ADOLF VON HARNACK
MARCION: DAS
EVANGELIUM VOM FREMDEN GOTT
Beilage IIID, Seite 134*—149*
134*
Beilage IIID: Das Apostolikon
Marcions
D.
Der Laodicener- und der Alexandrinerbrief.
Im vorigen Jahre, als ich den altbekannten
gefälschten Laodicenerbrief in die Hand nahm, entdeckte ich,
daß dieser Brief eine Marcionitische Fälschung sei und daher
identisch mit jenem Laodicenerbrief, der im Muratorischen Fragment als
Marcionitische Fälschung abgewiesen wird ¹. Die Abhandlung,
in der
ich den Nachweis hierfür erbracht habe (Sitzungsber. der
Preuß. Akademie, 1. Nov. 1923), rücke ich hier mit geringen
Änderungen ein. Über den Marcionitischen Alexandrinerbrief
wissen
wir noch immer schlechterdings nichts; denn das, was Z a h
n beigebracht
hat ², hat leider keine Aufklärung herbeigeführt und uns
kein
Fragment geboten. Hat es sich vielleicht um eine Fälschung zum
Zweck der Propaganda in Ägypten gehandelt? Vorzustellen haben wir
uns den Brief wahrscheinlich nach dem Muster des gefälschten
Laod.-Briefes, d. h. als einen Cento aus echten Paulusbriefen; denn
schwerlich werden es sich Marcioniten zugetraut haben, einen ganzen
Paulusbrief aus eigenen Mitteln herzustellen.
In zahllosen Vulgatahandschriften des Neuen
Testaments und auch in sog. Itala-Handschriften ³, ferner in
böhmischen,
—————
¹ Murat. Fragm. Z. 63 ff.:
„Fertur etiani ad
Laudicenses, alia ad Alexandrinos, Pauli nomine finctae ad haeresem
Marcionis, et alia plura quae in catholicam ecclesiam recipi non
potest; fel enim cum melle misceri non congruit“.
² Einl. i. d. N. T. Bd. 2³ S. 113. 121,
Gesch. des
Kanons I S. 277 ff., II S. 82 ff. 238. 586 ff.
³ „At all ages from the VI. to the XV. century
we
have examples of its occurrence among the Pauline Epistles and most
frequently without any marks which imply doubt respecting its
canonicity. These instances are more common in proportion to the number
of extant Mss. in the earlier epoch than in the later. In one of the
three or four extant authorities for
135*
Beilage IIID: Das Apostolikon
Marcions — Der Laodicener- und der Alexandrinerbrief
englischen
und deutschen Bibelhandschriften und -drucken des
Mittelalters ¹. findet sich ein Brief des Paulus an die Laodicener
(in
wechselnder Stellung, in der Regel bei Koloss. 2), Ein griechisches
oder orientalisches Exemplar ist bisher nicht nachgewiesen — ein
arabisches, welches bekanntgeworden, ist jung und aus dem Lateinischen
geflossen —, aber die alte griechische Kirche kannte den Brief auch,
wie
die ablehnenden Äußerungen antiochenischer und späterer
Väter beweisen. Im Abendland haben erst die Renaissance, die
Reformation und das Tridentinum diesem zähesten Eindringling in
die Bibel ein Ende gemacht. Die ältesten Zeugen des Briefs sind
der Cod. Fuldensis saec. VI und das sog. Speculum Augustini; aber
gekannt (und verworfen) hat ihn schon Hieronymus, als paulinischen
Brief gelesen und verteidigt Priscillian ³, und seine Aufnahme in
Itala-Bibeln macht es gewiß, daß er spätestens dem 4.
Jahrhundert angehören muß; er kann
jedoch bedeutend älter sein.
Alles, was man vor achtzig Jahren über den
Brief und seine Geschichte ermitteln konnte. hat A u g e r
in einer
ausgezeichneten Monographie zusammengefaßt („Über den
Laodicenerbrief“,
—————
the Old Latin Version of the Pauline Epistles it has a
place. In one of
the two most ancient copies of Jerome’s revised Vulgate it is found.
Among the first class Mss. of this later Version its insertion is
almost as common as its omission. This phenomenon moreover is not
confined to any one country. Italy, Spain, France, Ireland, England,
Germany, Switzerland — all the great nations of Latin Christendom —
contribute examples of early Mss. in which this epistle has a
place“ (L
i g h t f o o t).
¹ Sowohl in tschechischen Bibelhandschriften
als
auch in gedruckten Bibeln findet sich der Brief in verschiedenen
Rezensionen. Die deutsche Übersetzung stammt spätestens aus
dem
14. Jahrhundert und ist in mehr als 14 deutschen Bibeldrucken (vor
Luthers Bibel) aufgenommen. In englischen Bibeln stand der Brief
vor W
y c l i f f s und P u r v e y s Zeit; sie
merzten ihn aus, aber der Brief
erhielt sich doch, und zwar in zwei voneinander unabhängigen
Übersetzungen und in vor der Mitte des 15. Jahrh. geschriebenen
Manuskripten. Auch in einer Albingensischen Bibel (13. Jahrh.) ist der
Brief enthalten.
² Anlaß zur Fälschung gab die Stelle
Koloss. 4, 16:. „Wenn dieser mein Brief bei euch gelesen ist, so sorgt
dafür, daß er auch in der Gemeinde der Laodicener gelesen
werde u n d d a ß a u c h i
h r (m e i n e n) a u s L a o d i c e
a
k o m m e n d e n B r i e f l e s t.“
³ Auch Gregor der Große hat ihn als
echten
Brief anerkannt.
136*
Beilage IIID: Das Apostolikon
Marcions — Der Laodicener- und der Alexandrinerbrief
1843).
Zahlreiche fördernde Bemühungen sind dann noch erfolgt
¹. Der Text, wie ihn L i g h t f o o t auf
Grund zahlreicher Mss. rezensiert hat, wird durch Vergleichung neuer
Handschriften schwerlich wesentliche Veränderungen erfahren. Alle
bisher eingesehenen Handschriften gehen auf ein im 5. Verse verderbtes
Exemplar zurück.
Über die Unechtheit der Kompilation, die mit
Galat, 1, 1 beginnt und scheinbar nichts anderes ist als ein etwas
bereichertes Exzerpt aus dem Philipperbrief (bemerkenswert, daß
der Plagiator diesen Brief gewählt hat und nicht Koloss.), ist
kein Wort zu verlieren. Der heutige Stand der positiven Erkenntnis aber
ist folgender: (1) Alle Gelehrten sind darüber einig, daß
der Brief, „g a n z f a r b l o s“ ist und
daß die Absicht des Verfassers daher nur die gewesen sein kann,
den verlorenen Brief des Apostels Paulus (Koloss. 4, 16) mit den
einfachsten Mitteln u n d o h n e e i n e
b e s o n d e r e T e n d e n z durch eine pure
Fälschung herzustellen. (2) Einige von ihnen halten den Brief
entschieden für ein lateinisches Original (so z. B. W
e s t c o t t), andere für eine Übersetzung aus dem
Griechischen (so z. B. L i g h t f o o t
und Z a h n). (3) Da sich in dem Muratorischen
Fragment (um d. J. 200) die Angabe findet: „Fertur etiam ad
L a u d e c e n s e s ... Pauli nomine fincta ad heresem Marcionis“ (s.
o.), so identifizieren einige Gelehrte (z. B. Z a h n)
unsern Brief mit dem hier abgelehnten, obgleich sie nichts
Marcionitisches in dem Schreiben zu finden gestanden — sie meinen, der
Verf. habe den Brief u n b e s e h e n u n
d l e i c h t f e r t i g für
Marcionitisch-häretisch erklärt, weil sich im Kanon Marcions
ein Laodicenerbrief befand ² — andere dagegen lehnen die
Identifizierung ab (z. B. L i g h t f o o t und ich
selbst früher), weil das Schreiben nichts
—————
¹ Die gründlichste
Untersuchung hat L i g h t f o o t, Epp. to the
Coloss. et Philem., 1875, p. 340 ff., geliefert; s. ferner
W e s t c o t t, Hist. of the Canon6,
1881; Z a h n, Gesch. des NTlichen Kanons II, 1890,
S. 566 ff.; v. H a r n a c k, Gesch. der
altchrist. Literat. I (1893) S. 33 ff., II, 1 (1897) S. 702, und
„Kleine Texte“, hrsg. v. L i e t z m a n n,
1912; B e r g e r, Hist. de la Vulgate,
1893; J ü l i c h e r, Einl. in d. N. T., 1906,
vv. II., usw.
² Der aber mit dem Epheserbrief identisch war
(Marcion hatte diesen Brief mit der Adresse „ad Laodicenos“ in seiner
Bibel, s. o.).
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Beilage IIID: Das Apostolikon
Marcions — Der Laodicener- und der Alexandrinerbrief
Marcionitisches
enthielte und weil die Stelle Koloss. 4, 16 öfters zu
Fälschungen habe Anlaß geben können ¹.
Den Text des Briefs habe ich wesentlich nach der
Rezension L i g h t f o o t s gedruckt ² eine
griechische Rückübersetzung, die sich fast von selbst ergibt,
da der Verf. des Briefs ganz und gar auf den Paulinischen
Philipperbrief fußt, habe ich beigefügt.
A
D L A O D I C E N S E S
¹ Paulus apostolus non ab hominibus neque per
hominem, sed per Iesum Christum, fratribus qui sunt Laodiciae: ²
gratia vobis et pax a deo patre et domino Iesu Christo.
³ Gratias ago Christo per omnem orationem meam,
quod permanentes estis in eo et perseverantes in operibus eius,
promissum expectantes in diem iudicii, neque destituant vos quorundam
vaniloquia insinuantium, ut vos avertant a veritate evangelii quod a me
praedicatur. et nunc faciet deus ut qui sunt ex me ad profectum
veritatis evangelii <venerint ad vos> ... <deo> [de]
servientes et facientes benignitatem operum quae .... salutis, vitae
aeternae.
6 Et nunc palam
sunt vincula mea quae patior in Christo, quibus laetor et gaudeo. et
hoc mihi est ad salutem perpetuam, quod ipsum factum <est>
orationibus vestris et administrante spiritu sancto sive per vitam sive
per mortem. est enim mihi vere vita in Christo et mori gaudium. 9 et id ipsum in vobis faciet misericordia
sua, ut eandem dilectionem habeatis et sitis unianimes,
10 Ergo,
dilectissimi, ut audistis praesentiam mei, ita retinete et facite in
timore dei, et erit vobis vita in aeternum — ¹¹ est enim deus
qui operatur in vos —‚ ¹² et facite sine retractu quaecunque
facitis.
¹³ Et quod <reliquum> est,
dilectissimi, gaudete in Christo et praecavete sordidos in lucro.
¹ omnes sint petitiones vestrae palam apud deum, et estote firmi
in sensu Christi. ¹ et quae
—————
¹ Auch das wurde geltend
gemacht, daß ein so geringes Produkt wie diese Kompilation
schwerlich aus dem 2. Jahrhundert stammen könne.
² Angehängt sind ein Prolog zum Brief aus
einer mittelalterlichen englischen Übersetzung und eine sich in
mehreren Mss. findende Capitulatio.
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Beilage IIID: Das Apostolikon
Marcions — Der Laodicener- und der Alexandrinerbrief
integra
et vera et pudica et iusta et amabilia, facite. 16
et quae audistis et accepistis, in corde retinete, et erit vobis pax.
[¹ Salutate omnes fratres in osculo sancto].
¹ salutant vos sancti. 19
gratia domini Iesu cum spiritu vestro.
20 Et facite legi
Colosensibus et Colosensium vobis.
Vers 4 destituat ... vaniloquentia:
Speculum > die besseren Mss. 5 Die volle Ergänzung der beiden
Lücken ist unsicher (L i g h t f o o t
nimmt nur die erste an), natürlich ist „venerunt“ oder „venerint“
nach „evangelii“ ausgefallen, s. Phil. 1, 12: εἰς προκοπὴν τοῦ
εὐαγγελίου ἐληλύθασιν, vor „[de] servientes“ hat m. E. „deo“ gestanden;
aber es ist vielleicht noch mehr ausgefallen. — operamque Z
a h n. 8 vere vita Cod. Fuld. u. a. Mss., andere vivere vita
oder vera vita; L i g h t f o o t vita. 9 id ipsum
Konjektur einiger Mss. und L i g h t f o o t s, in
ipsum Fuld. usw. — misericordiam suam Mss., berichtigt von
L i g h t f o o t. 10 praesentiam mei s. d. Capitulatio;
praesentia mci (praesentiam, praesentiam ei, in praesentia mei,
praesentiam mihi bzw. eius oder dei oder domini) Mss.; praesentia
mei L i g h t f o o t. 13 reliquum L i g
h t f o o t, zur Not entbehrlich. 17 der Vers fehlt im Fuld. u.
a. Mss. und stammt nicht aus Phil., L i g h t f o o t
und Z a h n streichen ihn; doch konnte er
leicht vor v. 18 ausfallen. Non liquet.
P r o
l o g i n e i n e r e n g l i s c h
e n Ü b e r s e t z u n g, ä l t e
r a l s s a e c. XV m e d.
(s. L i g h t f o o t, l. c. p. 363
f.) ¹.
Laodicensis ben also Colocenses [sic,] as tweye
townes and oo peple in maners. these ben of Asie, and among hem hadden
be false apostlis and disceyede manye. therefore the postle bringith
hem to mynde of his conversacion and trewe preching of the gospel, and
excith hem to be stidfast in the trewe witt and love of Crist. and to
be of oo wil. [But this pistil is not in comyn Latyn bookis, and
therfor it was but late translatid into English tunge].
C a p
i t u l a t i o (n u r i n e i n e
m T e i l d e r H a n d s c h r i f
t e n, s. L i g h t f o o t, l. c. p.
349. 350).
Incipiunt capitula epistole ² ad Laodicenses: I
Paulus apostolus pro Laodicensibus domino gratias refert et hortatur
eos ne ³
—————
¹ Über die uralte Vorlage
dieses Prologs s. später.
² Al.: in epistolam.
³ ut.
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Beilage IIID: Das Apostolikon
Marcions — Der Laodicener- und der Alexandrinerbrief
a
seductoribus decipiantur. II De manifestis vinculis ¹ apostoli in
quibus Iaetatur et gaudet. III Monet Laodicenses apostolus ut sicut sui
audierunt praesentiam ² ita retineant et sine retractu faciant. IV
Hortatur apostolus Laodicenses ut fide sint firmi et quae integra et
vera et deo placita sunt faciant. et salutatio fratrum ³.
Π ρ ο
ς Λ α ο δ ι κ ε α ς.
¹ Παῦλος ἀπόστολος οὐκ ἀπ’ ἀνθρώπων οὐδὲ δι’
ἀνθρώπου, ἀλλὰ διὰ Ἰησοῦ Χριστοῦ, τοῖς ἀδελφοῖς τοῖς οὖσιν ἐν
Λαοδικείᾳ˙ ² χάρις ὑμῖν καὶ εἰρήνη ἀπὸ θεοῦ πατρὸς καὶ κυρίου
Ἰησοῦ Χριστοῦ.
³ Εὐχαριστῶ Χριστῷ ἐν πάσῃ δεήσει μου, ὅτι
διαμένοντές ἐστε ἐν αὐτῷ καὶ προσκαρτεροῦντες τοῖς ἔργοις αὐτοῦ, τὴν
ἐπαγγελίαν ἀπεκδεχόμενοι εἰς ἡμέραν κρίσεως, Μηδὲ παραλογίσηται ὑμᾶς
ἡ τινῶν ματαιολογία ἐπαγγελλομένων, ἵνα ὑμᾶς ἀποστρέψωσιν ἀπὸ τῆς
ἀληθείας τοῦ εὐαγγελίου τοῦ εὐαγγελισθέντος ὑπ’ ἐμοῦ. καὶ νῦν ποιήσει
ὁ θεὸς ἵνα οἱ (ὄντες) ἐξ ἐμοῦ εἰς προκοπὴν τῆς ἀληθείας τοῦ εὐαγγελίου
<ἐληλύθασιν πρὸς ὑμᾶς> .... <τῷ θεῷ> λατρεύοντες καὶ
ποιοῦντες χρηστότητα ἔργων ... τῆς σωτηρίας, τῆς ζωῆς αἰωνίου.
6 Καὶ νῦν φανεροί
εἰσιν οἱ δεσμοί μου, οὓς ὑπομένω ἐν Χριστῷ, οἷς χαίρω καὶ ἀγαλλιῶμαι.
καὶ τοῦτό μοί ἐστιν εἰς σωτηρίαν ἀΐδιον, ὅτι τοῦτο ἀπέβη διὰ τῶν
δεήσεων ὑμῶν καὶ ἐπιχορηγίας πνεύματος ἁγίου εἴτε διὰ ζωῆς εἴτε διὰ
θανάτου. ἔστιν γάρ μοι ἀληθῶς τὸ ζῆν ἐν Χριστῷ καὶ τὸ ἀποθανεῖν χαρά.
9 καὶ τὸ αὐτὸ ἐν ὑμῖν ποιήσει τῷ
ἐλέει αὐτοῦ, ἵνα τὴν αὐτὴν ἀγάπην ἔχητε καὶ ἦτε σύνψυχοι.
10 Ὥστε,
ἀγαπητοί, καθὼς ἠκούσατε τὴν παρουσίαν μου, οὕτω κρατεῖτε καὶ πράσσετε
ἐν φόβῳ θεοῦ, καὶ ἔσται ὑμῖν ζωὴ εἰς τὸν αἰῶνα — ¹¹ ἔστιν γὰρ
ὁ θεὸς ὁ ἐνεργῶν ἐν ὑμῖν —, ¹² καὶ ποιεῖτε χωρὶς διαλογισμοῦ
ὅ τι ἂν ποιῆτε.
¹³ Καὶ τὸ λοιπόν, ἀγαπητοί, χαίρετε ἐν
Χριστῷ καὶ παραιτεῖσθε τοὺς αἰσχροκερδεῖς. ¹ πάντα τὰ αἰτήματα
ὑμῶν γνωριζέσθω πρὸς τὸν θεόν, καὶ γίνεσθε ἑδραῖοι ἐν τῷ νοῒ τοῦ
Χριστοῦ. ¹ ὅσα δὲ ὁλόκληρα καὶ ἀληθῆ καὶ σεμνὰ καὶ δίκαια καὶ
προσφιλῆ, πράσσετε, 16 καὶ ἃ
ἠκούσατε καὶ παρελάβετε, ἐν τῇ καρδίᾳ κρατεῖτε, καὶ ἔσται ὑμῖν ἡ εἰρήνη.
[¹ Ἀσπάσασθε πάντας τοὺς ἀδελφοὺς ἐν φιλήματι
ἁγίῳ], ¹ ἀσπάζονται ὑμᾶς οἱ ἅγιοι. 19
ἡ χάρις τοῦ κυρίου Ἰησοῦ Χριστοῦ μετὰ τοῦ
—————
¹ manifesta vinculat.
² praesentia.
³ + in osculo sancto.
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Beilage IIID: Das Apostolikon
Marcions — Der Laodicener- und der Alexandrinerbrief
πνεύματος
ὑμῶν. 20 καὶ ποιήσατε ἵνα τοῖς
Κολασσαεῦσιν ἀναγνωσθῇ καὶ ἡ Κολασσαέων ὑμῖν.
¹ Gal. 1. 1. ² Phil. 1, 2. ³ Phil. 1,
3 (2, 30; 1, 10; 2, 16; Rom. 2. 7; Gal. 5, 5). (Kol. 2, 4); (I Tim.
1. 6); (II Tim. 4, 4); (Gal. 2, 5. 14; Gal. 1, 11). Phil. 1, 12 (Rom.
3, 12 ποιῶν χρηστότητα). 6 Phil. 1,
13. 18; (2, 17). Phil. 1, 19. 20. Phil. 1, 21. 9
Phil. 2, 2 (Tit. 3, 5). 10 Phil. 2,
12. ¹¹ Phil. 2, 13. ¹² Phil. 2, 14. ¹³
Phil. 3, 1 (I Tim. 3, 8; Tit. 1, 7). ¹ Phil. 4, 6 (I Kor. 15, 58;
2, 16). ¹ Phil. 4, 8 f. 16
Phil. 4, 9. ¹ (I Thess. 5, 26). ¹ Phil. 4, 22. 19 Phil. 4, 23. Gal. 6, 18. 20 Kol. 4, 16.
Mit vollem Recht bezeichnet man diesen
Brief, a b s t r a k t betrachtet, als inhaltslos
und schwach, seinen Verfasser als dreisten Stümper, der es wagen
durfte, ein solches Machwerk für einen Brief des Apostels
auszugeben. Freilich, sein Wagnis ist ihm bei einem großen
Leserkreise gelungen und hat sich weit über ein Jahrtausend hinaus
die Anerkennung erhalten; aber das ändert nichts an der Einsicht,
daß der Verf. mit den geringsten Mitteln gearbeitet hat. Ist doch
das Schreiben, nach dem wörtlich aus Galat. 1,1 entnommenen
Anfang, e i n f a c h e i n A u s z
u g a u s d e m P h i l i p p e r b
r i e f, dem es auch in der
Aufeinanderfolge der Verse d u r c h w e g folgt,
dabei aber alles
Konkrete im Brief ganz beiseite läßt. Das, was übrig
bleibt, ist auch zum Teil paulinischen Briefen entnommen ¹; zieht
man
auch dieses noch ab, so bleibt e i n Z e h n t e l
als Eigentum des
Verfassers übrig, und auch dieses Zehntel scheint charakterlos und
farblos zu sein. Was sollte also dieser Cento? Hatte der Verfasser
wirklich nur die Absicht, auf eine möglichst billige Weise die
Lücke in der Überlieferung der Paulusbriefe zu stopfen, die
durch
Koloss. 4, 16 bezeichnet schien? So urteilten alle Kritiker bisher und
mußten so urteilen; denn die abstrakte Betrachtung konnte zu
keinem anderen Ergebnisse gelangen, und eine Tendenz bzw. eine konkrete
Situation, die d i e s e Kompilation erklärte,
schien unauffindbar.
Aber mit e i n e m Schlage
ändert sich die
ganze Beurteilung des Schriftstücks, und es wird
verständlich, sobald man erkannt hat, daß es M a
r c i o n i t i s c h e n
U r s p r u n g s ist,
—————
¹ Augenscheinlich glaubte der
Verfasser, naive Leser
voraussetzend, seine Fälschung könne nicht aufgedeckt werden,
wenn er sie fast durchweg aus den echten Paulusbriefen bestreite.
141*
Beilage IIID: Das Apostolikon
Marcions — Der Laodicener- und der Alexandrinerbrief
was
ja auch das Muratorische Fragment mit dürren Worten von einem
falschen Laod.-Brief sagt. Daß ich das nicht schon früher
bemerkt habe, liegt lediglich daran, daß ich leider den Inhalt
des auch von mir für ein wertloses Machwerk gehaltenen Briefes
nicht im Kopfe hatte und ihn nicht zur Hand nahm.
Der Beweis für den Marcionitischen Ursprung
kann unwiderleglich geführt werden:
(1) Der „Apostolos“ Marcions
beginnt mit dem Galaterbrief als der Grundlage seiner Lehre und deshalb
mit den Worten: „Paulus apostolus non ab hominibus neque per hominem,
sed per Iesum
Christum“. Auch unser Brief beginnt mit diesen monumentalen, im Sinne
Marcions antikatholischen Worten ¹.
(2) Der Philipperbrief beginnt
nach dem Gruß mit den Worten: „Gratias ago deo meo“ ²; unser
Verfasser schreibt dafür „Christo“.
Der „Modalismus“ Marcions ist bekannt. Seine Theologie ist immer
zugleich Christologie, und in Christus sollten seine Anhänger
leben; vgl. dazu in unserem Brief v. 3, permanentes estis in Christo et
perseverantes in operibus Christi“ ³ und die verstärkenden
Abwandlungen des Originaltextes in v. 6 („nunc palam sunt vincula mea
quae patior in Christo“), v. 8 („est enim mihi vere vita in Christo“),
v. 13 („gaudete in Christo“) , und v. 14 („estote firmi in
s e n s u
C h r i s t i“).
(3) Der allein etwas
Eigentümliches enthaltende Abschnitt v. 4 und 5 warnt vor
Verführung durch die nichtige Predigt falscher Lehrer und stellt
ihr zweimal die „veritas evangelii“ entgegen, und zwar „q u
o d a m e
p r a e d i c a t u r“. „Veritas evangelii“ ist aber ein
terminus
technicus bei Marcion und tritt auch in den Marcionitischen Prologen
dominierend hervor, und durch den Zusatz „quod a me praedicatur“ werden
die anderen Evangelisten bzw. Apostel für falsch erklärt.
Ganz im Sinne der Korrekturen des Meisters ist dann nach den Worten: τὰ
κατ’ ἐμὲ εἰς
—————
¹ Nur dieser Vers ist aus
Galat. übernommen
(dort und hier ohne „et deum patrem“!); doch findet sich noch eine
Reminiszenz an Gal. 6, 18 im 19. Vers.
² Nur die Variante τῷ κυρίῳ ἡμῶν findet sich,
dagegen steht in keiner Handschrift Χριστῷ.
³ Die „opera Christi“ sind
höchstwahrscheinlich als asketische gemeint.
Alle Mss. bieten Phil. 3, 1 ἐν κυρίῳ.
142*
Beilage IIID: Das Apostolikon
Marcions — Der Laodicener- und der Alexandrinerbrief
προκοπὴν
τοῦ εὐαγγελίου ἐλήλυθεν (Phil. 1, 12) der Satz gebildet: καὶ νῦν
ποιήσει ὁ θεὸς ἵνα οἱ (ὄντες) ἐξ ἐμοῦ εἰς προκοπὴν τῆς ἀληθείας τοῦ
εὐαγγελίου <ἐληλύθασιν πρὸς ὑμᾶς>, und damit ist ausgesprochen,
daß Paulus in die gefährdete Gemeinde (die er nicht selbst
kennt) seine Leute geschickt hat und von ihrem Wirken Erfolg erwartet
gegenüber den Irrlehrern ¹.
(4) Wieder ganz in der raffinierten Weise des
Meisters ist v. 10 nach Phil. 2, 12 (καθὼς πάντοτε ὑπηκούσατε, μὴ ἐν τῇ
παρουσίᾳ μουμόνον ἀλλὰ νῦν πολλῷ μᾶλλον ἐν τῇ ἀτουσίᾳ μου) vom
Fälscher der Satz gebildet: καθὼς ἠκούσατε τὴν παρουσίαν μου, οὕτω
κρατεῖτε κτλ., d. h. ein Doppeltes ist damit erreicht, erstlich ein
Zeugnis dafür, daß Paulus der Gemeinde von Angesicht
unbekannt ist, zweitens d e r h o h
e A u s d r u c k „P a r u s i e“ f
ü r d a s A u f t r e t e n d
e s P a u l u s (die ἀπουσία hat der Fälscher
wohlweislich unterschlagen). Kann man geschickter in einer Vorlage aus
einer Chamade eine Fanfare machen, freilich unter gründlicher
Veränderung des Wortlauts ²?
—————
¹ Der virtuose Einfall „τὰ κατ’
ἐμέ“ durch οἱ (ὄντες) ἐξ ἐμοῦ zu ersetzen, somit das ἐληλύθασιν
wörtlich zu verstehen und nun eine Aussage über die vom
Apostel nach Laodicea abgesandten Schüler und ihre Tätigkeit
dort zu gewinnen, ist des Scharfsinns Marcions würdig. Vielleicht
ist er es wirklich selbst, der Phil. 1, 12 schon ähnlich
korrigiert hat, und der Schüler hat die Fassung des Meisters
weiter verändert; leider ist uns die Textfassung Marcions für
diesen Vers nicht überliefert. Die Konjektur „venerint“
(„venerunt“) ist in Wahrheit keine Konjektur, da es ja in der Vorlage
(Phil. 1, 12) steht. Ob im griechischen Original der Indikativ
gestanden haben kann, überlasse ich den Sprachgelehrten.
² Auch die Textveränderung („Wie ihr von
meiner E r s c h e i n u n g u n d A u f t r
e t e n [παρουσία] gehört habt, so haltet fest“) ist den
genial-raffinierten Textveränderungen Marcions so ähnlich,
daß man auch hier die Möglichkeit offen lassen muß, er
selbst schon habe Phil. 2, 12 umzugestalten begonnen. Seine Textfassung
auch dieser Stelle ist uns nicht überliefert. — In diesem Falle
übrigens, wie in dem vorangehenden, hängt alles davon ab,
daß man den Text an beiden Stellen richtig herstellt.
Merkwürdigerweise ist m. W. keiner meiner Vorgänger auf die
gebotenen Konjekturen „venerunt“ und „praesentiam“ (c. 1, 12; 2, 12)
gekommen, die eigentlich gar keine Konjekturen sind; denn praesentiam
mei ist graphisch von praesentia mei kaum zu unterscheiden, die
Ersetzung von ὑπακούειν durch ἀκούειν sowie die Weglassung von ἀπουσία
fordern παρουσίαν als Objekt (nicht παρουσίᾳ oder ἐν παρουσίᾳ), und das
alte Argumentum zum Laodicenerbrief sagt ausdrücklich, daß
der Apostel persön-
143*
Beilage IIID: Das Apostolikon
Marcions — Der Laodicener- und der Alexandrinerbrief
(5) Marcion sprach dem A. T. und den katholischen Christen, die er
bekämpfte, die Verheißung, ja die Kenntnis des e
w i g e n L e b e n s ab und bildete diesen Begriff zu
einem Stichwort seiner Verkündigung und Kirche: in unserem Brief
tritt „das ewige Leben“ in v. 5 und 10 unerwartet hervor (vgl. auch v.
7 den Zusatz „perpetua“ zu „salus“).
Diese Beobachtungen entscheiden ¹: unser Brief
ist eine Marcionitische Fälschung ², und da sie dem Verfasser
des Muratorischen Fragments bekannt ist, eine Fälschung schon des
2. Jahrhunderts — nicht von Marcion selbst, denn dieser bot den
Epheserbrief als Laodicenerbrief, sondern von einem Schüler
aus d e r Gruppe von Marcioniten, die, der
katholischen Über-
—————
lich nicht zu diesen Adressaten gekommen ist, sie also
nur von seiner Parusie g e h ö r t haben (noch
deutlicher die Capitulatio). Ἀκούειν τὴν παρουσίαν ist übrigens so
gut griechisch, wie „audire praesentiam“ gut lateinisch ist. — Weil die
Ausleger an diesen beiden Stellen den richtigen Text nicht erkannt
haben — sie allein geben dem Briefe Farbe —‚ mußten Sie in dem
Schriftstück eine farb- und inhaltslose Stilübung sehen.
¹ In ihnen ist so gut wie alles erschöpft,
was der Brief Besonderes neben dem Philipperbrief enthält. Nur v.
13 die Warnung vor αἰσχροκερδεῖς (hängt damit etwa auch die
Tilgung von κέρδος Phil. 1, 21 in v. 8 zusammen?) bleibt dunkel. Warfen
die Marcioniten ihren katholischen Gegnern samt und sonders
αἰσχροκερδία vor? Unmöglich ist’s nicht; mit diesem Vorwurf
beehrten sich die christlichen Parteien oft gegenseitig (s. die gegen
die Montanistischen Führer geschleuderten Vorwürfe), und
speziell der römische Bischof Zephyrin wird von Hippolyt (Refut.
IX, 7) als ἀνὴρ αἰσχροκερδής bezeichnet. Besteht hier ein
geschichtlicher Zusammenhang? —- Für den Bibeltext Marcions
gewinnt man aus dem Brief neue Stücke. Der Brief ist der
älteste Zeuge für den T e x t des
Philipperbriefs (neben Marcion selbst); er bestätigt aber durchweg
seine Zuverlässigkeit.
² Der „Gerichtstag“ v. 3 darf nicht als
Gegenargument geltend gemacht werden; Marcion hat das Gericht Röm.
2, 2 16; II Thess. 1, 9; I Kor. 5, 5; II Kor. 5, 10 stehen gelassen.
Auf die ἔργα v. 3. und 5 als unpaulinisch und unmarcionitisch wird sich
niemand mehr berufen wollen. — ein alter orthodoxer Lutheraner freilich
machte sich einst die Unechtheit des Schreibens an diesen ἔργα klar!
Als charakteristisch-marcionitisch darf übrigens auch die
Hervorhebung Gottes als des das Gute Wirkenden angesehen werden, vgl.
v. 5. 9. 11. Lehrreich ist hier besonders v. 9 im Vergleich mit seiner
Vorlage Phil. 2, 2; hier heißt es: πληρώσατε τὴν χαράνμου, ἵνα τὸ
αὐτὸ φρονῆτε, dort dagegen „faciet deus ut sitis unianimes“.
144*
Beilage IIID: Das Apostolikon
Marcions — Der Laodicener- und der Alexandrinerbrief
lieferung
folgend, ihren Laodicenerbrief nun auch als Epheserbrief betitelten und
infolge davon die Adresse „Ad Laodicenos“ frei hatten. Man hatte bisher
keine Zeugnisse, daß die Umbildung schon im 2. Jahrhundert bei
einem Teile der Marcioniten stattgefunden hat. Wir dürfen jetzt
mit Bestimmtheit sagen: Die Fälschung stammt aus den Jahren
160—190 ¹. Daß sie sich Marcion selbst erlaubt hat, ist nach
den Prinzipien, nach denen er seine Bibel angelegt hat, ausgeschlossen;
aber der Schüler, der diese Fälschung auf dem Gewissen hat,
hat sich innerhalb derselben nach der Methode gerichtet, nach welcher
der Meister „Interpolationen“ ausgeschieden und dicta probantia
für seine Lehre aus indifferenten Stellen durch kleine
einschneidende Textveränderungen zu gestalten verstanden hat.
Betrachten wir nun den Brief als ganzen: Jener
Marcionit, der ihn gefälscht hat, hat augenscheinlich die Absicht
gehabt, einen Paulusbrief auf Grund von Koloss. 4, 16 zu
erfinden, d e r h e i m l i c h M a r c i o n
i t i s c h e L e h r e n z u m A u
s d r u c k b r i n g e n u n d a u
c h b e i d e n k a t h o l i s c h
e n C h r i s t e n A n e r k e n n u n
g f i n d e n s o l l t e. Deshalb
verwendete er fast durchweg paulinische Sätze, die er dem
Philipperbrief der Reihe nach entnahm — diesen Brief wählte er
wahrscheinlich deshalb aus, weil man aus ihm am leichtesten als
Grundlage der Fälschung eine i n d i f f e r e n t e,
also Vertrauen erweckende Kompilation zusammenstellen konnte.
Die spezifisch dogmatischen Sätze Marcions getraute er sich nicht
in seiner Fälschung zum Ausdruck zu bringen ²: er
fürchtete wohl, sich zu verraten. Daher begnügte er sich
damit, an drei Stellen die eigentümliche Auffassung Marcions in
bezug auf den Apostel Paulus einzuschmuggeln, in der Hoffnung, damit
bereits etwas Wesentliches für die Marcionitische Propaganda
geleistet zu haben: (1) Vers 1: Paulus ist ganz selbständiger
Apostel, der nichts mit den Uraposteln zu tun hat. (2) Vers 3—5: Es
gibt Irrlehrer in der Kirche zu Laodicea, d. h. sie hat ein falsches
Evangelium erhalten. Irrlehrer sind die, welche nicht der „veritas
evangelii“, die nur Paulus verkündigt hat, folgen. Paulus hat die
nach Laodicea
—————
¹ Einige Jahre vor dem
Muratorischen Fragment und schwerlich vor dem Tode Marcions.
² Doch s. was oben über „Christus“, die
Wirksamkeit Gottes und „das ewige Leben“ bemerkt ist.
145*
Beilage IIID: Das Apostolikon
Marcions — Der Laodicener- und der Alexandrinerbrief
gekommenen
Irrlehrer durch seine Schüler („qui sunt ex me“) bekämpft und
hofft auf Erfolg ihrer Predigt. (3) Vers 10: Nachdem die Laodicener nun
von der „Parusie“ des Apostels gehört haben, sollen sie sich an
die Lehre halten, die Er vertritt; dann ist ihnen das ewige Leben
gewiß ¹.
Der Brief hat wirklich den vom Verfasser
gewünschten Erfolg gehabt ², wenn auch nicht überall.
Der Verfasser des Muratorischen Fragments, der sehr bald nach der
Produktion der Fälschung geschrieben hat, hat sie durchschaut
(„ficta ad haeresem Marcionis“); aber er hat es doch für
nötig geachtet, den Brief ausdrücklich abzuweisen. Aus seinen
Worten geht deutlich hervor, daß er bereits in katholische Bibeln
Eingang gewonnen hatte oder doch Eingang zu gewinnen drohte. Die
Abweisung jenes einsichtigen Mannes hat aber leider nur einen
partikularen Erfolg gehabt: der Brief drang doch in die lateinischen
Bibeln ein und behauptete sich.
Ist er ursprünglich lateinisch abgefaßt
oder griechisch? L i g h t f o o t hat zahlreiche
sprachliche Beobachtungen geltend gemacht, um ein griechisches Original
zu beweisen, aber sie sind
—————
¹ Gemessen an dem Zweck, den
der Verf. sich gesetzt hatte, und in Hinsicht auf den Erfolg, der ihm
zuteil wurde, darf man das Schriftstück doch nicht als
ungeschicktes Machwerk bezeichnen. Der Verf. kannte seine Leute,
wußte, was er dem christlichen Publikum bieten durfte, und hat
vorsichtig und umsichtig operiert. Was die moralische Seite betrifft,
so darf man den Meister selbst nicht mit diesem Schüler belasten.
Marcion war davon überzeugt, daß die Paulusbriefe von
katholischen, d. h. in seinem Sinn judenchristlichen Interpolationen
wimmeln, und hat es demgemäß unternommen, diese auszumerzen
und den richtigen Text, so gut er es vermochte, wiederherzustellen;
ganz selten nur hat er eine positive Konjektur gemacht, und
Unfehlbarkeit für seine Kritik hat er nicht in Anspruch genommen.
Dieser Schüler aber hat gefälscht, gefälscht
wahrscheinlich im Einverständnis mit einer ganzen Gruppe seiner
Glaubensgenossen! Eine Entschuldigung für dieses Verfahren kann
ich von keiner Seite her finden. Nur insofern kann man vielleicht doch
Marcion selbst hier „unschuldig-schuldig“ nennen, als die
„tägliche Gewohnheit“, am Bibeltext zu ändern (s. das Zeugnis
Tertullians), die sich durch sein Verfahren in seiner Kirche
eingestellt hatte und einstellen mußte, allmählich zu einer
schlimmen Leichtfertigkeit wurde, die zuletzt in Fälschungen
überging.
² Das ist ein Zeichen höchster
Kritiklosigkeit bei den Lesern angesichts der Tatsache, daß das
Schreiben fast ganz und gar ein Plagiat (nach Philipp.) ist.
146*
Beilage IIID: Das Apostolikon
Marcions — Der Laodicener- und der Alexandrinerbrief
m.
E. alle nicht durchschlagend und können es nicht sein, weil ja
fast der ganze Brief Philipperbrief-Verse wiedergibt, die schon
lateinisch übersetzt waren ¹, und weil vulgäres,
gräzisierendes Latein („praesentia mei“ und ähnliches) nicht
für eine Übersetzung entscheidet. Durchschlagend scheinen mir
allein die Erwägungen zu sein, daß der Fälscher es in
so früher Zeit nicht wagen konnte, einen lateinischen Brief
vorzulegen ohne das dazugehörige (angebliche) Original, und
daß die Verhandlungen über den Brief bei einigen
griechischen Vätern eine griechische Fassung fordern. Der Brief
wird wohl gleichzeitig griechisch und lateinisch produziert worden
sein; die lateinische Fassung wird schon vom Muratorischen Fragment
vorausgesetzt — das ich gegen die Meinung der meisten Kritiker für
ursprünglich lateinisch und sich auf eine lateinische Bibel
beziehend halte — und von den oben mitgeteilten und
besprochenen l a t e i n i s c h e n „A r g u m e n
t a“ z u d e n p a u l i n i s c h e n
B r i e f e n.
Von dem Verhältnis unseres Briefs zu diesen
lateinischen Argumenta ist noch zu handeln.
Diese Prologe wurden von einem Marcioniten
verfaßt, der den bei Marcion als Laodicenerbrief bezeichneten
Epheserbrief mit der Großkirche und im Unterschied vom Meister
als Epheserbrief betrachtete und bezeichnete (denn das Argumentum ist
marcionitisch: „Ephesii sunt Asiani . h i a c c
e p t o v e r b o v e r i t a t i s p e
r s t i t e r u n t in fide [das ist das Marcionitische
Kennzeichen] . hos conlaudat apostolus, scribens eis ab urbe Roma de
carcere per Tychicum diaconum“). E r k a n n t
e a b e r b e r e i t s d e n f a l s
c h e n L a o d i c e n e r b r i e f u n d h
a t t e i h n i m K a n o n;
denn aus dem Argumentum für den Kolosserbrief läßt sich
das in den Vulgata-Mss. nicht findende Argumentum zum Laodicenerbrief
rekonstruieren. Jenes lautet: „Colossenses e t
h i s i c u t L a u d i c e n s e s sunt
Asiani, e t i p s i p r a e v e n t i
erant a pseudoapostolis, n e c a d h o
s a c c e s s i t i p s e a p o s t
o l u s, sed e t h o s per
epistulam recorrigit — audierant enim verbum ab Archippo qui et
ministerium in eos accepit —‚ ergo apostolus iam ligatus scribit
—————
¹ Der Hinweis L i g
h t f o o t s darauf, daß das Latein des Briefs sich nicht
überall mit den bekannten lateinischen Fassungen des Briefs deckt,
ist auch nicht durchschlagend, da wir den lateinisch übersetzten
Philipperbrief der Marcioniten nur ganz unvollkommen kennen.
147*
Beilage IIID: Das Apostolikon
Marcions — Der Laodicener- und der Alexandrinerbrief
eis
ab Epheso“. Der Brief, auf den sich dieses Argumentum
zurückbezieht und der unmittelbar vorhergegangen sein muß,
kann nicht der Epheserbrief sein, auf den die betreffenden Worte nicht
passen, sondern eben nur unser gefälschter
Laodicenerbrief, a u f d e n d i
e C h a r a k t e r i s t i k i n d
e r T a t p a ß t. Das Argumentum
muß daher in den Grundzügen so gelautet haben, wie es oben S. 129* gefaßt
ist: „L a u d i c e n i s u n t A s
i a n i, h i p r a e v e n t i e r
a n t a f a l s i s a p o s t o l i
s .... a d h o s n o n a c c e s s
i t i p s e a p o s t o l u s .... h o
s p e r e p i s t o l a m r e c o r r i
g i t“. Der oben mitgeteilte Prolog zum Laod. aus einer
mittelenglischen Handschrift bestätigt das; denn hier heißt
es: „these ben of Asie, and among hem hadden be f a l s e
a p o s t l i s“. Dieser Ausdruck kommt im Brief selbst
nicht vor (dort steht „vaniloquia quorundam insinuantium, ut vos
avertant“ usw.). Von sich aus hätte der englische Verfasser bzw.
Übersetzer des Prologs gar nicht auf „falsi apostoli“ kommen
können, wenn er nicht das zu den anderen Argumenten gehörige
Laod.-Argumentum gekannt hätte, in welchem, wie im Argumentum zu
Koloss., die „pseudoapostoli“ bzw. „falsi apostoli“ gestanden haben
¹.
Also gehören der falsche Laodicenerbrief und
die Marcionitischen Argumenta zusammen. Aber man kann noch mehr
sagen: E b e n d a s, w a s
d i e A r g u m e n t a m i t m o n
u m e n t a l e r E i n s e i t i g k e i t a l
s s a c h l i c h e n I n h a l t b
e i a l l e n B r i e f e n a l l e
i n h e r v o r h e b e n (Paulus allein der wahre
Apostel, die veritas evangelii, die Urgeschichte jeder Gemeinde in
Hinsicht auf die Irrlehrer, d. h. die Urapostel, und
Paulus), d a s h a t a u c
h d e r F ä l s c h e r z u
m a l l e i n i g e n I n h a l t s e i
n e r F ä l s c h u n g g e m a c h t; alles
übrige ist bei ihm Beiwerk. Damit treten aber diese Argumenta und
der Laodicenerbrief in ein so enges Verhältnis, daß die
Annahme sich aufdrängt: sie gehören auch zeitlich
zusammen u n d s i n d a u
s d e r s e l b e n S c h m i e d e (also
nicht von M. selbst). Läßt sich für diese Annahme auch
keine absolute Sicherheit gewinnen, so ist doch so viel gewiß,
daß diese mit den Argumenten ausgestattete Marcionitische
Sammlung der Paulus-
—————
¹ Man darf mit
Wahrscheinlichkeit darauf rechnen, daß das alte Argumentum zu
Laod. noch in einer Vulgata-Handschrift auftauchen wird.
148*
Beilage IIID: Das Apostolikon
Marcions — Der Laodicener- und der Alexandrinerbrief
briefe
und der gefälschte Laodicenerbrief zusammen den katholischen
Kirchen insinuiert worden sind, und da es für diesen Brief nach
dem Zeugnis des Muratorischen Fragments feststeht, daß dies noch
im 2. Jahrhundert geschehen ist, so wird auch die ganze Sammlung der
Paulusbriefe damals bereits in einige Gemeinden der katholischen Kirche
eingeschleppt worden sein — der Verfasser des Fragments wird doch nicht
den Laodicenerbrief als isolierten vor sich gehabt (dann wäre er
nicht so besorgt gewesen und hätte schwerlich ein Wort über
ihn verloren), sondern ihn bereits in einer Sammlung gelesen haben;
welche Sammlung aber könnte das anders sein als eben diejenige,
die wir aus den Argumenten kennen? ¹
Die Entdeckung d e B r u y n e s
und C o r s s e n s hat uns gelehrt,
daß die gewöhnlichen Argumenta der Paulusbriefe der Vulgata
Marcionitisch sind — hier hatte das Marcionitische
Propaganda-Unternehmen einen fast vollständigen Erfolg. Jetzt
lernen wir, daß der Laodicenerbrief der Vulgata eine
Marcionitische Fälschung ist, die zum Glück nur einen halben
Erfolg in der Kirche erzielt hat, aber doch einen halben!
—————
Weder Tertullian, noch Cyprian, noch Augustin (wohl
aber Gregor der Große), noch die abendländischen Synoden,
auf denen der Bibelkanon in der Zeit um 400 festgestellt worden ist,
haben den Laodicenerbrief anerkannt; er wurde mit verächtlichem
Schweigen von ihnen behandelt und von allen namhaften lateinischen
Vätern vor Gregor. Der Verfasser des Muratorischen Fragments hat
die damals erst jüngst ans Licht getretene Fälschung sofort
als solche erkannt und als Marcionitisch bezeichnet, Hieronymus, den
Mund voll nehmend, hat sogar von dem Brief gesagt: „ab omnibus
exploditur“ — dennoch hat er sich in weitesten
—————
¹ Die „Argumenta“ und der
Laod.-Brief haben denselben ältesten Zeugen, den Cod. Fuldensis. —
Die Blutsverwandtschaft zwischen den „Argumenta“ und dem
gefälschten Brief folgt außer aus den angegebenen
Hauptstichworten auch aus der Parallele zwischen dem Argum. zu I Kor.
und Laod., dort „philosophiae verbosa eloquentia“, hier (v. 4)
„quorundam vaniloquia insinuantium“, dort „subvertere“, hier (l. c.)
„avertere“. Ob die Rezeption der Pastoralbriefe seitens eines Teils der
Marcioniten mit der Fälschung des Laod.-Briefs zusammenfällt
oder später anzusetzen ist, ist nicht sicher zu ermitteln.
149*
Beilage IIID: Das Apostolikon
Marcions — Der Laodicener- und der Alexandrinerbrief
Kreisen
im Abendland durchgesetzt. Das erklärt sich nur, wenn
er g l e i c h a n f a n g s in einige
Gemeinden der lateinischen katholischen Kirche gekommen ist, d. h. wenn
sie damals schon die bisher noch wenig verbreitete Sammlung von
Paulusbriefen zuerst von den Marcioniten erhielten (waren diese etwa
sogar so verschlagen, daß sie auch unverfälschte
Paulusbriefe mit ihren Argumenta und dem falschen Laodicenerbrief
versahen?). Ein fait accompli war geschaffen, das sich hier und dort
stärker erwies als alle kritischen Gegenversuche. Im Mittelalter
war man vollends kritiklos, und selbst ein so bedeutender und
verständiger Gelehrter wie Johannes von Salisb. nahm an der
Fälschung keinen Anstoß, der erst Erasmus den
Todesstoß versetzt hat ¹.
Im Laod.-Brief begrüßen wir das
einzige v o l l s t ä n d i g e Schriftwerk,
das uns aus der Marcionitischen Kirche ältester Zeit erhalten ist.
Wir können es nur schmerzlich bedauern, daß das Schicksal
uns nichts Besseres aus ihr beschert hat als diese unverschämte
Kompilation. Auch hier hat der unglückliche Stifter dieser
Reformkirche Unglück gehabt. S e i n e
Bibelkritik ist nicht nach diesem Brief zu beurteilen, vielmehr aufs
schwerste durch sie verfälscht.
—————
¹ Er bemerkt (zu Koloss. 4,
16): „Nihil habet Pauli praeter voculas aliquot ex caeteris eius
epistolis mendicatas ... Non est cuiusvis hominis Paulinum pectus
effingere. Tonat, fulgurat, meras flammas loquitur Paulus. At haec,
praeterquam quod brevissima est, quam friget, quam iacet! ... Quanquam,
quid attinet argumentari? Legat qui volet epistolam ... Nullum
argumentum efficacius persuaserit eam non esse Pauli quem ipsa
epistola.“
Letzte
Änderung
am 10. Januar 2018