersetzungen und in vor der Mitte des 15. Jahrh. geschriebenen Manuskripten. Auch in einer Albingensischen Bibel (13. Jahrh.) ist der Brief enthalten.
    ² Anlaß zur Fälschung gab die Stelle Koloss. 4, 16:. „Wenn dieser mein Brief bei euch gelesen ist, so sorgt dafür, daß er auch in der Gemeinde der Laodicener gelesen werde   u n d   d a ß   a u c h   i h r   (m e i n e n)   a u s   L a o d i c e a   k o m m e n d e n   B r i e f   l e s t.“
    ³ Auch Gregor der Große hat ihn als echten Brief anerkannt.


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1843). Zahlreiche fördernde Bemühungen sind dann noch erfolgt ¹. Der Text, wie ihn   L i g h t f o o t   auf Grund zahlreicher Mss. rezensiert hat, wird durch Vergleichung neuer Handschriften schwerlich wesentliche Veränderungen erfahren. Alle bisher eingesehenen Handschriften gehen auf ein im 5. Verse verderbtes Exemplar zurück.
    Über die Unechtheit der Kompilation, die mit Galat, 1, 1 beginnt und scheinbar nichts anderes ist als ein etwas bereichertes Exzerpt aus dem Philipperbrief (bemerkenswert, daß der Plagiator diesen Brief gewählt hat und nicht Koloss.), ist kein Wort zu verlieren. Der heutige Stand der positiven Erkenntnis aber ist folgender: (1) Alle Gelehrten sind darüber einig, daß der Brief,   „g a n z   f a r b l o s“   ist und daß die Absicht des Verfassers daher nur die gewesen sein kann, den verlorenen Brief des Apostels Paulus (Koloss. 4, 16) mit den einfachsten Mitteln   u n d   o h n e   e i n e   b e s o n d e r e   T e n d e n z durch eine pure Fälschung herzustellen. (2) Einige von ihnen halten den Brief entschieden für ein lateinisches Original (so z. B.   W e s t c o t t),   andere für eine Übersetzung aus dem Griechischen (so z. B.   L i g h t f o o t   und   Z a h n).   (3) Da sich in dem Muratorischen Fragment (um d. J. 200) die Angabe findet: „Fertur etiam ad   L a u d e c e n s e s ... Pauli nomine fincta ad heresem Marcionis“ (s. o.), so identifizieren einige Gelehrte (z. B.   Z a h n)   unsern Brief mit dem hier abgelehnten, obgleich sie nichts Marcionitisches in dem Schreiben zu finden gestanden — sie meinen, der Verf. habe den Brief   u n b e s e h e n   u n d   l e i c h t f e r t i g   für Marcionitisch-häretisch erklärt, weil sich im Kanon Marcions ein Laodicenerbrief befand ² — andere dagegen lehnen die Identifizierung ab (z. B.   L i g h t f o o t   und ich selbst früher), weil das Schreiben nichts
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    ¹ Die gründlichste Untersuchung hat   L i g h t f o o t,   Epp. to the Coloss. et Philem., 1875, p. 340 ff., geliefert; s. ferner   W e s t c o t t,   Hist. of the Canon6, 1881;   Z a h n,   Gesch. des NTlichen Kanons II, 1890, S. 566 ff.;   v.  H a r n a c k,   Gesch. der altchrist. Literat. I (1893) S. 33 ff., II, 1 (1897) S. 702, und „Kleine Texte“, hrsg.   v.  L i e t z m a n n,   1912;   B e r g e r,   Hist. de la Vulgate, 1893;   J ü l i c h e r,   Einl. in d. N. T., 1906, vv. II., usw.
    ² Der aber mit dem Epheserbrief identisch war (Marcion hatte diesen Brief mit der Adresse „ad Laodicenos“ in seiner Bibel, s. o.).


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Marcionitisches enthielte und weil die Stelle Koloss. 4, 16 öfters zu Fälschungen habe Anlaß geben können ¹.
    Den Text des Briefs habe ich wesentlich nach der Rezension   L i g h t f o o t s   gedruckt ² eine griechische Rückübersetzung, die sich fast von selbst ergibt, da der Verf. des Briefs ganz und gar auf den Paulinischen Philipperbrief fußt, habe ich beigefügt.

A D   L A O D I C E N S E S

    ¹ Paulus apostolus non ab hominibus neque per hominem, sed per Iesum Christum, fratribus qui sunt Laodiciae: ² gratia vobis et pax a deo patre et domino Iesu Christo.
    ³ Gratias ago Christo per omnem orationem meam, quod permanentes estis in eo et perseverantes in operibus eius, promissum expectantes in diem iudicii,  neque destituant vos quorundam vaniloquia insinuantium, ut vos avertant a veritate evangelii quod a me praedicatur.  et nunc faciet deus ut qui sunt ex me ad profectum veritatis evangelii <venerint ad vos> ... <deo> [de] servientes et facientes benignitatem operum quae .... salutis, vitae aeternae.
    6 Et nunc palam sunt vincula mea quae patior in Christo, quibus laetor et gaudeo.  et hoc mihi est ad salutem perpetuam, quod ipsum factum <est> orationibus vestris et administrante spiritu sancto sive per vitam sive per mortem.  est enim mihi vere vita in Christo et mori gaudium. 9 et id ipsum in vobis faciet misericordia sua, ut eandem dilectionem habeatis et sitis unianimes,
    10 Ergo, dilectissimi, ut audistis praesentiam mei, ita retinete et facite in timore dei, et erit vobis vita in aeternum — ¹¹ est enim deus qui operatur in vos —‚ ¹² et facite sine retractu quaecunque facitis.
    ¹³ Et quod <reliquum> est, dilectissimi, gaudete in Christo et praecavete sordidos in lucro. ¹ omnes sint petitiones vestrae palam apud deum, et estote firmi in sensu Christi. ¹ et quae
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    ¹ Auch das wurde geltend gemacht, daß ein so geringes Produkt wie diese Kompilation schwerlich aus dem 2. Jahrhundert stammen könne.
    ² Angehängt sind ein Prolog zum Brief aus einer mittelalterlichen englischen Übersetzung und eine sich in mehreren Mss. findende Capitulatio.


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integra et vera et pudica et iusta et amabilia, facite. 16 et quae audistis et accepistis, in corde retinete, et erit vobis pax.
    [¹ Salutate omnes fratres in osculo sancto]. ¹ salutant vos sancti. 19 gratia domini Iesu cum spiritu vestro.
    20 Et facite legi Colosensibus et Colosensium vobis.

    Vers 4 destituat ... vaniloquentia: Speculum > die besseren Mss. 5 Die volle Ergänzung der beiden Lücken ist unsicher   (L i g h t f o o t   nimmt nur die erste an), natürlich ist „venerunt“ oder „venerint“ nach „evangelii“ ausgefallen, s. Phil. 1, 12: εἰς προκοπὴν τοῦ εὐαγγελίου ἐληλύθασιν, vor „[de] servientes“ hat m. E. „deo“ gestanden; aber es ist vielleicht noch mehr ausgefallen. — operamque   Z a h n.   8 vere vita Cod. Fuld. u. a. Mss., andere vivere vita oder vera vita;   L i g h t f o o t   vita. 9 id ipsum Konjektur einiger Mss. und   L i g h t f o o t s,   in ipsum Fuld. usw. — misericordiam suam Mss., berichtigt von   L i g h t f o o t.   10 praesentiam mei s. d. Capitulatio; praesentia mci (praesentiam, praesentiam ei, in praesentia mei, praesentiam mihi bzw. eius oder dei oder domini) Mss.; praesentia mei   L i g h t f o o t.   13 reliquum   L i g h t f o o t,   zur Not entbehrlich. 17 der Vers fehlt im Fuld. u. a. Mss. und stammt nicht aus Phil.,   L i g h t f o o t   und   Z a h n   streichen ihn; doch konnte er leicht vor v. 18 ausfallen. Non liquet.

P r o l o g   i n   e i n e r   e n g l i s c h e n   Ü b e r s e t z u n g,   ä l t e r   a l s   s a e c.   XV   m e d.   (s.   L i g h t f o o t,   l. c.   p. 363 f.) ¹.

    Laodicensis ben also Colocenses [sic,] as tweye townes and oo peple in maners. these ben of Asie, and among hem hadden be false apostlis and disceyede manye. therefore the postle bringith hem to mynde of his conversacion and trewe preching of the gospel, and excith hem to be stidfast in the trewe witt and love of Crist. and to be of oo wil. [But this pistil is not in comyn Latyn bookis, and therfor it was but late translatid into English tunge].

C a p i t u l a t i o   (n u r   i n   e i n e m   T e i l   d e r   H a n d s c h r i f t e n,   s.   L i g h t f o o t,   l. c.   p. 349. 350).

    Incipiunt capitula epistole ² ad Laodicenses: I Paulus apostolus pro Laodicensibus domino gratias refert et hortatur eos ne ³
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    ¹ Über die uralte Vorlage dieses Prologs s. später.
    ² Al.: in epistolam.
    ³ ut.


139* Beilage IIID: Das Apostolikon Marcions — Der Laodicener- und der Alexandrinerbrief

a seductoribus decipiantur. II De manifestis vinculis ¹ apostoli in quibus Iaetatur et gaudet. III Monet Laodicenses apostolus ut sicut sui audierunt praesentiam ² ita retineant et sine retractu faciant. IV Hortatur apostolus Laodicenses ut fide sint firmi et quae integra et vera et deo placita sunt faciant. et salutatio fratrum ³.

Π ρ ο ς   Λ α ο δ ι κ ε α ς.

    ¹ Παῦλος ἀπόστολος οὐκ ἀπ’ ἀνθρώπων οὐδὲ δι’ ἀνθρώπου, ἀλλὰ διὰ Ἰησοῦ Χριστοῦ, τοῖς ἀδελφοῖς τοῖς οὖσιν ἐν Λαοδικείᾳ˙ ² χάρις ὑμῖν καὶ εἰρήνη ἀπὸ θεοῦ πατρὸς καὶ κυρίου Ἰησοῦ Χριστοῦ.
    ³ Εὐχαριστῶ Χριστῷ ἐν πάσῃ δεήσει μου, ὅτι διαμένοντές ἐστε ἐν αὐτῷ καὶ προσκαρτεροῦντες τοῖς ἔργοις αὐτοῦ, τὴν ἐπαγγελίαν ἀπεκδεχόμενοι εἰς ἡμέραν κρίσεως,  Μηδὲ παραλογίσηται ὑμᾶς ἡ τινῶν ματαιολογία ἐπαγγελλομένων, ἵνα ὑμᾶς ἀποστρέψωσιν ἀπὸ τῆς ἀληθείας τοῦ εὐαγγελίου τοῦ εὐαγγελισθέντος ὑπ’ ἐμοῦ.  καὶ νῦν ποιήσει ὁ θεὸς ἵνα οἱ (ὄντες) ἐξ ἐμοῦ εἰς προκοπὴν τῆς ἀληθείας τοῦ εὐαγγελίου <ἐληλύθασιν πρὸς ὑμᾶς> .... <τῷ θεῷ> λατρεύοντες καὶ ποιοῦντες χρηστότητα ἔργων ... τῆς σωτηρίας, τῆς ζωῆς αἰωνίου.
    6 Καὶ νῦν φανεροί εἰσιν οἱ δεσμοί μου, οὓς ὑπομένω ἐν Χριστῷ, οἷς χαίρω καὶ ἀγαλλιῶμαι.  καὶ τοῦτό μοί ἐστιν εἰς σωτηρίαν ἀΐδιον, ὅτι τοῦτο ἀπέβη διὰ τῶν δεήσεων ὑμῶν καὶ ἐπιχορηγίας πνεύματος ἁγίου εἴτε διὰ ζωῆς εἴτε διὰ θανάτου.  ἔστιν γάρ μοι ἀληθῶς τὸ ζῆν ἐν Χριστῷ καὶ τὸ ἀποθανεῖν χαρά. 9 καὶ τὸ αὐτὸ ἐν ὑμῖν ποιήσει τῷ ἐλέει αὐτοῦ, ἵνα τὴν αὐτὴν ἀγάπην ἔχητε καὶ ἦτε σύνψυχοι.
    10 Ὥστε, ἀγαπητοί, καθὼς ἠκούσατε τὴν παρουσίαν μου, οὕτω κρατεῖτε καὶ πράσσετε ἐν φόβῳ θεοῦ, καὶ ἔσται ὑμῖν ζωὴ εἰς τὸν αἰῶνα — ¹¹ ἔστιν γὰρ ὁ θεὸς ὁ ἐνεργῶν ἐν ὑμῖν —, ¹² καὶ ποιεῖτε χωρὶς διαλογισμοῦ ὅ τι ἂν ποιῆτε.
    ¹³ Καὶ τὸ λοιπόν, ἀγαπητοί, χαίρετε ἐν Χριστῷ καὶ παραιτεῖσθε τοὺς αἰσχροκερδεῖς. ¹ πάντα τὰ αἰτήματα ὑμῶν γνωριζέσθω πρὸς τὸν θεόν, καὶ γίνεσθε ἑδραῖοι ἐν τῷ νοῒ τοῦ Χριστοῦ. ¹ ὅσα δὲ ὁλόκληρα καὶ ἀληθῆ καὶ σεμνὰ καὶ δίκαια καὶ προσφιλῆ, πράσσετε, 16 καὶ ἃ ἠκούσατε καὶ παρελάβετε, ἐν τῇ καρδίᾳ κρατεῖτε, καὶ ἔσται ὑμῖν ἡ εἰρήνη.
    [¹ Ἀσπάσασθε πάντας τοὺς ἀδελφοὺς ἐν φιλήματι ἁγίῳ], ¹ ἀσπάζονται ὑμᾶς οἱ ἅγιοι. 19 ἡ χάρις τοῦ κυρίου Ἰησοῦ Χριστοῦ μετὰ τοῦ
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    ¹ manifesta vinculat.
    ² praesentia.
    ³ + in osculo sancto.


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πνεύματος ὑμῶν. 20 καὶ ποιήσατε ἵνα τοῖς Κολασσαεῦσιν ἀναγνωσθῇ καὶ ἡ Κολασσαέων ὑμῖν.

    ¹ Gal. 1. 1. ² Phil. 1, 2. ³ Phil. 1, 3 (2, 30; 1, 10; 2, 16; Rom. 2. 7; Gal. 5, 5).  (Kol. 2, 4); (I Tim. 1. 6); (II Tim. 4, 4); (Gal. 2, 5. 14; Gal. 1, 11).  Phil. 1, 12 (Rom. 3, 12 ποιῶν χρηστότητα). 6 Phil. 1, 13. 18; (2, 17).  Phil. 1, 19. 20.  Phil. 1, 21. 9 Phil. 2, 2 (Tit. 3, 5). 10 Phil. 2, 12. ¹¹ Phil. 2, 13. ¹² Phil. 2, 14. ¹³ Phil. 3, 1 (I Tim. 3, 8; Tit. 1, 7). ¹ Phil. 4, 6 (I Kor. 15, 58; 2, 16). ¹ Phil. 4, 8 f. 16 Phil. 4, 9. ¹ (I Thess. 5, 26). ¹ Phil. 4, 22. 19 Phil. 4, 23. Gal. 6, 18. 20 Kol. 4, 16.

    Mit vollem Recht bezeichnet man diesen Brief,   a b s t r a k t   betrachtet, als inhaltslos und schwach, seinen Verfasser als dreisten Stümper, der es wagen durfte, ein solches Machwerk für einen Brief des Apostels auszugeben. Freilich, sein Wagnis ist ihm bei einem großen Leserkreise gelungen und hat sich weit über ein Jahrtausend hinaus die Anerkennung erhalten; aber das ändert nichts an der Einsicht, daß der Verf. mit den geringsten Mitteln gearbeitet hat. Ist doch das Schreiben, nach dem wörtlich aus Galat. 1,1 entnommenen Anfang,   e i n f a c h   e i n   A u s z u g   a u s   d e m   P h i l i p p e r b r i e f,   dem es auch in der Aufeinanderfolge der Verse   d u r c h w e g   folgt, dabei aber alles Konkrete im Brief ganz beiseite läßt. Das, was übrig bleibt, ist auch zum Teil paulinischen Briefen entnommen ¹; zieht man auch dieses noch ab, so bleibt   e i n   Z e h n t e l   als Eigentum des Verfassers übrig, und auch dieses Zehntel scheint charakterlos und farblos zu sein. Was sollte also dieser Cento? Hatte der Verfasser wirklich nur die Absicht, auf eine möglichst billige Weise die Lücke in der Überlieferung der Paulusbriefe zu stopfen, die durch Koloss. 4, 16 bezeichnet schien? So urteilten alle Kritiker bisher und mußten so urteilen; denn die abstrakte Betrachtung konnte zu keinem anderen Ergebnisse gelangen, und eine Tendenz bzw. eine konkrete Situation, die   d i e s e   Kompilation erklärte, schien unauffindbar.
    Aber mit   e i n e m   Schlage ändert sich die ganze Beurteilung des Schriftstücks, und es wird verständlich, sobald man erkannt hat, daß es   M a r c i o n i t i s c h e n   U r s p r u n g s   ist,
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    ¹ Augenscheinlich glaubte der Verfasser, naive Leser voraussetzend, seine Fälschung könne nicht aufgedeckt werden, wenn er sie fast durchweg aus den echten Paulusbriefen bestreite.

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was ja auch das Muratorische Fragment mit dürren Worten von einem falschen Laod.-Brief sagt. Daß ich das nicht schon früher bemerkt habe, liegt lediglich daran, daß ich leider den Inhalt des auch von mir für ein wertloses Machwerk gehaltenen Briefes nicht im Kopfe hatte und ihn nicht zur Hand nahm.
    Der Beweis für den Marcionitischen Ursprung kann unwiderleglich geführt werden:
    (1) Der „Apostolos“ Marcions beginnt mit dem Galaterbrief als der Grundlage seiner Lehre und deshalb mit den Worten: „Paulus apostolus non ab hominibus neque per hominem, sed per Iesum Christum“. Auch unser Brief beginnt mit diesen monumentalen, im Sinne Marcions antikatholischen Worten ¹.
    (2) Der Philipperbrief beginnt nach dem Gruß mit den Worten: „Gratias ago deo meo“ ²; unser Verfasser schreibt dafür „Christo“. Der „Modalismus“ Marcions ist bekannt. Seine Theologie ist immer zugleich Christologie, und in Christus sollten seine Anhänger leben; vgl. dazu in unserem Brief v. 3, permanentes estis in Christo et perseverantes in operibus Christi“ ³ und die verstärkenden Abwandlungen des Originaltextes in v. 6 („nunc palam sunt vincula mea quae patior in Christo“), v. 8 („est enim mihi vere vita in Christo“), v. 13 („gaudete in Christo“) , und v. 14 („estote firmi in   s e n s u   C h r i s t i“).
    (3) Der allein etwas Eigentümliches enthaltende Abschnitt v. 4 und 5 warnt vor Verführung durch die nichtige Predigt falscher Lehrer und stellt ihr zweimal die „veritas evangelii“ entgegen, und zwar   „q u o d   a   m e   p r a e d i c a t u r“.   „Veritas evangelii“ ist aber ein terminus technicus bei Marcion und tritt auch in den Marcionitischen Prologen dominierend hervor, und durch den Zusatz „quod a me praedicatur“ werden die anderen Evangelisten bzw. Apostel für falsch erklärt. Ganz im Sinne der Korrekturen des Meisters ist dann nach den Worten: τὰ κατ’ ἐμὲ εἰς
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    ¹ Nur dieser Vers ist aus Galat. übernommen (dort und hier ohne „et deum patrem“!); doch findet sich noch eine Reminiszenz an Gal. 6, 18 im 19. Vers.
    ² Nur die Variante τῷ κυρίῳ ἡμῶν findet sich, dagegen steht in keiner Handschrift Χριστῷ.
    ³ Die „opera Christi“ sind höchstwahrscheinlich als asketische gemeint.
     Alle Mss. bieten Phil. 3, 1 ἐν κυρίῳ.


142* Beilage IIID: Das Apostolikon Marcions — Der Laodicener- und der Alexandrinerbrief

προκοπὴν τοῦ εὐαγγελίου ἐλήλυθεν (Phil. 1, 12) der Satz gebildet: καὶ νῦν ποιήσει ὁ θεὸς ἵνα οἱ (ὄντες) ἐξ ἐμοῦ εἰς προκοπὴν τῆς ἀληθείας τοῦ εὐαγγελίου <ἐληλύθασιν πρὸς ὑμᾶς>, und damit ist ausgesprochen, daß Paulus in die gefährdete Gemeinde (die er nicht selbst kennt) seine Leute geschickt hat und von ihrem Wirken Erfolg erwartet gegenüber den Irrlehrern ¹.
    (4) Wieder ganz in der raffinierten Weise des Meisters ist v. 10 nach Phil. 2, 12 (καθὼς πάντοτε ὑπηκούσατε, μὴ ἐν τῇ παρουσίᾳ μουμόνον ἀλλὰ νῦν πολλῷ μᾶλλον ἐν τῇ ἀτουσίᾳ μου) vom Fälscher der Satz gebildet: καθὼς ἠκούσατε τὴν παρουσίαν μου, οὕτω κρατεῖτε κτλ., d. h. ein Doppeltes ist damit erreicht, erstlich ein Zeugnis dafür, daß Paulus der Gemeinde von Angesicht unbekannt ist, zweitens   d e r   h o h e   A u s d r u c k   „P a r u s i e“   f ü r   d a s   A u f t r e t e n   d e s   P a u l u s   (die ἀπουσία hat der Fälscher wohlweislich unterschlagen). Kann man geschickter in einer Vorlage aus einer Chamade eine Fanfare machen, freilich unter gründlicher Veränderung des Wortlauts ²?
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    ¹ Der virtuose Einfall „τὰ κατ’ ἐμέ“ durch οἱ (ὄντες) ἐξ ἐμοῦ zu ersetzen, somit das ἐληλύθασιν wörtlich zu verstehen und nun eine Aussage über die vom Apostel nach Laodicea abgesandten Schüler und ihre Tätigkeit dort zu gewinnen, ist des Scharfsinns Marcions würdig. Vielleicht ist er es wirklich selbst, der Phil. 1, 12 schon ähnlich korrigiert hat, und der Schüler hat die Fassung des Meisters weiter verändert; leider ist uns die Textfassung Marcions für diesen Vers nicht überliefert. Die Konjektur „venerint“ („venerunt“) ist in Wahrheit keine Konjektur, da es ja in der Vorlage (Phil. 1, 12) steht. Ob im griechischen Original der Indikativ gestanden haben kann, überlasse ich den Sprachgelehrten.
    ² Auch die Textveränderung („Wie ihr von meiner   E r s c h e i n u n g   u n d   A u f t r e t e n  [παρουσία] gehört habt, so haltet fest“) ist den genial-raffinierten Textveränderungen Marcions so ähnlich, daß man auch hier die Möglichkeit offen lassen muß, er selbst schon habe Phil. 2, 12 umzugestalten begonnen. Seine Textfassung auch dieser Stelle ist uns nicht überliefert. — In diesem Falle übrigens, wie in dem vorangehenden, hängt alles davon ab, daß man den Text an beiden Stellen richtig herstellt. Merkwürdigerweise ist m. W. keiner meiner Vorgänger auf die gebotenen Konjekturen „venerunt“ und „praesentiam“ (c. 1, 12; 2, 12) gekommen, die eigentlich gar keine Konjekturen sind; denn praesentiam mei ist graphisch von praesentia mei kaum zu unterscheiden, die Ersetzung von ὑπακούειν durch ἀκούειν sowie die Weglassung von ἀπουσία fordern παρουσίαν als Objekt (nicht παρουσίᾳ oder ἐν παρουσίᾳ), und das alte Argumentum zum Laodicenerbrief sagt ausdrücklich, daß der Apostel persön-


143* Beilage IIID: Das Apostolikon Marcions — Der Laodicener- und der Alexandrinerbrief

    (5) Marcion sprach dem A. T. und den katholischen Christen, die er bekämpfte, die Verheißung, ja die Kenntnis des   e w i g e n   L e b e n s   ab und bildete diesen Begriff zu einem Stichwort seiner Verkündigung und Kirche: in unserem Brief tritt „das ewige Leben“ in v. 5 und 10 unerwartet hervor (vgl. auch v. 7 den Zusatz „perpetua“ zu „salus“).
    Diese Beobachtungen entscheiden ¹: unser Brief ist eine Marcionitische Fälschung ², und da sie dem Verfasser des Muratorischen Fragments bekannt ist, eine Fälschung schon des 2. Jahrhunderts — nicht von Marcion selbst, denn dieser bot den Epheserbrief als Laodicenerbrief, sondern von einem Schüler aus   d e r   Gruppe von Marcioniten, die, der katholischen Über-
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lich nicht zu diesen Adressaten gekommen ist, sie also nur von seiner Parusie   g e h ö r t   haben (noch deutlicher die Capitulatio). Ἀκούειν τὴν παρουσίαν ist übrigens so gut griechisch, wie „audire praesentiam“ gut lateinisch ist. — Weil die Ausleger an diesen beiden Stellen den richtigen Text nicht erkannt haben — sie allein geben dem Briefe Farbe —‚ mußten Sie in dem Schriftstück eine farb- und inhaltslose Stilübung sehen.
    ¹ In ihnen ist so gut wie alles erschöpft, was der Brief Besonderes neben dem Philipperbrief enthält. Nur v. 13 die Warnung vor αἰσχροκερδεῖς (hängt damit etwa auch die Tilgung von κέρδος Phil. 1, 21 in v. 8 zusammen?) bleibt dunkel. Warfen die Marcioniten ihren katholischen Gegnern samt und sonders αἰσχροκερδία vor? Unmöglich ist’s nicht; mit diesem Vorwurf beehrten sich die christlichen Parteien oft gegenseitig (s. die gegen die Montanistischen Führer geschleuderten Vorwürfe), und speziell der römische Bischof Zephyrin wird von Hippolyt (Refut. IX, 7) als ἀνὴρ αἰσχροκερδής bezeichnet. Besteht hier ein geschichtlicher Zusammenhang? —- Für den Bibeltext Marcions gewinnt man aus dem Brief neue Stücke. Der Brief ist der älteste Zeuge für den   T e x t   des Philipperbriefs (neben Marcion selbst); er bestätigt aber durchweg seine Zuverlässigkeit.
    ² Der „Gerichtstag“ v. 3 darf nicht als Gegenargument geltend gemacht werden; Marcion hat das Gericht Röm. 2, 2 16; II Thess. 1, 9; I Kor. 5, 5; II Kor. 5, 10 stehen gelassen. Auf die ἔργα v. 3. und 5 als unpaulinisch und unmarcionitisch wird sich niemand mehr berufen wollen. — ein alter orthodoxer Lutheraner freilich machte sich einst die Unechtheit des Schreibens an diesen ἔργα klar! Als charakteristisch-marcionitisch darf übrigens auch die Hervorhebung Gottes als des das Gute Wirkenden angesehen werden, vgl. v. 5. 9. 11. Lehrreich ist hier besonders v. 9 im Vergleich mit seiner Vorlage Phil. 2, 2; hier heißt es: πληρώσατε τὴν χαράνμου, ἵνα τὸ αὐτὸ φρονῆτε, dort dagegen „faciet deus ut sitis unianimes“.


144* Beilage IIID: Das Apostolikon Marcions — Der Laodicener- und der Alexandrinerbrief

lieferung folgend, ihren Laodicenerbrief nun auch als Epheserbrief betitelten und infolge davon die Adresse „Ad Laodicenos“ frei hatten. Man hatte bisher keine Zeugnisse, daß die Umbildung schon im 2. Jahrhundert bei einem Teile der Marcioniten stattgefunden hat. Wir dürfen jetzt mit Bestimmtheit sagen: Die Fälschung stammt aus den Jahren 160—190 ¹. Daß sie sich Marcion selbst erlaubt hat, ist nach den Prinzipien, nach denen er seine Bibel angelegt hat, ausgeschlossen; aber der Schüler, der diese Fälschung auf dem Gewissen hat, hat sich innerhalb derselben nach der Methode gerichtet, nach welcher der Meister „Interpolationen“ ausgeschieden und dicta probantia für seine Lehre aus indifferenten Stellen durch kleine einschneidende Textveränderungen zu gestalten verstanden hat.
    Betrachten wir nun den Brief als ganzen: Jener Marcionit, der ihn gefälscht hat, hat augenscheinlich die Absicht gehabt, einen Paulusbrief auf Grund von Koloss. 4, 16 zu erfinden,   d e r   h e i m l i c h   M a r c i o n i t i s c h e   L e h r e n   z u m   A u s d r u c k   b r i n g e n   u n d   a u c h   b e i   d e n   k a t h o l i s c h e n   C h r i s t e n   A n e r k e n n u n g   f i n d e n   s o l l t e.   Deshalb verwendete er fast durchweg paulinische Sätze, die er dem Philipperbrief der Reihe nach entnahm — diesen Brief wählte er wahrscheinlich deshalb aus, weil man aus ihm am leichtesten als Grundlage der Fälschung eine   i n d i f f e r e n t e,   also Vertrauen erweckende Kompilation zusammenstellen konnte. Die spezifisch dogmatischen Sätze Marcions getraute er sich nicht in seiner Fälschung zum Ausdruck zu bringen ²: er fürchtete wohl, sich zu verraten. Daher begnügte er sich damit, an drei Stellen die eigentümliche Auffassung Marcions in bezug auf den Apostel Paulus einzuschmuggeln, in der Hoffnung, damit bereits etwas Wesentliches für die Marcionitische Propaganda geleistet zu haben: (1) Vers 1: Paulus ist ganz selbständiger Apostel, der nichts mit den Uraposteln zu tun hat. (2) Vers 3—5: Es gibt Irrlehrer in der Kirche zu Laodicea, d. h. sie hat ein falsches Evangelium erhalten. Irrlehrer sind die, welche nicht der „veritas evangelii“, die nur Paulus verkündigt hat, folgen. Paulus hat die nach Laodicea
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    ¹ Einige Jahre vor dem Muratorischen Fragment und schwerlich vor dem Tode Marcions.
    ² Doch s. was oben über „Christus“, die Wirksamkeit Gottes und „das ewige Leben“ bemerkt ist.


145* Beilage IIID: Das Apostolikon Marcions — Der Laodicener- und der Alexandrinerbrief

gekommenen Irrlehrer durch seine Schüler („qui sunt ex me“) bekämpft und hofft auf Erfolg ihrer Predigt. (3) Vers 10: Nachdem die Laodicener nun von der „Parusie“ des Apostels gehört haben, sollen sie sich an die Lehre halten, die Er vertritt; dann ist ihnen das ewige Leben gewiß ¹.
    Der Brief hat wirklich den vom Verfasser gewünschten Erfolg gehabt ², wenn auch nicht überall. Der Verfasser des Muratorischen Fragments, der sehr bald nach der Produktion der Fälschung geschrieben hat, hat sie durchschaut („ficta ad haeresem Marcionis“); aber er hat es doch für nötig geachtet, den Brief ausdrücklich abzuweisen. Aus seinen Worten geht deutlich hervor, daß er bereits in katholische Bibeln Eingang gewonnen hatte oder doch Eingang zu gewinnen drohte. Die Abweisung jenes einsichtigen Mannes hat aber leider nur einen partikularen Erfolg gehabt: der Brief drang doch in die lateinischen Bibeln ein und behauptete sich.
    Ist er ursprünglich lateinisch abgefaßt oder griechisch?   L i g h t f o o t   hat zahlreiche sprachliche Beobachtungen geltend gemacht, um ein griechisches Original zu beweisen, aber sie sind
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    ¹ Gemessen an dem Zweck, den der Verf. sich gesetzt hatte, und in Hinsicht auf den Erfolg, der ihm zuteil wurde, darf man das Schriftstück doch nicht als ungeschicktes Machwerk bezeichnen. Der Verf. kannte seine Leute, wußte, was er dem christlichen Publikum bieten durfte, und hat vorsichtig und umsichtig operiert. Was die moralische Seite betrifft, so darf man den Meister selbst nicht mit diesem Schüler belasten. Marcion war davon überzeugt, daß die Paulusbriefe von katholischen, d. h. in seinem Sinn judenchristlichen Interpolationen wimmeln, und hat es demgemäß unternommen, diese auszumerzen und den richtigen Text, so gut er es vermochte, wiederherzustellen; ganz selten nur hat er eine positive Konjektur gemacht, und Unfehlbarkeit für seine Kritik hat er nicht in Anspruch genommen. Dieser Schüler aber hat gefälscht, gefälscht wahrscheinlich im Einverständnis mit einer ganzen Gruppe seiner Glaubensgenossen! Eine Entschuldigung für dieses Verfahren kann ich von keiner Seite her finden. Nur insofern kann man vielleicht doch Marcion selbst hier „unschuldig-schuldig“ nennen, als die „tägliche Gewohnheit“, am Bibeltext zu ändern (s. das Zeugnis Tertullians), die sich durch sein Verfahren in seiner Kirche eingestellt hatte und einstellen mußte, allmählich zu einer schlimmen Leichtfertigkeit wurde, die zuletzt in Fälschungen überging.
    ² Das ist ein Zeichen höchster Kritiklosigkeit bei den Lesern angesichts der Tatsache, daß das Schreiben fast ganz und gar ein Plagiat (nach Philipp.) ist.


146* Beilage IIID: Das Apostolikon Marcions — Der Laodicener- und der Alexandrinerbrief

m. E. alle nicht durchschlagend und können es nicht sein, weil ja fast der ganze Brief Philipperbrief-Verse wiedergibt, die schon lateinisch übersetzt waren ¹, und weil vulgäres, gräzisierendes Latein („praesentia mei“ und ähnliches) nicht für eine Übersetzung entscheidet. Durchschlagend scheinen mir allein die Erwägungen zu sein, daß der Fälscher es in so früher Zeit nicht wagen konnte, einen lateinischen Brief vorzulegen ohne das dazugehörige (angebliche) Original, und daß die Verhandlungen über den Brief bei einigen griechischen Vätern eine griechische Fassung fordern. Der Brief wird wohl gleichzeitig griechisch und lateinisch produziert worden sein; die lateinische Fassung wird schon vom Muratorischen Fragment vorausgesetzt — das ich gegen die Meinung der meisten Kritiker für ursprünglich lateinisch und sich auf eine lateinische Bibel beziehend halte — und von den oben mitgeteilten und besprochenen   l a t e i n i s c h e n   „A r g u m e n t a“   z u   d e n   p a u l i n i s c h e n   B r i e f e n.
    Von dem Verhältnis unseres Briefs zu diesen lateinischen Argumenta ist noch zu handeln.
    Diese Prologe wurden von einem Marcioniten verfaßt, der den bei Marcion als Laodicenerbrief bezeichneten Epheserbrief mit der Großkirche und im Unterschied vom Meister als Epheserbrief betrachtete und bezeichnete (denn das Argumentum ist marcionitisch: „Ephesii sunt Asiani .   h i   a c c e p t o   v e r b o   v e r i t a t i s   p e r s t i t e r u n t   in fide [das ist das Marcionitische Kennzeichen] . hos conlaudat apostolus, scribens eis ab urbe Roma de carcere per Tychicum diaconum“).   E r   k a n n t e   a b e r   b e r e i t s   d e n   f a l s c h e n   L a o d i c e n e r b r i e f   u n d   h a t t e   i h n   i m   K a n o n;   denn aus dem Argumentum für den Kolosserbrief läßt sich das in den Vulgata-Mss. nicht findende Argumentum zum Laodicenerbrief rekonstruieren. Jenes lautet: „Colossenses   e t   h i   s i c u t   L a u d i c e n s e s   sunt Asiani,   e t   i p s i   p r a e v e n t i   erant a pseudoapostolis,   n e c   a d   h o s   a c c e s s i t   i p s e   a p o s t o l u s,   sed   e t   h o s   per epistulam recorrigit — audierant enim verbum ab Archippo qui et ministerium in eos accepit —‚ ergo apostolus iam ligatus scribit
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    ¹ Der Hinweis   L i g h t f o o t s   darauf, daß das Latein des Briefs sich nicht überall mit den bekannten lateinischen Fassungen des Briefs deckt, ist auch nicht durchschlagend, da wir den lateinisch übersetzten Philipperbrief der Marcioniten nur ganz unvollkommen kennen.

147* Beilage IIID: Das Apostolikon Marcions — Der Laodicener- und der Alexandrinerbrief

eis ab Epheso“. Der Brief, auf den sich dieses Argumentum zurückbezieht und der unmittelbar vorhergegangen sein muß, kann nicht der Epheserbrief sein, auf den die betreffenden Worte nicht passen, sondern eben nur unser gefälschter Laodicenerbrief,   a u f   d e n   d i e   C h a r a k t e r i s t i k   i n   d e r   T a t   p a ß t.   Das Argumentum muß daher in den Grundzügen so gelautet haben, wie es oben S. 129* gefaßt ist:   „L a u d i c e n i   s u n t   A s i a n i,    h i   p r a e v e n t i   e r a n t   a   f a l s i s   a p o s t o l i s .... a d   h o s   n o n   a c c e s s i t   i p s e   a p o s t o l u s .... h o s   p e r   e p i s t o l a m   r e c o r r i g i t“.   Der oben mitgeteilte Prolog zum Laod. aus einer mittelenglischen Handschrift bestätigt das; denn hier heißt es: „these ben of Asie, and among hem hadden be   f a l s e   a p o s t l i s“.   Dieser Ausdruck kommt im Brief selbst nicht vor (dort steht „vaniloquia quorundam insinuantium, ut vos avertant“ usw.). Von sich aus hätte der englische Verfasser bzw. Übersetzer des Prologs gar nicht auf „falsi apostoli“ kommen können, wenn er nicht das zu den anderen Argumenten gehörige Laod.-Argumentum gekannt hätte, in welchem, wie im Argumentum zu Koloss., die „pseudoapostoli“ bzw. „falsi apostoli“ gestanden haben ¹.
    Also gehören der falsche Laodicenerbrief und die Marcionitischen Argumenta zusammen. Aber man kann noch mehr sagen:   E b e n   d a s,   w a s   d i e   A r g u m e n t a   m i t   m o n u m e n t a l e r   E i n s e i t i g k e i t   a l s   s a c h l i c h e n   I n h a l t   b e i   a l l e n   B r i e f e n   a l l e i n   h e r v o r h e b e n   (Paulus allein der wahre Apostel, die veritas evangelii, die Urgeschichte jeder Gemeinde in Hinsicht auf die Irrlehrer, d. h. die Urapostel, und Paulus),   d a s   h a t   a u c h   d e r   F ä l s c h e r   z u m   a l l e i n i g e n   I n h a l t   s e i n e r   F ä l s c h u n g   g e m a c h t;   alles übrige ist bei ihm Beiwerk. Damit treten aber diese Argumenta und der Laodicenerbrief in ein so enges Verhältnis, daß die Annahme sich aufdrängt: sie gehören auch zeitlich zusammen   u n d   s i n d   a u s   d e r s e l b e n   S c h m i e d e   (also nicht von M. selbst). Läßt sich für diese Annahme auch keine absolute Sicherheit gewinnen, so ist doch so viel gewiß, daß diese mit den Argumenten ausgestattete Marcionitische Sammlung der Paulus-
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    ¹ Man darf mit Wahrscheinlichkeit darauf rechnen, daß das alte Argumentum zu Laod. noch in einer Vulgata-Handschrift auftauchen wird.

148* Beilage IIID: Das Apostolikon Marcions — Der Laodicener- und der Alexandrinerbrief

briefe und der gefälschte Laodicenerbrief zusammen den katholischen Kirchen insinuiert worden sind, und da es für diesen Brief nach dem Zeugnis des Muratorischen Fragments feststeht, daß dies noch im 2. Jahrhundert geschehen ist, so wird auch die ganze Sammlung der Paulusbriefe damals bereits in einige Gemeinden der katholischen Kirche eingeschleppt worden sein — der Verfasser des Fragments wird doch nicht den Laodicenerbrief als isolierten vor sich gehabt (dann wäre er nicht so besorgt gewesen und hätte schwerlich ein Wort über ihn verloren), sondern ihn bereits in einer Sammlung gelesen haben; welche Sammlung aber könnte das anders sein als eben diejenige, die wir aus den Argumenten kennen? ¹
    Die Entdeckung   d e   B r u y n e s   und   C o r s s e n s   hat uns gelehrt, daß die gewöhnlichen Argumenta der Paulusbriefe der Vulgata Marcionitisch sind — hier hatte das Marcionitische Propaganda-Unternehmen einen fast vollständigen Erfolg. Jetzt lernen wir, daß der Laodicenerbrief der Vulgata eine Marcionitische Fälschung ist, die zum Glück nur einen halben Erfolg in der Kirche erzielt hat, aber doch einen halben!

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    Weder Tertullian, noch Cyprian, noch Augustin (wohl aber Gregor der Große), noch die abendländischen Synoden, auf denen der Bibelkanon in der Zeit um 400 festgestellt worden ist, haben den Laodicenerbrief anerkannt; er wurde mit verächtlichem Schweigen von ihnen behandelt und von allen namhaften lateinischen Vätern vor Gregor. Der Verfasser des Muratorischen Fragments hat die damals erst jüngst ans Licht getretene Fälschung sofort als solche erkannt und als Marcionitisch bezeichnet, Hieronymus, den Mund voll nehmend, hat sogar von dem Brief gesagt: „ab omnibus exploditur“ — dennoch hat er sich in weitesten
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    ¹ Die „Argumenta“ und der Laod.-Brief haben denselben ältesten Zeugen, den Cod. Fuldensis. — Die Blutsverwandtschaft zwischen den „Argumenta“ und dem gefälschten Brief folgt außer aus den angegebenen Hauptstichworten auch aus der Parallele zwischen dem Argum. zu I Kor. und Laod., dort „philosophiae verbosa eloquentia“, hier (v. 4) „quorundam vaniloquia insinuantium“, dort „subvertere“, hier (l. c.) „avertere“. Ob die Rezeption der Pastoralbriefe seitens eines Teils der Marcioniten mit der Fälschung des Laod.-Briefs zusammenfällt oder später anzusetzen ist, ist nicht sicher zu ermitteln.

149* Beilage IIID: Das Apostolikon Marcions — Der Laodicener- und der Alexandrinerbrief

Kreisen im Abendland durchgesetzt. Das erklärt sich nur, wenn er   g l e i c h   a n f a n g s   in einige Gemeinden der lateinischen katholischen Kirche gekommen ist, d. h. wenn sie damals schon die bisher noch wenig verbreitete Sammlung von Paulusbriefen zuerst von den Marcioniten erhielten (waren diese etwa sogar so verschlagen, daß sie auch unverfälschte Paulusbriefe mit ihren Argumenta und dem falschen Laodicenerbrief versahen?). Ein fait accompli war geschaffen, das sich hier und dort stärker erwies als alle kritischen Gegenversuche. Im Mittelalter war man vollends kritiklos, und selbst ein so bedeutender und verständiger Gelehrter wie Johannes von Salisb. nahm an der Fälschung keinen Anstoß, der erst Erasmus den Todesstoß versetzt hat ¹.
    Im Laod.-Brief begrüßen wir das einzige   v o l l s t ä n d i g e   Schriftwerk, das uns aus der Marcionitischen Kirche ältester Zeit erhalten ist. Wir können es nur schmerzlich bedauern, daß das Schicksal uns nichts Besseres aus ihr beschert hat als diese unverschämte Kompilation. Auch hier hat der unglückliche Stifter dieser Reformkirche Unglück gehabt.   S e i n e   Bibelkritik ist nicht nach diesem Brief zu beurteilen, vielmehr aufs schwerste durch sie verfälscht.
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    ¹ Er bemerkt (zu Koloss. 4, 16): „Nihil habet Pauli praeter voculas aliquot ex caeteris eius epistolis mendicatas ... Non est cuiusvis hominis Paulinum pectus effingere. Tonat, fulgurat, meras flammas loquitur Paulus. At haec, praeterquam quod brevissima est, quam friget, quam iacet! ... Quanquam, quid attinet argumentari? Legat qui volet epistolam ... Nullum argumentum efficacius persuaserit eam non esse Pauli quem ipsa epistola.“





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Letzte Änderung am 10. Januar 2018