ADOLF VON HARNACK
MARCION: DAS
EVANGELIUM VOM FREMDEN GOTT
Beilage IIIA, Seite 40*—67*
40*
Beilage III: Das
Apostolikon Marcions ¹.
(Einschließlich der
Marcionitischen Prologe zu den Paulusbriefen und der von Marcioniten
gefälschten Briefe an die Laodicener und Alexandriner).
A.
Einleitung: Die Zeugen und die Methode der Wiederherstellung.
Mit Recht durfte Z a h n
(Gesch. d. NTlichen Kanons II, S. 449) sagen,
daß
ein einigermaßen eindringender Versuch, den Text des
Marcionitischen Apostolikons herzustellen, vor seiner Arbeit
(a. a. O. S. 495—529) noch nicht gemacht worden sei. Als Vorgänger
konnte überhaupt nur H i l g e n f e l d
² in Betracht
—————
¹ Die Untersuchung über
das Apostolikon M.s mußte der über das Evangelium
vorangestellt werden, weil die kritischen Fragen, um deren Erledigung
es sich handelt, zweckmäßiger zuerst bei jenem erörtert
werden. Übrigens ist es wahrscheinlich, daß M. selbst
zuerst die paulinischen Briefe „gereinigt“ hat, dann das Evangelium,
wenn auch beide zusammen von ihm veröffentlicht worden sind; denn
die Annahme von Interpolationen mußte sich bei den Briefen mit
zwingender Notwendigkeit einstellen, sobald erkannt war, das Paulus den
Gott des Gesetzes von dem des Evangeliums scharf unterscheide.
Zahlreiche Stellen widersprechen dem strikt; wollte M. nicht zum
Sophisten und Allegoristen werden, so mußte er sie ausscheiden,
und zugleich war ein festes Prinzip der Ausscheidung gegeben. Beim
Evangelium lagen die Dinge schwieriger. Sind alle Evangelien nur
verfälscht also zum Teil doch echt? oder sind alle Evangelien ganz
unecht? Die mittlere Lösung, die M. fand, bot sich keineswegs
von selbst (drei Evv. ganz zu verwerfen, eines zu reinigen) und konnte
nur das Ergebnis wiederholter Erwägungen sein. Von den Briefen her
war aber nun auch ein festes Prinzip der Ausscheidung gegeben.
² H i l g e n f e l d,
Das Apostolikon Marcions (Ztschr. f. d. hist.
Theol., 25. Bd., 1855, S. 426—484). S e m l e r hat
die Untersuchungen
andeutend und auf einen Irrweg führend begonnen. Sofort trat die
Frage nach dem Evangelium Marcions so stark in den Vordergrund,
daß in den Arbeiten von L ö f f l e r
(1794), S c h e l l i n g (1795), A r n
e t h (1809),
41*
Beilage IIIA: Das Apostolikon
Marcions — Einleitung
kommen, der wenigstens gewisse
Grundlinien der Wiederherstellung richtig gezogen hat; aber da er die
allgemeine Textgeschichte der paulinischen Briefe nicht
berücksichtigte und außerdem noch in manchen Vorurteilen
befangen blieb — wenn er auch das Verdienst hat, die B a u
r sche Tendenzkritik an diesem
Punkte widerlegt zu haben ¹ —, so blieb seine Leistung noch sehr
unvollkommen. Die v a n M a n e n sche
Untersuchung und Feststellung des Marcionitischen Textes des
Galaterbriefes aber bezeichnete einen Rückschritt, der um so
schlimmer war, als hier die Tendenzkritik, gepaart mit einer
lückenhaften Gelehrsamkeit, zurückkehrte ².
Z a h n hat
nicht nur die Forschung durch Ermittelung der richtigen Prinzipien
für die Wiederherstellung auf einen festen Boden gestellt, sondern
auch die Arbeit selbst mit bekannter Sorgfalt und Umsicht geleistet, so
daß jede folgende Untersuchung an vielen Punkten nur eine
Revision und Weiterführung seiner Ergebnisse sein kann ³.
Daß aber eine solche noch notwendig ist, werden die nachstehenden
Blätter beweisen. Dazu kommt, daß es Z a h n
durch die
unzweckmäßige Form, in der er seine Ergebnisse vorgelegt,
dem Leser außerordentlich erschwert hat, den Marcionitischen Text
wirklich kennen zu lernen: zwar die Abweichungen von dem Urtext, jedoch
auch diese nicht immer vollständig, hat Z a h n
ausgedruckt, sonst aber nur
Ver-
—————
N e a n d e r
(1818), H a h n (1823.24), R i t s c h l
(1846), B a u r, V o l c k m a r
(1850.52) u. a. das
Apostolikon nur eine ganz ungenügende Berücksichtigung erfuhr
(am meisten noch, aber in der Verkehrtheit am konsequentesten,
bei R i t s c h l‚ der jedoch später
seine Aufstellungen zurückgenommen hat). L a c h m a n
n hätte daher in seiner
Ausgabe des NT. die Marcionitischen Lesarten, auch wenn er es gewollt
hätte, nicht
berücksichtigen können; denn sie waren, von einigen
Hauptstellen abgesehen, damals unbekannt.
¹ H i l g e n f e l d
hat eingesehen, daß M.s Text nicht der ursprüngliche
ist, sondern den kanonischen zur Grundlage hat, wenn er auch noch
einige Einschränkungen macht.
² S. v a n
M a n e n in der Theol. Tijdsch. 1887 S. 382 ff., 451 ff.
³ In den Prolegg. zu seiner Ausgabe des NT.s
hat sich v. S o d e n ohne neue
Untersuchungen auf den Boden der Z a h n schen
Ergebnisse gestellt und sie textkritisch fruchtbar zu machen versucht
(I, 2, 1906, S. 1924 ff., I, 3, 1910, S. 2028 ff). Aber was
Marcionitische Lesarten sind, darüber hat er keine Klarheit
gebracht.
42*
Beilage IIIA: Das Apostolikon
Marcions — Einleitung
weisungen (mit Versziffern und
verschiedenen Klammern) auf den üblichen Text gegeben. Daher
muß sich der Leser das, was uns vom Text M.s erhalten ist,
mühsam erst selbst im Wortlaut nach einer kritischen Bibelausgabe
zusammenstellen. Wer sich diese Mühe nicht macht, erhält
überhaupt kein Bild von dem Marcionitischen Apostolikon.
Die Notwendigkeit einer Revision und
Weiterführung der Z a h n schen
grundlegenden Arbeit ergibt sich nicht nur aus der Entdeckung der
Marcionitischen Prologe zu den Paulusbriefen, die d
e B r u y n e ¹ und C o r s s e n
², unabhängig
voneinander, gemacht haben, sowie aus den textkritischen Arbeiten des
letzteren, v. S o d e n s
und L i e t z m a n n s ³, den
abendländischen Bibeltext betreffend, sondern auch aus der
Einsicht, daß Z a h n bei
der kritischen Einschätzung der zwei ältesten Hauptzeugen
für den Marcionitischen Text das Richtige, bezw. den wahren
Sachverhalt an zwei Hauptpunkten nicht erkannt hat. Dazu kommt,
daß er trotz allen Fleißes doch noch eine Nachlese in bezug
auf das Material übriggelassen hat.
Die drei Hauptzeugen für den Text des
Marcionitischen Apostolikons sind Tertullian, Adamantius und
Epiphanius. Ein vierter Hauptzeuge wäre Origenes, wenn wir seine
Werke sämtlich im Original besäßen; denn er hat
nachweisbar ein Exemplar des Marcionitischen Apostolikons in
Händen gehabt und dasselbe nicht nur bei der Exegese der
Paulusbriefe fleißig benutzt, sondern auch sonst nachgeschlagen.
Aber heute müssen wir uns seine Mitteilungen aus den Plagiaten des
Hieronymus, nämlich seinen Kommentaren zu einigen Paulusbriefen,
und den spärlichen Resten der im Original erhaltenen
Origenes-Werke zusammensuchen. Die Ausbeute ist nicht ganz gering und
inhaltlich besonders wichtig; sie läßt uns erkennen, was wir
verloren haben . Andere Zeugen, wie
Ephraem und Chrysostomus, kommen nur durch wenige Beiträge in
Betracht.
—————
¹ In der Revue
Bénédictine, 1907 Januar.
² In der Zeitschr. f. d.
NTliche Wissensch. Bd. 10, 1909, S. 1 ff. S. 97 ff.
³ Erklärung des Römerbriefs, 2. Aufl.
1919, S. 14 ff u. sonst. Auch R i g g e n b a c h
und Z a h n selbst (in seinen
später erschienenen Kommentaren zu Paulusbriefen) haben die
textkritischen Probleme gefördert.
Auch hier
gebührt Z a h n das
Verdienst, als erster das reiche Origenistische Material für
M. aus Hieronymus nachgewiesen und benutzt
43*
Beilage IIIA: Das Apostolikon
Marcions — Einleitung
1.
T e r t u l l i a n.
Das vielleicht erst geraume Zeit nach d. J. 208/9
und jedenfalls nach De carne, De anima und De resurr. von Tertullian
verfaßte 5. Buch gegen Marcion ¹ gehört zu seinen
reifsten und besten Leistungen. Zwar strahlt und funkelt es in dem
Werke nicht mehr so wie in den früheren, aber die christliche und
schriftstellerische Energie ist die alte geblieben. Eine
anerkennenswerte Sachlichkeit ohne Digressionen und Umschweife zeichnet
die Polemik und die Darlegungen aus ².
E i n z i g e r
Zweck Tert.s war es, in diesem Buche den Häretiker aus seinem
eigenen Apostolikon zu widerlegen, d. h. aus dem, was er stehen
gelassen hatte. Man hat daher in bezug auf die zahlreichen Abschnitte,
die Tert. übergeht, in der Regel keine Möglichkeit
festzustellen, ob sie bei M. gestanden haben oder nicht. Da nun
Tert. im Laufe der Polemik, um sich nicht zu wiederholen, immer
häufiger Abschnitte übergeht — auch wenn sie ihm guten Stoff
boten ³ —, so kennen wir den Text der von Tert. zuerst
behandelten Briefe in M.s Fassung besser als den der später
geprüften . Die Reihenfolge
aber, nach welcher Tert. seine Prüfung angestellt hat, ist
die der Marcionitischen Sammlung, nämlich Gal., I und II Kor.,
Rom., I und II Thess., Laod., Kol., Phil., Philem. Daß M.
die Paulusbriefe
—————
zu haben (s.
Kanonsgeschichte II S. 426 ff.). Vgl. m e i n e
Abhandlungen „Der kirchengeschichtliche Ertrag der exegetischen
Arbeiten des Origenes“ [Texte u. Unters. Bd. 42 H. 3 (1918) u. 4
(1919)]. In dem letzteren vgl. besonders den Anhang: „Origenistisches
Gut von kirchengeschichtlicher Bedeutung in den Kommentaren des
Hieronymus zu Philem., Gal., Ephes. u. Titus“.
¹ S. m e i n e
Geschichte der altchristl. Literatur II, 2 S. 283 f. 296.
² Die Überlieferung der gewiß nicht
oft abgeschriebenen 5 Bücher gegen M. läßt manches
zu wünschen übrig, ist aber doch nicht so schlecht, wie es
nach der neuesten Ausgabe scheint; denn K r o y m a n n
hat m. E. sehr viele
Konjekturen gemacht, die bei näherer Prüfung unnötig
sind. Speziell die Bibelzitate sind, wie die Seitenreferenten erweisen,
recht gut erhalten; ihre relative stilistische Einfachheit
schützte sie vor Mißverständnissen und absichtlichen
Korrekturen.
³ Er bemerkt das wiederholt selbst.
Doch bildet
Ephes. eine Ausnahme. Tert. ist auf ihn ausführlicher
eingegangen. Dieser Brief stand der ältesten Kirche besonders hoch.
44*
Beilage IIIA: Das Apostolikon
Marcions — Einleitung
„e
t i a m d e n u m e r o“
verstümmelt habe, bemerkt Tert. ausdrücklich (V, 1
fin.), d. h. es fehlten, wie V. 21 konstatiert wird, die
Pastoralbriefe. Ebenso bemerkt er die „Verfälschung“
auch in bezug auf die Titel, indem er den t i t u l u
s a d L a o d i c e n o s als
eine Marcionitische „Interpolation“ hinstellt (V, 17 init. und schon
V, 11).
Hat er in diesen Fällen auf die Eingriffe
M.s aufmerksam gemacht, so fehlen auch sonst Bemerkungen über
solche nicht, obgleich sie streng genommen außerhalb des Planes
lagen. Sie sind uns im höchsten Maße willkommen; denn ohne
sie wäre unsere Kenntnis des Marcionitischen Textes eine noch viel
beschränktere. Erstlich bezeichnet Tert. gelegentlich
einzelne Worte, die M. ausgestoßen oder eingefügt hat,
nämlich V, 3 in Gal. 2, 5 οὐδέ (hinzugefügt),
V, 10 in I Kor.
15, 47 κύριος für Ἀδάμ, V, 15 in I Thess. 2, 15 ἰδίους zu προφήτας
(hinzugefügt), V, 16 in
II Thess. 1, 8 ἐν πυρὶ φλογός (gestrichen), V, 17 in Eph.
2, 15 αὑτοῦ nach σαρκί
(gestrichen), V, 17 in Eph. 2, 20 καὶ προφητῶν neben ἀποστόλων
(gestrichen), V, 18 in Eph.
3, 9 ἐν vor τῷ θεῷ
(gestrichen), V, 18 in Eph. 6, 2 die Worte ἥτις ἐστὶν ἐντολὴ πρώτη ἐν
ἐπαγγελίᾳ (gestrichen). Sodann macht er
an 5
Stellen umfassendere Bemerkungen: zu Gal. 3, 17 ff. teilt er mit (V, 3.
4), daß M. das gestrichen habe, was sich in dem Briefe auf
Abraham bezieht mit Ausnahme e i n e r
Stelle (4, 22), die er stehen
gelassen habe, wie ja auch einem Dieb etwas entfalle („H a
e r e t i c a
i n d u s t r i a e r a s i t m e n t i o n e
m A b r a h a e“ ... „e r u b e s c a t s p o n
g i a M a r c i o n i s !
n i s i q u o d e x a b u n d a n t
i r e t r a c t o q u a e a b s t u
l i t“ ... „u t f u r i b u s s o l e
t
a l i q u i d e x c i d e r e d e p
r a e d a i n i n d i c i u m, i t
a c r e d o e t M a r c i o n e m
n o v i s s i m a m A b r a h a e m e n t i o n
e m d e r e l i q u i s s e“); beim
Römerbrief
(c. 1) bemerkt er (V, 13): „q u a n t a s
f o v e a s i n i s t a v e
l m a x i m a e p i s t o l a M a r
c i o n f e c e r i t a u f e r e n d
o
q u a e v o l u i t, d e n o s t r
i i n s t r u m e n t i i n t e g r i t a t
e p a r e b i t“, (V, 14)
geht
er von c. 8 sofort zu c. 10 über mit den Worten: „s a
l i o e t h i c
a m p l i s s i m u m a b r u p t u m
i n t e r c i s a e s c r i p t u r a e“, und teilt
gleich darauf (1. c.) mit,
M. habe alles das
ausgelassen, was den Apostel zu dem Ausrufe Röm. 11, 33
veranlaßt habe („h a e c s i
M a r c i o n d e i n-
45*
Beilage IIIA: Das Apostolikon
Marcions — Einleitung
d
u s t r i a e r a s i t, q u i d a p o s
t o l u s e i u s
e x c l a m a t ?“ und: „si tanta de
scripturis ademisti“). Zu Kol. 1, 15 endlich (V, 19) konstatiert
Tert., daß M. 1, 15 b. 16 entfernt habe, weil es ihm
mißfallen mußte. Diese bestimmten
Angaben über Auslassungen und Änderungen sind von
größtem
Belang, weil sich ohne weiteres von ihnen ablesen
läßt, aus welchen Motiven M. den Text geändert
hat.
Daß Tert.s Wiedergabe des Marcionitischen
Textes zuverlässig
ist, weil er Sorgfalt übte und weil er fast ausschließlich
nur diesen Text vor sich hatte — daß er hin und
her in den katholischen Text blickte, ist möglich, aber nicht zu
erweisen; denn was er aus ihm anführt, kann er sehr wohl seinem
Gedächtnis verdanken ¹ —‚ zeigt fast jede Seite; auch lassen
sich die Fälle, in denen er wörtlich zitiert und in denen er
über die Textfassung nur referiert, fast überall scheiden.
Den besten Beweis aber seiner Zuverlässigkeit bilden die
Stellen, an denen er uns den eigenartigen Text M.s bietet, ohne
selbst zu bemerken
oder zu sagen, daß hier eine eigenartige Fassung vorliegt. Diese
Stellen wetteifern an Zahl mit denjenigen, deren Fassung durch die
Seitenreferenten, Adamantius und Epiphanius, bestätigt werden.
Da sich aus dem, was Tert. und die anderen
Zeugen berührt und besprochen haben, die Motive M.s bei
seiner Textkonstruktion und sein Verfahren ermitteln lassen, so scheint
die Anwendung auf die Abschnitte der paulinischen Briefe, die von den
Zeugen unberührt gelassen worden sind, einfach gegeben zu sein.
Allein diese Folgerung wäre mir dann statthaft, wenn M. bei
seiner einschneidenden Kritik durchaus konsequent verfahren wäre.
Allein das ist keineswegs der Fall. Schon daß er an e
i n e r
Stelle im Galaterbrief „Abraham“ hat stehen lassen, ist ein
Warnungszeichen; solche aber gibt es noch mehrere. Weder in bezug auf
die ATlichen Zitate, noch in bezug auf Begriffe wie δικαιοσύνη, νόμος
usw. kann man aus der Behandlung e i n e r
Stelle bei ihm auf die
Behandlung anderer schließen. Es ergibt sich vielmehr, daß
das Verhältnis des Paulus zum
—————
¹ Nicht lange vor Abfassung des
V. Buches gegen
Marcion hatte er sich für die Herstellung seines
Werkes D e r e s u r r e c t i o n
e c a r n i s sehr
eingehend mit den Paulusbriefen beschäftigt.
46*
Beilage IIIA: Das Apostolikon
Marcions — Einleitung
A.T. und seinem Gott, wie
M. es faßte, ein recht
kompliziertes gewesen sein muß, welches sich keineswegs mit der
eindeutigen Vorstellung deckte, welche die Gegner dem M.
zugeschrieben haben. Dazu: augenscheinlich wollte M.
möglichst wenig streichen, also den überlieferten Text
möglichst halten: es gibt Stellen genug, bei denen man es schwer
begreift, wie M. sie bei seiner Lehre unkorrigiert anzuerkennen
vermochte. Dazu kommt noch ein anderes: da wir keinen Grund zur Annahme
haben, er habe sich bei seiner Textkritik für unfehlbar gehalten,
und da er sich bei seinem Reinigungswerke auf eine „Offenbarung“ nicht
beruft, so mußte er sich selbst sagen, daß es ihm, nach dem
angeblichen Untergang aller echten Exemplare der Paulusbriefe, nur
annähernd gelingen könne, die Interpolationen und
Textverfälschungen „der Pseudoapostel und jüdischen
Evangelisten“ — denn auf sie führte er die Verunreinigung der
Texte zurück (V, 19) — durchweg richtig und vollständig
wieder zu beseitigen. Er konnte daher seinen Text nur als einen
annähernd richtigen ausgeben, und daß er wirklich nicht mehr
behauptet hat, lehrt die Tatsache, daß seine Schüler diesen
Text nicht als kanonischen empfangen und betrachtet haben. Sie haben
vielmehr ihrerseits die Textkritik, teils reaktionär, teils
progressiv fortgesetzt. Das zeigt uns noch heute die Geschichte des
Marcionitischen Bibeltextes in der Kirche Marcions ¹, und das
bezeugen
Tert., Celsus und Origenes ² ausdrücklich. Es ist also
vorzu-
—————
¹ S. den Apparat zum Texte des Marcionitischen
Apostolikons und auch die später folgenden Ausführungen.
²
Tert. IV, 5: „C o t i d i e r e f o r m a n
t e v a n g e l i u m,
p r o u t a n o b i s c o t i d i
e r e v i n c u n t u r“. Orig., c. Cels. II, 27:
Μετὰ ταῦτά ,τινας τῶν
πιστευόντων‘, φησίν (scil. Celsus), ,ὡς ἐκ μέθης ἥκοντας εἰς τὸ
ἐφεστάναι αὑτοῖς μεταχαράττειν ἐκ τῆς πρώτης γραφῆς τὸ εὐαγγέλιον τριχῇ
καὶ τετραχῇ καὶ πολλαχῇ καὶ μεταπλάττειν, ἵν’ ἔχοιεν πρὸς τοὺς
ἐλέγχους ἀρνεῖσθαι‘. μεταχαράξαντας δὲ τὸ εὐαγγέλιον ἄλλους οὐκ οἶδα ἢ
τοὺς ἀπὸ Μαρκίωνος καὶ τοὺς ἀπὸ Οὐαλεντίνου, οἶμαι δὲ καὶ τοὺς ἀπὸ
Λουκάνου. (eines Schülers M.s). Auch Adamantius
bestätigt die
Veränderungen (s. Dial. II, 18, zitiert nach Rufin):
„I n f e l i x
M a r c i o n, c u m a d u l t e r a s s e
t s c r i p t u r a s, a p o s t o l
i c o d i c e m n o n e s
t
a u s u s i n o m n i b u s v e
l f a l s a r e v e l e t i a
m d e l e r e; s e d i s t i
(M a r c i o n i t a e)
e t i a m n u n c q u a e e i
s v i s a f u e r i n t a u f e r u
n t, i. e. e a q u a e a s s e r
t i o n i b u s
47*
Beilage IIIA: Das Apostolikon
Marcions — Einleitung
behalten,
daß M.
Stellen übersehen, die Behandlung
anderer aufgeschoben und Widersprüche nicht aufgehoben hat, ferner
daß wir an einigen Stellen überhaupt nicht mehr den
ursprünglichen Text M.s, sondern den seiner Schüler
vor uns haben. Das nötigt uns zu großer Vorsicht in bezug
auf Analogie-Schlüsse betreffend die Streichungen und Korrekturen
M.s, wenn sie uns nicht ausdrücklich bezeugt sind.
Mit diesen Vorbemerkungen könnten wir die
Ausführungen über Tert. als Zeugen des Apostolikons
M.s
schließen, erhöbe sich nicht noch eine Frage, die freilich
nach dem bisherigen Stande der Forschung als eine ganz
überflüssige erscheint. „Es
ergibt sich mit völliger Sicherheit“, bemerkt Z a h n
(Gesch. des
NTlichen Kanons I. S. 603 f, S. 51), „daß Tert.
alles, was
er im IV. und V. Buch an evangelischem oder apostolischem Text und
Stoff zum Gegenstand seiner Kritik macht, sofern er nicht
ausdrücklich das Gegenteil versichert, aus der g r i e
c h i s c h e n Bibel M.s
entweder wörtlich übersetzt oder frei dem Inhalt
nach ausgezogen hat“ ... „Es ist m. W. noch nicht behauptet worden,
daß M.s N.T. j e m a l s
in lateinischer Übersetzung
vorhanden gewesen sei, und es läßt sich jedenfalls nicht
bestreiten, daß es dem Tert. im g r i e c h i s c h e
n O r i g i n a l
vorlag“. Dies ist in der Tat die herrschende, ja die allein geltende
und niemals in Zweifel gezogene Meinung. Aber sie ist, seit jene
Worte geschrieben, durch die Entdeckung der lateinischen
Marcionitischen Prologe zu den Paulusbriefen (s. o.) sehr stark
erschüttert worden, ferner aber auch durch die steigende
Erkenntnis der Einwirkung des Marcionitischen Bibeltextes auf den
katholischen des Abendlands ¹. Durchschlagend sind indes diese
beiden
Momente noch nicht; denn es könnten jene Prologe o h n
e den
Bibeltext, zu dem sie gehören, von Katholiken ins Lateinische
übersetzt und rezipiert worden sein — freilich eine
unwahrscheinliche Annahme —‚ und der griechische Bibeltext M.s
könnte auf den lateinischen katholischen Bibeltext lediglich durch
das Medium griechisch-
—————
s u i s v i d e n t u r
e s s e c o n t r a r i a, e t e a
s o l a
d e r e l i n q u u n t q u a e a d v e r s
a s i b i n o n i n t e l l e x e r
u n t“.
¹ Z a h n
lehnte einen solchen Einfluß noch
ganz ab; aber vgl. die Untersuchungen von C o r s s e n,
v. S o d e n, L i e t z m a n n
und W h i t e.
48*
Beilage IIIA: Das Apostolikon
Marcions — Einleitung
abendländischer
Handschriften eingewirkt haben. Entschieden aber wäre die Frage,
sobald nachgewiesen wird, d a ß
d a s A p o s t o l i k o n M. s d
e m T
e r t. b e r e i t s i n l a t e i n i s
c h e r F o r m
v o r g e l e g e n h a t, und nicht nur diese Frage
wäre entschieden,
sondern es wäre auch eine für die Geschichte der lateinischen
Bibel höchst wertvolle Problemstellung gewonnen; denn wenn die
Marcionitische Kirche schon um das Jahr 200 ein lateinisches
Apostolikon besessen hat, so erhebt sich die Frage, ob nicht etwa die
Marcionitische lateinische Übersetzung der Paulusbriefe älter
ist als die katholische ¹.
Im folgenden erbringe ich den Beweis, daß das
Marcionitische Apostolikon dem Tert. i n l a t
e i n i s c h e G e s t a l t
—————
¹ Daß es bereits zu Tert.s Zeit eine (oder mehrere?)
lateinische Bibelübersetzung gegeben hat, ist heute die Meinung
der großen Mehrzahl der Forscher (C o r s s e n,
L i e t z m a n n, M o n c e a u x, v.
S o d e n),
vgl. m e i n e Nachweisungen in
der „Altchrstl. Lit.-Gesch.“ Bd. II, 2 S. 296 ff. Dagegen
hält Z a h n mit kleinen
Einschränkungen noch immer daran fest, daß es um d. J. 200,
ja auch noch in den ein bis zwei Jahrzehnten nach 200 eine lateinische
Übersetzung nicht gegeben hat, s. Kanongesch. I S. 51 ff;
Forschungen Bd. IX, 1916, S. 23 f. 179 ff; „Die Apostelgeschichte“
(Kommentar) 1919, I S. 88: „Tert. hat noch keine lateinische Bibel
in Händen gehabt“. Im stärksten Gegensatz dazu
überrascht L i e t z m a n n
(Der Römerbrief, 1919, S. 14 f) durch folgende Erwägung: „Das
Problem der Übernahme der Marcionitischen lateinischen Prologe zu
den Paulusbriefen in die katholischen lateinischen Bibeln findet seine
Lösung vielleicht am einfachsten durch die Annahme, daß in
der Mitte oder in der 2. Hälfte des 2. Jahrhunderts, als die
amtliche römische Kirche noch griechisch sprach, Marcionitische
Prediger für ihre Lehre auch in der lateinisch sprechenden
Bevölkerung Roms Jünger zu werben suchten und zu diesem ihrem
Propagandazweck z u e r s t den
ihnen besonders am Herzen liegenden Paulustext ins Lateinische
übersetzten. Diese Übersetzung hat dann die katholische
Kirche übernommen und ihrem Text angeglichen, aber doch nicht
überall die Spuren des Ursprungs verwischen können“. Auf die
Frage, ob M.s Apostolikon dem Tert. lateinisch vorgelegen
hat, ist aber L i e t z m a n n nicht
eingegangen. Auf Grund ihrer eingehenden Studien sind W o r
d s w o r t h - W h i t e (Novum
Test. Latine II, 1 p. 41) zu dem Ergebnis gelangt: „M a r c
i o n i s ‚A p o s t o l i c o n‘ L a t i n
e e t i a m
c i r c u m l a t u m f u i t e t c
o m m u n i u s u (s c i l. i
n e c c l e s i i s c a t h o l i c i
s
o c c i d e n t a l i b u s) t r i t u m.“ Aber auch sie
haben das Problem nicht
aufgeworfen, in welcher Sprache Tert. das Apostolikon M.s
gelesen hat.
49*
Beilage IIIA: Das Apostolikon
Marcions — Einleitung
vorgelegen
¹ und
daß er es in dieser Gestalt untersucht und bekämpft hat
².
1. Die Zitate aus dem Apostolikon M.s in
adv. Marc. V heben sich lexikalisch, syntaktisch und
stilistisch scharf von der eigenen Sprache Tert.s ab. Daher sind
sie nicht von ihm frei nach dem Griechischen geformt, sondern
übernommen. Zunächst ist darauf aufmerksam zu machen,
daß, während Tert. selbst „quod“ selten, „quia“ fast
niemals für den Acc. c. Inf. gebraucht, beide Worte in diesen
Bibelzitaten in dieser vulgären Anwendung sehr häufig sind:
dazu die folgende Beobachtung: De pudic. 16 gibt er selbst I Kor. 3, 16
also wieder: „Non s c i t i s v o s
t e m p l u m
d e i e s s e ?“ aber adv. Marc. V, 6 zitiert
er: „N e s c i t i s q u o d t e m
p l u m d e i s i t i s?“
Gal. 4, 24 gibt Tert. (V, 4) als
Marcionitischen Text: „C u m a u t e
m
e v e n i t i m p l e r i t e m p u s“;
das ist eine ungelenke, weil an der
falschen Stelle wörtliche, Übersetzung von ὅτε δὲ ἦλθε τὸ
πλήρωμα χρόνου. Daß Tert. selbst so übersetzt hat, ist
sehr unwahrscheinlich und in der Tat — ein paar Kapitel später
zitiert er diesen Vers von sich aus (V. 8) und schreibt: „A
t u b i t e m p u s e x p l e t u
m e s t.“ Also
war ihm jene Fassung überliefert.
Gal. 6, 2 wird aus M.s Apostolikon zitiert (V,
4): „O n e r a v e s t r a i n v i
c e m s u s t i n e t e“
(„o n u s s u s t i n e r e bei Plautus);
aber zwei Zeilen darnach schreibt Tert. selbst: „I n v i c
e m o n e r a v e s t r a p o r t a
t e“.
Hätte der virtuose Stilist Tert. von sich
aus geschrieben I Kor. 3, 19 (V, 6): „D e p r e h e n d e n
s
s a p i e n t e s i n n e q u i t i
a i l l o r u m“ für ὁ δρασσόμενος τ. σοφοὺς
ἐν τ. πανουργίᾳ αὐτῶν? Hätte er von sich aus (V, 7) I Kor. 5, 7
übersetzt: „U t s i t i s n o
v a
c o n s p a r s i o, s i c u t e s t i s a z
y m i ?“ Ist es s e i n e Hilflosigkeit, I.
Kor. 9, 9
(V, 7) für μὴ τῶν βοῶν μέλει τῷ θεῷ˙ zu schreiben: „n
u m q u i d d e b o b u s
—————
¹ Schon vor L i e t
z m a n n s und W o r d s w o r t h - W h i t e s
Vermutungen,
das Apostolikon M.s habe auch lateinisch existiert, hatte ich mich
überzeugt, daß der M.-Text des Apostolikons Tert.
in lateinischer Sprache vorgelegen hat.
² Die Hypothese wird von keinem Punkte aus
nahegelegt, daß er das Werk M.s außerdem auch in
griechischer Gestalt eingesehen und benutzt hat.
50*
Beilage IIIA: Das Apostolikon
Marcions — Einleitung
p
e r t i n e t a d d o m i n u m“?
oder s e i n e sprachliche
Gefühllosigkeit II Kor. 3, 15 (V, 11) durch „a
d h o d i e r n u m u s q u e v e l
a m e n i d i p s u m i
n
c o r d e e o r u m“ und II Kor. 3, 18 (l. c.)
durch „e a d e m i m a g i n e t r
a n s f i g u r a r i“
wiederzugeben?
II
Kor. 5, 17 (V, 12) lautet das Apostolikon: „S i
q u a e r g o c o n d i t i o n o v
a i n C h r i s t o“;
aber de ieiun. 14 schreibt Tert. selbst: „Q u o d s
i n o v a c o n d i t i o i
n C h r i s t o.“
II
Thess. 2, 11 (V, 16) nach dem Apostolikon: „P r o p t e
r h o c e r i t e i s
(i n) i n s t i n c t u m
f a l l a c i a e“ (für διὰ τοῦτο ἔσται αὐτοῖς [εἰς]
ἐνέργειαν
πλάνης). Allein bei der Erklärung vermeidet Tert. i n
s t i n c t u s und schreibt „a d i m p
i n g e n d o s e o s i n e r r o r
e m“ bzw.
„f a l l a c i a e i m m i s s i o“.
Ephes.
1, 12 (V, 17) liest man im Bibeltext „p r a e s p e r a v i
m u s
i n C h r i s t u m“; dieses Wort kommt m. W. sonst
nicht vor und ist
die sklavische Übersetzung von προηλπικότες (s. z. d. St. auch
unten S.
54*).
Ephes.
1, 20 (V, 17) heißt es im Apostolikon: „i n o p e r a
t u s e s t i n C h r i s t u
m v a l e n t i a m s u a m“
(ἐνήργησεν ἐν Χρ. τὴν ἰσχὺν αὐτοῦ); Tert. selbst aber
vermeidet das Wort „v a l e n t i a“ und das
wörtliche und gräzisierende i n o p e r a r i
(s. zu
diesem seltenen Wort R ö n s c h,
Itala u. Vulgata S. 194).
Ephes.
2, 10 (V, 17) bietet das Apostolikon „I p s i u
s
s u m u s f a c t u r a“ (= ποίημα); aber
Tert. selbst braucht stets „o p u s“,
und vorher Ephes.
2, 2 (V, 17) liest man „I l l o s
d e l i c t i s m o r t u o s, i n
q u i b u s i n g r e s s i
e r a n t“. Wer kann dem Tert. ein solches Latein zutrauen
(für νεκροὺς ταῖς ἁμαρτίαις ἐν αἷς περιεπατήσατε)?
Ephes.
5, 18 (V, 18) bot das Apostolikon: „I n e b r i a r
i
v i n o d e d e c o r e“; hier ist ein Adjectivum
„dedecoris“ anzunehmen,
das Tert.
sonst nicht braucht.
Ephes.
6, 17 (III, 14): „g a l e a m s a l u t a r i
s“
(τὴν περικεφαλαίαν τοῦ σωτηρίου); also „salutare“ als
substantiviertes Adjektivum!
Kol. 1, 24 (V, 19): „A d i m p l e r e
r e l i q u a p r e s s u r a r u m“ (τὰ ὑστερήματα
τῶν θλίψεων) und kurz vorher
1, 21: „N o s q u o n d a m a l i e
n a t o s e t i n i m i c o s
s e n s u
51*
Beilage IIIA: Das Apostolikon
Marcions — Einleitung
i
n m a l i s o p e r i b u s r e d i
g i t i n g r a t i a m“. Übersetzt
Tert. so
stümperhaft?
Phil.
1, 18 (V, 20) gibt das Apostolikon also wieder: „N i h i
l m e a, s i v e
c a u s a t i o n e s i v e v e r i t a t
e C h r i s t u s a n n u n t i e t u r“
(τί γάρ, εἴτε
προφάσει εἴτε ὰληθείᾳ Χριστὸς καταγγέλλεται) aber schon
in der nächsten Zeile schreibt Tert. selbst
verständlicher „s i v e e x c
a u s a t i o n e s i v e e x v e r
i t a t e.“
Phil. 2, 6 (V, 20): „N o n r a p i n a
m
e x i s t i m a v i t p a r i a r i d e o “;
aber adv. Prax. 6 schreibt
Tert. selbst: „e s s e s e a e q u
a l e m
d e o“;
denn „p a r i a r i“ ist vulgär
und gräzisierend, wenn sich auch „p a r i a r e“
ein paarmal bei Tert. findet (vgl. R ö n s c h,
a. a. O. S. 168).
Diese
Proben werden genügen, um zu beweisen, daß der Bibeltext,
dem Tert. in Buch V gefolgt ist, keine Übersetzung Tert.s ist;
vielmehr
trägt er alle die bekannten Kennzeichen einer sklavischen und bis
zum
Unverständlichen wörtlichen, vulgären und
gräzisierenden, lateinischen Bibelversion. Also lag das
Marcionitische Apostolikon dem Tert. in lateinischer
Übersetzung vor ¹.
2. Aber es gibt noch eine
Reihe von besonderen Beobachtungen, die diese Tatsache direkt und
unwidersprechlich beweisen:
Gal.
3, 26 muß nach Tert. V, 3‚ wie alle Kritiker annehmen, der
Marcionitische Text gelautet haben: „O m n e s
e n i m f i l i i e s t i s f i d e
i“ (Grundtext: πάντες γὰρ υἱοὶ θεοῦ ἐστε διὰ τῆς πίστεως). Eben
diesen Text
kommentiert auch Tert. Allein es ist ganz
ausgeschlossen, daß Marcion den Grundtext hier willkürlich
geändert hat ², denn daß wir Söhne des guten Gottes
————
¹ Die
Annahme wäre noch möglich, daß Tert. das ganze N.
T. in einer lateinischen Übersetzung im Gedächtnis hatte
und diese an die Stelle des griechischen Textes, den er vor sich hatte,
einsetzte, dabei aber die Marcionitischen Lesarten ex tempore
lateinisch einschob. Allein erstlich gibt er auch diese Lesarten nicht
in s e i n e r Sprache, zweitens
ist die ganze Annahme völlig
unglaublich, da er ja den M. Text unmittelbar nach der Wiedergabe
häufig s t i l i s t i s c h von
sich aus korrigiert.
²
Phil. 3, 9 (V, 20) hat M. die Worte δικαιοσύνην τὴν διὰ πίστεως
Χριστοῦ, τὴν ἐκ θεοῦ
umgewandelt in „iustitiam quae per Christum
ex deo“, d. h. er hat πίστις weggelassen, weil ihm
Christus wichtiger
war als
52*
Beilage IIIA: Das Apostolikon
Marcions — Einleitung
durch
den Glauben geworden
sind, ist eine seiner Hauptlehren; warum hätte er dafür
„Söhne des Glaubens“ einsetzen sollen? Dagegen läßt
sich die LA als Schreibfehler (Dittographie) im Lateinischen aufs
einfachste erklären: „filii fidei“ statt „filii dei“; dann ging
natürlich „per fidem“ verloren. Also lag der Text dem Tert.
in lateinischer Übersetzung vor; dieser Schluß ist
unvermeidlich ¹.
Ferner, mitten im langen Zitat Gal. 4, 22—24 liest
man (V, 4): „ ,H a e c s u n t e n i
m d u o
t e s t a m e n t a‘ — s i v e ,d u a e o s t e n s
i o n e s‘, s i c u t i n v e n i m u s
i n t e r p r e t a t u m — ,u n u m
a m o n t e S i n a‘ “ etc. Tertullian fand
also (eine andere
Auffassung ist nicht möglich) in dem Marcionitischen Codex, dem er
folgte, „o s t e n s i o n e s“,
erinnerte sich aber, daß der ihm selbst geläufige
Text „t e s t a m e n t a“ (διαθῆκαι) bot und
führte das zunächst ein, um es dann gewissenhaft durch das
Wort zu ersetzen, welches im Codex stand. Daß er „o s
t e n s i o n e s“ für eine
Umschreibung von „t e s t a m e n t a“, (διαθῆκαι)
hielt (und dem M. nicht
eine Textfälschung vorwarf ²) war freilich eine
großmütige und unhaltbare Annahme. Marcion hat den
Text g e ä n d e r t‚ weil er hier nicht
von z w e i T e s t a m e n t e n
geredet
wissen wollte, als bestände zwischen den Veranstaltungen des
Weltschöpfers und des guten Gottes eine formelle Verwandtschaft,
(auch in Luk. 22, 20 hat M. das Wort „neu“ bei „Testament“
gestrichen, weil er nicht zwei Testamente kannte), sondern nur von zwei
„Nachweisen“. Das griechische Wort, welches er einsetzte, war wohl
ἐνδείξεις oder ἐπιδείξεις. In
lateinischen Bibelhandschriften steht „o s t e n s i o“
Röm. 3,
————
der
Glaube. Er hätte also Gal. 3, 26 das Umgekehrte getan, wenn die
Lesart von ihm herrührte!
¹ Er lag also dem Tert. bereits mit einem
schweren Schreibfehler behaftet vor; dieser findet sich auch bei
Hilarius. Da Hilarius den Text schwerlich aus Tertullian geschöpft
hat, so folgt, daß der Fehler schon in einem uralten lateinischen
Manuskript gemacht sein muß.
² Wie V, 10 zu I Kor. 15, 45 „ ,F a c t u
s p r i m u s h o m o A d a
m i n a n i m a m v i v a m,
n o v i s s i m u s A d a m i n s p
i r i t u m v i v i f i c a n t e m‘, l i c e
t s t u l t i s s i m u s
h a e r e t i c u s n o l u e r i t i t
a e s s e; ,d o m i n u m‘ e n i
m p o s u i t n o v i s s i m u m p
r o
n o v i s s i m o ,A d a m‘ “. Auch hier hat, ganz wie
oben, Tert.
zuerst den Marcionitischen Text mit der katholischen Lesart („Adam“)
eingeführt und dann die Marcionitische LA nachgebracht.
53*
Beilage IIIA: Das Apostolikon
Marcions — Einleitung
25,
26; II Kor. 8, 24; Phil.
1, 28 für ἔνδειξις, I Kor. 2, 4 für
ἀπόδειξις (Luk. 1, 80 für ἀνάδειξις), und Tert. selbst
schreibt adv. Marc. V, 11: „A c c i d e n t i a
a n t e c e d i t i p s i u s r e i
o s t e n s i o“. Wie aber auch das Wort
griechisch gelautet haben mag — dem Tert. lag in dem
Marcionitischen Apostolikon hier „o s t e n s i o“
vor: es war also lateinisch ¹.
Weiter: V, 8 zitiert Tert. Eph. 4, 8: „C
a p t i v a m d u x i t c a p t i v i t a t e
m, ,d a t a d e d i t
f i l i i s h o m i n u m‘, i. e. d o n a t i
v a, q u a e c h a r i s m a t a d i c i
m u s“.
Wäre ihm nicht „d a t a“ überliefert und
übersetzte er
selbständig, so brauchte er das Wort nicht als „d o n
a t i v a“ zu interpretieren,
sondern hätte sofort „donativa“ geschrieben ², also war ihm
„data“ gegeben.
————
¹ Für Z a h n ist
diese Stelle sehr unbequem (Gesch. d.
NTlichen Kanons I S. 52). Die
willkürliche Einsetzung von „s p o n s i o n e s“
für „o s t e n s i o n e s“
ändert natürlich nichts. — Übrigens hat Tert. in
demselben Zitat kurz vorher die Verse Gal. 4, 22—24 schon einmal
unterbrochen, indem er schreibt „ ,Q u a e
s u n t a l l e g o r i c a‘ i. e. a l i
u d p o r t e n d e n t i a; ,h a e c s
u n t e n i m d u o
t e s t a m e n t a‘ “ etc. Auch hier ist es die nächste
Annahme, um nicht mehr zu sagen, daß er „a l l e g o
r i c a“ in seinem Texte fand
und es seinen lateinischen Lesern deutlich machte. Hätte er den
Text selbst übersetzt, so hätte er „a l l e g o r
i c a“ ohne weiteres
lateinisch wiedergegeben. — Nichts wider die Vorlage als eine
lateinische vermag man aus dem Zitat Ephes. 1, 9 f. (V, 17) zu
schließen. Tert. schreibt: „ ,S e c u n d u m
b o n i e x i s t i m a t i o n e m, q u a
m p r o p o s u e r i t i n s a c r
a m e n t o v o l u n t a t i s s u a e,
i n
d i s p e n s a t i o n e m a d i m p l e t i o n i
s t e m p o r u m‘ — u t i t
a d i x e r i m, s i c u t v e r b
u m
i l l u d i n G r a e c o s o n a
t — ,r e c a p i t u l a r e‘, i. e. a
d i n i t i u m r e d i g e r e v e
l
a b i n i t i o r e c e n s e r e, ,o m
n i a i n C h r i s t u m, q u a
e i n c a e l i s e t q
u a e i n
t e r r i s‘ “. Nur auf den ersten Blick entsteht der Schein, als
übersetzte hier Tertullian selbst aus dem Griechischen; aber er
stutzt nur vor dem neuen und ganz unverständlichen Wort
„recapitulare“ — denn es ist früher überhaupt nicht
nachzuweisen —‚ entschuldigt es als einen Gräzismus, indem er sich
dabei des ἀνακεφαλαιώσασθαι des Originaltextes erinnert, und
erklärt die Bedeutung des Worts. Hätte er „r e c
a p i t u l a r e“ nicht in seinem Texte
gefunden, so hätte er es überhaupt nicht zu erwähnen
gebraucht, sondern konnte gleich „a d
i n i t i u m r e d i g e r e“ oder ähnlich
schreiben.
² So bietet er in der Tat in Wiedergabe von
Röm. 6, 3 (de resurr. 47): „S t i p e n d i
a e n i m d e l i n q u e n t i a e
m o r s, d o n a-
54*
Beilage IIIA: Das Apostolikon
Marcions — Einleitung
Kol. 1, 17
(καὶ αὐτός ἐστι πρὸ πάντων) gibt Tert. V, 19 also wieder:
„P o s u i t a p o s t o l u s: ,E
t i p s e e s t a n t e
o m n e s‘. q u o m o d o e n i m a n t
e o m n e s, s i n o n a n t
e o m n i a?“ Wenn
Tert. hier auf „a n t e o m n i a“
hinauskommen wollte, konnte er nach dem griechischen Text ohne weiteres
so übersetzen; da er das aber nicht getan hat, so ist evident,
daß ihm der Text „a n t e o m n e s“
und nicht πρὸ πάντων vorgelegen hat.
Ferner Ephes. 1, 12 las Tert. nach dem
Marcionitischen Codex (V, 17) also: „U t
s i m u s i n l a u d e m g l o r i
a e n o s, q u i p r a e s p e r a v i m
u s i n C h r i s t u m“,
und bemerkt von sich aus dazu: „Q u i ,p r a e
s p e r a s s e‘ p o t u e r a n t i. e. a n t
e s p e r a s s e i n d e u
m q u a m v e n i s s e t,
n i s i J u d a e i?“ Hier ist es doch wohl evident,
daß er das
gebildete Ohren beleidigende Wort „p r a e s p e r a r e“
in dem Codex gelesen hat und es durch „s p e r a r
e
a n t e q u a m“ wiedergibt.
I Kor. 6, 20 gibt Tert. (V, 7) referierend also
wieder: „Jam n u n c q u o m o d o
h o n o r a b i m u s, q u o m o d o t o l l e m u
s d e u m i n c o r p o r
e p e r i t u r o?“ Das
„tollemus“ ist eine uralte l a t e i n i s c h
e
Variante (= ἄρατε = ἄρα γε, s. unten im Apparat z. d. St.),
bzw. d i e uralte lateinische, später
vereinzelt in den Orient gekommene Lesart (dagegen der echte Text
einfach: δοξάσατε τὸν θεόν). Wie kommt Tert. dazu, sie hier
einzuführen, wenn ihm der Text griechisch vorlag?
Man weiß aus Adamantius, daß der
Marcionitische Text Gal. 6, 17 ganz singulär gelautet hat: τῶν δ’
ἄλλων εἰκῆ κόπους μοι μηδεὶς παρεχέσθω (> den gewöhnlichen
Text: τοῦ λοιποῦ κόπους κτλ.)˙ ἐγὼ γὰρ τὰ στίγματα κτλ. Tert.
schreibt: „P e r s e c u t o r e s v o c a
t
C h r i s t i; c u m v e r o a d i c i
t s t i g m a t a C h r i s t i e t
c.“ Jenes „τῶν
ἄλλων“ kann nur aus der lateinischen Übersetzung von „τοῦ λοιποῦ“
= „D e c e t e r i s“ entstanden sein,
die
also den griechischen Text beeinflußt hat. Tert. muß
entweder den lateinischen Text „d e
c e t e r i s“ für seine falsche Paraphrase, die hier
Feinde
Christi findet, vor sich gehabt haben oder den bereits nach dem
Lateinischen korri-
————
t i v u m a u t e m d e
i v i t a a e t e r n a“; cf.
de corona 1: „D o n a t i v u m C h r i s t
i i n
c a r c e r e e x s p e c t a t!“
55*
Beilage IIIA: Das Apostolikon
Marcions — Einleitung
gierten
griechischen Text. Das
erstere ist viel wahrscheinlicher. Der Marciontext stimmt, wie sich
unten zeigen wird, an sehr vielen Stellen mit der in den Codd. DG.
vorliegenden Rezension überein; aber nicht nur mit ihr, sondern
auch wörtlich genau mit ihrer lateinischen Übersetzung dg und
mit der Itala-Überlieferung überhaupt. Handelte es sich um
wenige Stellen, so könnte Tert. zufällig auf dieselbe
Übersetzung gekommen sein; aber bei der großen Anzahl der
Stellen ist diese Annahme unmöglich; daher ist es unbegreiflich,
daß Z a h n trotz dieses
Tatbestandes sich in seiner Hypothese nicht hat erschüttern
lassen, dem Tert. habe der Marciontext griechisch vorgelegen.
Wäre das der Fall, so müßte man an vielen Stellen den
Tert. im voraus ahnen lassen, wie der spätere lateinische
Übersetzer den Text wiedergeben werde! Somit ist erwiesen,
daß Tert. das Marcionitische Apostolikon lateinisch vor sich
hatte ¹. Über die Konsequenzen dieser Erkenntnis s. die nach
dem Abdruck des Textes folgende Untersuchung. Da die lateinische
Übersetzung sklavisch wörtlich ist, so macht es kaum irgendwo
Schwierigkeit, den griechischen Text, der hinter der Übersetzung
liegt, zu ermitteln.
Aber auch das sei zum Schluß hier betont,
daß Tert., seine Textangaben betreffend, sorgfältig und
daher zuverlässig gearbeitet hat. Das gilt nicht nur von den
wörtlichen Zitaten, sondern auch von den Referaten über die
Textfassungen M.s. Wo wir ihn durch Seitenreferenten zu
kontrollieren vermögen, besteht er in der Regel die Prüfung,
ja oft genug bis ins kleinste, so daß der anfängliche
Skeptizismus bei genauem Studium verschwinden und sich in dankbare
Anerkennung
————
¹ Z a h n
(a. a. O. I S. 51) will aus V,
10: „U b i e s t, m o r s, v i c
t o r i a v e l
c o n t e n t i o t u a ?“ (I Kor. 15, 55)
schließen, Tert. gebe
hier Alternativ-Übersetzungen für τὸ νῖκος, also habe ihm der
Text griechisch vorgelegen; allein die bessere Überlieferung
lautet: „U b i e s t, m o r s, v
i c t o r i a, u b i
c o n t e n t i o t u a?“, und mit Recht
hat K r o y m a n n „v i c t o r i a u b
i“ (besser „u b i c o n t e n t i o“) als
Glosse
entfernt. Übrigens hätte Tert. schwerlich eine
Alternativ-Übersetzung bloß durch „v e l“
eingeführt, sondern sich
deutlicher ausgedrückt. De resurr. 47. 51. 54 bietet Tert.
in diesem Zitat „c o n t e n t i o t u a“
und eben aus diesen Stellen sind diese Worte als Alternativlesart in V,
10 eingerückt worden.
56*
Beilage IIIA: Das Apostolikon
Marcions — Einleitung
verwandeln
muß.
Natürlich bleiben trotzdem bei den Referaten Stellen genug
übrig, wo man keine Sicherheit (namentlich in bezug auf
Wortstellungen usw.) gewinnen kann, wie der Text M.s genau
gelautet hat.
2.
D i e D i a l o g e d e s A d a m a
n t i u s.
Z a h n hat
in bezug auf die Verwertung der fünf Dialoge des „Adamantius“
für den Apostolikontext Marcions folgende Grundsätze
aufgestellt ¹.
1. Die Dialoge, gleich nach Beginn des 4.
Jahrhunderts verfaßt, sind in der von Caspari entdeckten
lateinischen Übersetzung Rufins viel besser erhalten als in dem
griechischen Original ², da dieses eine durchgreifende Umarbeitung
des ursprünglichen Textes aus den Jahren 330—337 wiedergibt.
2. Sie haben ältere Streitschriften benutzt;
denn nicht nur ist die Schrift des Methodius über den freien
Willen seitenweise wörtlich abgeschrieben, sondern eine
Vergleichung mit Irenäus, Tertullian und Origenes zeigt auch,
daß ihnen mindestens noch e i n
älteres antimarcionitisches Werk zugrunde liegt, dessen Verfasser
die Schriften Marcions kannte ³.
3. Sehr wahrscheinlich ist, w e n
n e s s i c h a u c h n
i c h t b e w e i s e n
l ä ß t, daß „Adamantius“ daneben auch
unmittelbar
aus den Schriften Marcions und der Marcioniten, insbesondere aus dem
Evangelium und dem Apostolikon, geschöpft hat .
4. Der Dialog I mit dem echten Schüler
M.s, Megethius, enthält, abgesehen von e i n e m
Zitat (Kol. 4, 10 f. 14), das
aus
————
¹ Sie sind von mir abstrahiert aus seiner „Geschichte des
NTlichen Kanons“ II S. 419 ff, sowie aus der älteren
Abhandlung „Die Dialoge des Adamantius mit den Gnostiker“ (Ztschr.
f. Kirchengesch., Bd. IX (1887) S. 193 ff.).
² Alle griechischen Handschriften gehen
auf e i n e n Codex, den Venetus,
zurück, den wir auch besitzen. In v a n d
e S a n d e - B a k h u y z e n s Ausgabe
(1901) ist diese sichere Erkenntnis leider nicht zu ihrem Recht
gekommen.
³ Das Werk muß vortertullianisch sein, da
es die Berührungen des Adamantius mit Tertullian (den jener nicht
gelesen haben kann) erklären soll. Z a h n
denkt an das
antimarcionitische Werk des Theophilus von Antiochia.
„Die hierauf
bezüglichen Angaben bedürfen noch der Erörterung“
fügt Z a h n S. 420 hinzu.
57*
Beilage IIIA: Das Apostolikon
Marcions — Einleitung
dem
marcionitischen Kodex der
Paulusbriefe vorgelesen wird, kein Zitat aus M.s Apostolikon; denn
Megethius erklärt, er werde seine Lehre aus den heiligen Schriften
der Katholiken beweisen, und verfährt darnach bis zum Schluß
des Dialogs. Somit haben die zahlreichen NTlichen Zitate dieses Buches,
mögen sie von „Adamantius“ oder von Megethius vorgebracht sein,
keinen Anspruch darauf, aus M.s Bibel zu stammen. Jedoch
schränkt Z a h n selbst
diese Behauptung durch eine „Wahrscheinlichkeit“ und eine
„Möglichkeit“ ein: wahrscheinlich sei, daß „Adamantius“ dem
Marcioniten nicht gerade solche Stellen in den Mund gelegt haben wird,
von welchen er wußte, daß sie bei M. fehlten oder
wesentlich anders lauteten, und möglich sei, daß Adamantius
unter dem Einfluß älterer marcionitischer Schriften, in
denen die Lehre M.s auf dem Grunde seiner Bibel bestritten war,
unabsichtlich einige Marcionitische Lesarten habe einfließen
lassen ¹.
5. Der Dialog II mit dem Marcionschüler Markus
stellt sich von vornherein auf den Boden der Bibel M.s und
behauptet diesen Boden auch bis zum Schluß, so daß hier
alle Zitate, mögen sie von Adamantius oder von Markus vorgebracht
werden, marcionitische sind. Adamantius besaß also entweder
selbst eine genaue Kenntnis der Bibel M.s oder hat eine
ältere antimarcionitische Schrift stark ausgebeutet, in der
reichliche Mitteilungen aus jener Bibel enthalten waren. Nur die
Einschränkung ist zu machen, daß bei kürzeren Zitaten,
die nicht aus der Bibel M.s verlesen werden, sich Erinnerungen an
den katholischen Text eingeschlichen haben können.
6. Der Dialog III mit dem Bardesaniten Marinus
scheidet ganz aus.
7. Die Dialoge IV und V (gegen die Valentinianer und
Bardesaniten) kommen teilweise auch für M.s Bibel in
Betracht, nämlich dort, wo Adamantius auf die noch immer
anwesenden Marcioniten Rücksicht nimmt, ja hier ist der
marcionitische Ursprung einer langen Reihe von Zitaten im fünften
Dialog besonders
————
¹ Doch macht Z a h n bei
seiner Wiederherstellung des Marcionitischen Apostolikon, soviel ich
sehe, von diesen Möglichkeiten keinen Gebrauch; er bucht zwar
häufig die in den Zitaten des ersten Dialogs sich findenden
Varianten, aber nur um hinzuzufügen, daß sie nicht in
Betracht gezogen werden dürften.
58*
Beilage IIIA: Das Apostolikon
Marcions — Einleitung
sicher
verbürgt, da sie
in der Reihenfolge gegeben werden, in der die Paulusbriefe in der Bibel
M.s gestanden haben (Gal., I Kor., II Kor., Röm.).
(Ad. 1). Wie so häufig, ist die Bedeutung des
neu entdeckten Zeugen zunächst überschätzt worden;
auch Z a h n ist dem unterlegen. Im
Gegensatz zu ihm hat v a n d e S a
n d e -
B a k h u y z e n in seiner Ausgabe (p. XLII—XLIX) erwiesen,
daß
Rufins Übersetzung der Dialoge zwar treuer ist als seine
Origenes-Übersetzungen, daß er sich aber auch hier
große Freiheiten genommen hat. Das gilt sowohl für die
Bibelzitate als auch für die Reden. Es ist also Rufin gegen das
griechische Original keineswegs immer im Rechte, zumal da es auch eine
schwere Übertreibung ist, von einer förmlichen
„Überarbeitung“ zu sprechen, in welcher uns der griechische Text
vorliegen soll. Dieser Text hat zwar an ein paar Stellen schon
frühe Zusätze erfahren, aber ist sonst intakt. Man ist daher
genötigt, auch bei den Bibelzitaten von Fall zu Fall zu
entscheiden, ob der ursprüngliche Text vom Griechen oder von Rufin
erhalten ist.
(Ad. 2 u. 3). Der literarische Charakter und
sachliche Wert des Werkes kann schärfer bestimmt werden,
als Z a h n es getan hat. Zunächst
ist festzustellen, daß die Dialoge durchweg f i n g i
e r t sind. Das gibt auch Z a h n zu; aber er
zieht nicht fest
die Konsequenzen. Hier wird nicht wirklich bald die katholische Bibel,
bald die Marcionitische herbeigebracht und aufgeschlagen — so scheint
es nach Z a h n —‚ hier ist
nichts aus Marcions Bibel v e r l e s e n
worden, hier findet keine wirkliche Rede und Gegenrede statt usw.¹
Wenn dies alles also Einkleidung ist, so sind die dramatischen
Bemerkungen und Situationen sämtlich für die Feststellung der
Herkunft und des Wertes der tatsächlichen Angaben vollkommen
gleichgültig, und es
l ä ß t s i c h l e d i g l i c
h a u s i n n e r e n G r ü n
d e n e n t s c h e i d e n,
ob etwas authentisch-marcionitisch ist oder nicht, einerlei ob es von
den Häretikern oder von Adamantius vorgetragen wird. Man muß
demnach, um den sachlichen Wert des Werks festzustellen, die ganze
Kunstform aufheben und es einfach als e i n e
große Ab-
————
¹ Auch die Rolle, welche der Schiedsrichter Eutropius spielt,
zeigt die Fiktion; er ist von vornherein parteiisch und in Wahrheit
kein Richter, sondern Eideshelfer des katholischen Disputanten.
59*
Beilage IIIA: Das Apostolikon
Marcions — Einleitung
handlung
betrachten. Sofort
überzeugt man sich dann, daß wir es mit einem abgeleiteten
Werk (einer Kompilation) geringer Ordnung zu tun haben, das freilich
für uns von größter Bedeutung ist, da es uns die
benutzten verlorenen Vorlagen ersetzt. Schon daß der Verfasser
sich hinter den Namen des Origenes versteckt hat — denn nur er kann
unter „Adamantius“ gemeint sein —‚ macht es wahrscheinlich, daß
er selbst nichts zu sagen hatte, sondern älteres Gut
reproduzierte. Das stillschweigende große Plagiat an Methodius,
der vielleicht noch am Leben war, jedenfalls aber erst wenige Jahre
vorher sein Werk über den freien Willen geschrieben hatte, zeigt
eine unter den damaligen Verhältnissen des literarischen Betriebs
ungewöhnliche Dreistigkeit. Die zahlreichen Berührungen mit
theologischen Ausführungen des Irenäus, Tertullian und
Origenes bestätigen, daß der Verfasser von entlehntem Gut
lebte. Die Mitteilung vieler Antithesen Marcions, o h n
e d a ß d o c h j e m a l
s d a s W e r k d e r
A n t i t h e s e n s e l b s t g e
n a n n t w i r d, macht es gewiß, daß
er dieses Werk aus eigener Wissenschaft überhaupt nicht gekannt,
ja, wie es scheint, von seiner Existenz gar nichts gewußt hat.
Daß endlich der Reihe nach die Marcioniten, Bardesaniten und
Valentinianer — und nur diese — bekämpft werden, führt zu der
Annahme, daß der Verf. die Häretiker, die seine Provinz
beunruhigten, treffen wollte, aber für keine dieser Gruppen
besondere eigene Kenntnisse aus ihren eigenen Werken hinzubrachte. In
bezug auf die Bardesaniten und Valentinianer liegt das auf der Hand,
sollte das bei den Marcioniten anders sein? Z a h n
hält es zwar für
sehr wahrscheinlich, daß der Verf. auch unmittelbar aus den
Schriften M.s und der Marcioniten, insbesondere aus dem Evangelium
und dem Apostolikon, geschöpft hat; allein er selbst fügt
hinzu, daß es sich nicht beweisen lasse. In der Tat
läßt sich auch nicht eine Spur eines Beweises beibringen;
dagegen wirft seine Unkenntnis des Werks der Antithesen ein schlimmes
Licht auf seine Kenntnis der Marcionitischen Werke überhaupt. Wenn
er dennoch gutes Material in Fülle beigebracht hat, so war das
für einen Polemiker, der um das Jahr 300 schrieb, nicht schwierig.
Lagen doch damals mindestens ein Dutzend Werke gegen Marcion in
griechischer Sprache vor (von Justin, Dionysius von Korinth, Philippus
von Gorthyna, Melito, Miltiades, Modestus, Theophilus von Antiochien,
Irenäus, Rhodon, Pro-
60*
Beilage IIIA: Das Apostolikon
Marcions — Einleitung
kulus,
Hippolyt, Bardesanes),
dazu die Polemik des Origenes, die viel eingehender und reichhaltiger
war als die uns erhaltenen Reste. Welches dieser Werke oder vielmehr
welche er benutzt hat, läßt sich leider heute nicht mehr
ermitteln. Was für das Werk des Theophilus spricht, ist
beachtenswert, aber nicht ausreichend. Bardesanes hat gegen Marcion
Dialoge syrisch geschrieben und seine Schüler haben sie ins
Griechische übersetzt (Euseb., h. e. IV, 30,
1); vielleicht sind eben diese Dialoge von „Adamantius“ im ersten oder
im zweiten Dialog benutzt und haben ihn zu dieser Kunstform angeregt.
Daß er selbst im dritten Dialog einen Bardesaniten bekämpft,
wäre kein Gegengrund ¹.
Unter diesen Umständen, d. h. da dem Verf.
eigene Kenntnis der Marcionitischen Bibel nicht zugesprochen werden
kann, muß jedes einzelne Bibelzitat, einerlei in welchem Dialog
es steht und ob es von „Adamantius“ oder von einem Häretiker
vorgebracht wird, für sich und im Rahmen seines Kontexts daraufhin
geprüft werden, ob es aus der Marcionitischen Bibel geflossen ist
oder nicht, und wir werden uns darauf gefaßt machen müssen,
ihrem Ursprunge nach sehr verschiedenen Zitaten zu begegnen, wie das
bei einer Kompilation dieser Art nicht anders erwartet werden kann.
(Ad. 4—7). Nach dem Ausgeführten lassen sich
die Grundsätze nicht halten, die Z a h n
hier aufgestellt hat. Es sind daher nur wenige Worte nötig. Was
den Dialog I betrifft, so kann auch er sehr wohl mehr Marcionitisches
Bibelgut als das einzige Zitat enthalten (Kol. 4, 10 f. 14).
welches Z a h n als Marcionitisch gelten
läßt; denn wir hätten für die Z a h n
sche Behauptung, in diesem
Dialog werde auf Grund einer Abmachung durchweg auf dem Boden der
katholischen Bibel disputiert, nur dann eine Ge-
————
¹ Daß dem Dial. I (Polemik gegen einen Marcioniten, der die
Dreiprinzipienlehre vertritt) und dem Dial. II (Polemik gegen einen
Marcionitischen Vertreter der Zweiprinzipienlehre) verschiedene
Vorlagen zugrunde liegen, ist gewiß. Es bestehen
charakteristische Unterschiede, Megethius ist freundlicher; er spricht
vom Gegner (I, 1) als vom „Bruder Adamantius“; er zitiert
Marcionitische Antithesen (freilich ohne anzugeben, woher sie stammen),
während der zweite Gegner solche nicht kennt, usw. Im ersten
Dialog findet man reichhaltigeres, aber im zweiten zuverlässigeres
Material. Widersprüche fehlen nicht, so z. B. in bezug auf die
Abfassung des Evangeliums, vgl. I, 8 mit II, 13.
61*
Beilage IIIA: Das Apostolikon
Marcions — Einleitung
währ,
wenn es sich um
eine wirkliche Disputation hier handelte und nicht um eine fiktive. Da
es aber eine fiktive ist, wissen wir nicht, mit welchem Grad von
Sorgfalt der Verfasser die Zitate, die ihm seine Quellen boten,
verteilt hat. Übrigens — um zunächst hier nur e i
n Beispiel zu
nennen — wenn Megethius (Dial. I. 13) die Marcionitische Antithese
wiedergibt: Ὁ προφήτης τοῦ θεοῦ τῆς γενέσεως, ἵνα πολεμῶν πλείονας
ἀνέλῃ, ἔστησε τὸν ἥλιον τοῦ μὴ δῦσαι μέχρι συντελέσῃ ἀναιρῶν τοὺς
πολεμοῦντας πρὸς τὸν λαόν˙ ὁ δὲ κύριος, ἀγαθὸς ὤν, λέγει˙ Ὁ ἥλιος μὴ
ἐπιδυέτω ἐπὶ τῷ παροργισμῷ ὑμῶν — so ist doch offenbar, daß
Ephes. 4, 26 hier aus der Marcionitischen Bibel stammt. Umgekehrt steht
es nicht so, daß alle Zitate in dem Dialog II aus der Bibel
M.s herrühren müssen. Zwar nach der Abmachung zwischen
den Disputierenden müßte es der Fall sein — darin
hat Z a h n recht —; aber hat der Verf.
seine Quelle bei seiner Umgießung durchweg rein erhalten? Nein,
es gibt sichere Beispiele, daß er an einigen Stellen nicht den
Text Ms. wiedergibt. Ferner, der Dialog III bietet überhaupt
nur drei Zitate aus den Paulusbriefen und richtet sich gegen
Bardesanes: aber auch hier wäre es möglich, daß der
Verf. bei der kompilatorischen Art seiner Arbeit Marcionitisches
eingetragen hat und angesichts des Zitats Röm. 6, 19 scheint mir
das nicht unwahrscheinlich. Dieses Zitat ist (III, 7) in seiner zweiten
Hälfte so gefaßt: οὕτω παραστήσατε τὰ μέλη τῷ θεῷ δοῦλα τῇ
δικαιοσύνῃ (Rufin: „i t a n u n c e
x h i b e t e
m e m b r a v e s t r a d e o s e r
v i r e i n i u s t i t i a“). Der
ursprüngliche
Text lautet: οὕτως νῦν παραστήσατε τὰ μέγη ὑμῶν δοῦλα τῇ δικαιοσύνῃ.
Ich sehe von „n u n c“, „v e s t r a“
und „s e r v i r e“ (so auch FG d e f g vulg
Orig. Ambrosiaster) ab: Die wertvolle, sonst nirgend bezeugte Variante
liegt in dem eingeschobenen „θεῷ“. Wer das einschob, der wollte nicht
lesen, die Gläubigen sollen ihre Glieder der Gerechtigkeit zu
Dienst stellen (obgleich der Parallelismus zu ἀνομία das verlangte); er
änderte daher so, daß Gott selbst der Dienstherr wird, und
ließ es sich dann gefallen, daß die Gläubigen (bei
Rufin steht das Richtige) i n Gerechtigkeit Gott
dienen. Das ist
Marcionitisch; denn M. mußte befürchten, daß
δουλεύειν τῇ δικαιοσύνῃ als δουλεύειν τῷ δικαίῳ θεῷ verstanden werde;
ein δουλεύειν ἐν δικαιοσύνῃ aber konnte er sich gefallen lassen; denn
δικαιοσύνη war auch ihm, richtig verstanden, erträglich. — Von den
Dialogen IV
62*
Beilage IIIA: Das Apostolikon
Marcions — Einleitung
und
V gilt dasselbe wie von
Dialog I; recht aber hat hier Z a h n,
daß die in Dialog V c. 22—27 nach der Marcionitischen Reihenfolge
der Paulusbriefe gegebenen Pauluszitate eine geschlossene Gruppe bilden
und daher aus der Marcionitischen Bibel stammen müssen.
Aus dem hier Ausgeführten ergibt sich,
daß durchgehende, feste Grundsätze für die Ermittelung
der Marcionitischen Pauluszitate in den Dialogen nicht aufgestellt
werden können, daß man vielmehr fast überall (mit
Ausnahme von V, 22—27) nach inneren Gründen zu entscheiden hat. Um
aber zu beweisen, daß auch die von Z a h n als
Marcion-Zitate
grundsätzlich verworfene Paulus-Zitate des Dialogs I und in
gewissen Teilen des Dialogs V in Betracht zu ziehen sind und einen
Ertrag für M. bieten, sollen hier ein paar Belege gegeben
werden:
Gal. 1, 8 hat Z a h n
in seiner Textherstellung nach Tert. mit Recht geboten: ἄ λ
λ ω ς
εὐαγγελίζηται (Tert. dreimal: „a l i t e r
e v a n g e l i z a v e r i t“). Im katholischen Text fehlt
ἄλλως, aber bei Adamant., Dial.
I, 6 liest man in Rufins Übersetzung (Text gemischt aus v. 8. 9)
ebenfalls: „a l i t e r e v a n g e l i z a v e
r i t“
(der Grieche bietet hier, wie manchmal, einen entstellten Text). Wer
kann zweifeln, daß dies sonst ganz unbezeugte ἄλλως bei Adamant.
aus M.s
Text geflossen ist? Findet sich, worauf H a n s
v o n S o d e n aufmerksam gemacht
hat, ἄλλως auch bei Cyprian (zweimal),
so liegt entweder Einfluß des Textes M.’s oder eine
vormarcionitische LA vor.
I Kor. 15, 1—4 wird in Dial. V, 6 wörtlich
zitiert; aber es fehlt an beiden Stellen κατὰ τὰς γραφάς und dazu ὃ καὶ
παρέλαβον. Sowohl diese als auch jene Weglassung ist sicher
Marcionitisch: denn weder konnte er Tod und Auferstehung von den
„Schriften“ geweissagt sein lassen, noch zugeben, daß er das
Evangelium ebenso empfangen hätte, wie es die Korinther von ihm
empfangen haben. Einige Verse später (v. 20) lautet der
unverfälschte Text: Χριστὸς ἐγήγερται ἐκ νεκρῶν, aber im Dial. V,
6: Χριστὸς κηρύσσεται ἐκ νεκρῶν ἀναστάναι. Wir wissen aber (s. zu Gal.
1, 1), daß M. es nicht liebte, von der Auferweckung Christi
zu sprechen, sondern dafür „Auferstehung“ oder „Selbsterweckung“
einfügte. Also liegt auch hier ein Marcionitischer Text vor.
I Thess. 4, 15—17 wird von Tert. (V, 15) und im
Dialog
63*
Beilage IIIA: Das Apostolikon
Marcions — Einleitung
(I,
25) teilweise
wörtlich zitiert. Die beiden Zeugen stimmen darin überein,
daß sie nicht πρῶτον bezeugen, sondern die alt-lateinische LA
πρῶτοι und daß sie aus v. 15 die Worte εἰς τὴν παρουσίαν αὐτοῦ in
v. 17 herübernehmen (sonst unbezeugt): ἡμεῖς ... οἱ περιλειπόμενοι
εἰς τὴν
παρουσίαν Χριστοῦ (αὐτοῦ) ἅμα σὺν αὐτοῖς ἁρπαγησόμεθα. Kann dieses
Zusammentreffen zufällig sein?
Tert. (adv. Marc. IV, 16) schiebt bei
Wiedergabe des Marcionitischen Textes Luk. 6, 29 (Referat) zweimal ein
„amplius“ ein („a l t e r a m a m p l i u
s
m a x i l l a m o f f e r r i“ und „s e
d e t
a m p l i u s e t p a l l i u m c o
n c e d e n d i“); in Adam., Dial. I, 18
lautet der Text: πρόσθες αὐτῷ καὶ τὸν χιτῶνα. Dieses πρόσθες ist weder
von Luk. noch von
Matth. geboten; aber, wie man sieht, bezeugt es Tertull. Also bietet
hier Adamantius den Marcionitischen Text. Ferner Luk. 6, 38 ist nach
Tert. (IV, 17) die Marcionitische LA τῷ αὐτῷ μέτρῳ ᾧ (sonst nur
noch durch den Itala-Cod. g² bezeugt); aber diese LA bietet auch
Adamant., Dial. I, 15 (nach Rufin, dem hier, wie so oft, gefolgt
werden muß). Weiter, in den beiden Referaten Tert.s (II, 27
und IV, 17) über M.s Hauptspruch vom schlechten und guten
Baum braucht er „p r o f e r r e“
bezw. „p r o d u c e r e“, was weder
dem Matth.- noch dem Luk.text genau entspricht; aber Dial. I, 28 steht
in dem Spruch προενεγκεῖν (προενέγκαι), also derselbe Text, und auch
darauf sei hingewiesen, daß im Dial. der schlechte Baum dem guten
vorausgeht, weil er nach M. das Gesetz bedeutet, das dem
Evangelium vorangeht. Endlich noch ein Beispiel: Luk. 24, 25 lautete
M.s Text in tendenziöser Umgestaltung nach Tert. und
Epiph.: ἐλάλησα (ἐλάλησεν) πρὸς ὑμᾶς > ἐλάλησαν οἱ προφῆται,
aber wie bei jenen lautet er auch Dial. V, 12.
Diese Proben werden genügen, um zu erweisen,
daß die festen Grundsätze Z a h n s
in bezug auf die Verwertung der Dialoge nicht zutreffend sind ¹,
so gewiß es ist, daß in den Dialogen zahlreiche Zitate
stehen, die nicht aus der Bibel M.s stammen. Adamantius
schöpfte eben aus verschiedenen antimarcionitischen Quellen.
————
¹ Übrigens hat sie auch H o l l
in seiner Epiphanius-Ausgabe nicht anerkannt; sonst durfte er S. 121
nicht Adamant., Dial. I, 22 zitieren.
64*
Beilage IIIA: Das Apostolikon
Marcions — Einleitung
3.
E p i p h a n i u s.
Epiphanius’ Beitrag zu unserer Kenntnis des
Apostolikon M.s ist nicht umfangreich: geraume Zeit, bevor er das
Kapitel (42) seines Panarions gegen M. ausgearbeitet, hatte er
einmal (wo? in Cypern? in Palästina?) jenes Apostolikon samt dem
zugehörigen Evangelium in die Hände bekommen und aus diesem
78, aus jenem 40 Stellen ausgeschrieben, um den Ketzer aus seinen
Werken selbst zu widerlegen ¹, was vor ihm schon Irenäus
geplant und Tert. ausgeführt hatte. Bei diesen Auszügen
hatte er sich aber auf 6 Briefe von den zehn beschränkt (keine
Auszüge aus I II Thess., Phil., Philem.) und auch aus Kol.
nur e i n Zitat verzeichnet. Die Absicht
der Widerlegung hatte er damals nicht ausgeführt. Jetzt kehrte er
zu diesen Zetteln zurück, verleibte sie seinem Werke ein und
setzte, sie noch einmal wörtlich wiederholend, zu jedem Zitat eine
mehr oder weniger ausführliche Widerlegung. E i n
e n e u e E i n s i c h t i
n M.s B i b e l h a t
e r d a b e i n i c h t g e n o m m
e n — entweder hatte er sie nicht mehr zur
Hand oder er hielt eine nochmalige Einsicht für unnötig. Die
Folge davon waren zahlreiche Mißverständnisse in bezug auf
seine alte Aufzeichnung. Was hier zu entwirren war, hat Z a
h n (a. a. O. II, S. 409—419) so
vollständig geleistet, daß einfach auf seine Untersuchung
verwiesen werden kann ². Das schlimmste Mißverständnis
war, daß er selbst nicht mehr wußte, weshalb er jene 4
Briefe ausgelassen, und nun mit unglaublicher Leichtfertigkeit
behauptete, es sei deshalb geschehen, weil sie M. hoffnungslos
verfälscht habe! Ein zweites grobes Mißverständnis
ergab sich aus der Tatsache, daß bei M. der Epheserbrief
„Laodiceerbrief“ heißt und daß Epiphanius
————
¹ Haer. 42, 10 S. 106: Παραθήσομαι δὲ καὶ ἣν ἐποιησάμην κατ’ αὐτοῦ
πραγματείαν πρὶν τοῦ ταύτην μου τὴν σύνταξιν ἐσπουδακέναι διὰ τῆς ὑμῶν
τῶν ἀδελφῶν προτροπῆς ποιήσασθαι. ἀπὸ ἐτῶν ἱκανῶν, ἀνερευνῶν τὴν τούτου
τοῦ Μαρκίωνος ἐπινενοημένην ψευδηγορίαν, καὶ ληρώδη διδασκαλίαν, αὐτὰς
δὴ τὰς τοῦ προειρημένου βίβλους ἃς περικέκοπται (so J
ü l i c h e r, Ms. κέκτηται) μετὰ
χεῖρας λαβών, τό τε παρ’ αὐτῷ λεγόμενον ,Εὐαγγέλιον‛ καὶ <τὸ>
Ἀποστολικὸν καλούμενον παρ’ αὐτῷ ἐξανθισάμενος καὶ ἀναλεξάμενος καθ’
εἱρμὸν ἀπὸ τῶν προειρημένων δύο βιβλίων τὰ ἐλέγξαι αὐτόν δυνάμενα κτλ.
² Einige zutreffende Korrekturen
bei H o l l in seiner Epiph.-Ausgabe.
65*
Beilage IIIA: Das Apostolikon
Marcions — Einleitung
dies
bei der früheren
Aufzeichnung bemerkt haben mußte; aber jetzt kam er infolge der
Unvollkommenheit seiner Aufzeichnung zu der Ansicht, M. habe
sowohl den Epheser- als auch einen Laodiceerbrief in seiner Bibel
gehabt, gab nun den größeren Teil der Zitate unter jenem
Titel, eines aber unter diesem, träumte dann, M. habe nur
„Teile“ eines Laodiceerbriefs aufgenommen — daß es wirklich einen
apokryphen Laodiceerbrief gab, hatte er von irgendwoher gehört —,
ja kam schließlich dem Unsinn nahe, M.s Bibel habe
überhaupt nur aus Exzerpten zum Beweise seiner Irrlehre bestanden
¹. Eine dritte Konfusion richtete er in bezug auf die Reihenfolge
der Paulusbriefe bei M. an; es mag ihr gegenüber aber die
Konstatierung genügen, daß er sie in jenem Exemplar, das ihm
einst zur Verfügung stand, i n d e r s e l
b e n Z a h l (10) u n d i
n d e r s e l b e n R e i h e n f o l g e
g e l e s e n‚ in der
sie M. geordnet hatte; nur Phil. stellt Epiphanius stets nach
Philem. Das muß ihm der Codex geboten haben; spätere
Marcioniten werden Philem. unmittelbar nach Kol. gestellt haben, wohin
er gehört.
Da Epiph. in seinen Widerlegungen der 40 Zitate
nichts Wertvolles für den Text hinzufügen konnte, so haben
wir es lediglich mit ihnen zu tun. Daß die beiden Abschriften
nicht vollkommen stimmen, war bei Epiphanius von vornherein zu
erwarten, auch wenn die Abschreiber tadellos die Texte überliefert
hätten. Doch sind die Differenzen gering und in H o l
l s Ausgabe erledigt.
Die Zitate zerfallen in zwei Klassen, in eine wenig
umfangreiche, in welcher Epiphanius Textfälschungen M.s
angibt, und in die andere, in denen er Stellen ausgezogen hat, um
M. durch sie zu widerlegen. Selbstverständlich ist jene
Klasse die zuverlässigere; in dieser kam es dem Epiph. nicht
auf absolute Genauigkeit an, und er bricht auch an einigen Stellen mit
καὶ τὰ ἑξῆς die Anführung ab.
So schmal somit das Material ist, welches Epiphanius
zu unserer Kenntnis des Apostolikons M.s beigebracht hat, so
wertvoll ist es doch sowohl dort, wo es den von Tert. oder
Adamantius mitgeteilten Text bestätigt, als wo es eine sonst nicht
bezeugte
————
¹ Möglicherweise liegt hier eine Konfusion mit Nachrichten
über die „Antithesen“ vor, die Epiph. selbst nicht in
Händen gehabt hat.
66*
Beilage IIIA: Das Apostolikon
Marcions — Einleitung
Bibelstelle
in der Fassung
M.s bringt. Daß der Text, seitdem Tert. ihn las, einige
Veränderungen erlitten hat, war a priori zu erwarten — nicht nur
aus Schuld der Abschreiber, sondern wir wissen ja, daß die
Marcioniten an dem Texte absichtlich geändert, bezw. das Werk
ihres Meisters fortgesetzt haben.
D a h e r m a g s c h o
n
d e r M a r c i o n i t i s c h e B i b e l t e
x t, w i e T e r t u l l i a n i h
n l a s, K o r r e k t u r e n
b e s e s s e n h a b e n, d i e n i c h
t v o n d e m M e i s t e r
s e l b s t, s o n d e r n v o n d e
n
S c h ü l e r n s t a m m e n. Wenn daher
Epiphanius an einigen Stellen
den kanonischen Text bietet gegenüber dem Text, wie ihn Tertullian
bietet, so ist eine doppelte Annahme möglich: Entweder sind
Schüler Marcions wieder zum kanonischen Text zurückgekehrt,
oder Tert. bietet bereits Schüler-Korrekturen, während
Epiphanius an diesen Stellen noch den Text gelesen hat, wie ihn M.
stehen gelassen hatte.
An nicht wenigen Stellen stimmen je zwei von den
Zeugen bei der Wiedergabe des Marcionitischen Textes aufs beste
zusammen, und dann haben wir vollkommene Sicherheit (Stellen, die alle
drei bezeugen, sind sehr selten) ¹. Differenzen führen nicht
immer auf die Hypothese, daß der Marciontext im Laufe der Zeit
und lokal verändert worden ist, sondern auch auf die Annahme der
Unzuverlässigkeit der Zeugen; aber auf Tert.s
Zuverlässigkeit läßt sich in der Regel bauen.
Die Anlage der nachfolgenden Wiederherstellung des
Apostolikons bedarf kaum einer Erläuterung. Der Text Tertullians
ist nach der Ausgabe von K r o y m a n n
(1906) gegeben, wo ich ihr zu folgen vermochte, der des Adamantius
nach
v a n d e S a n d e - B a k h u y z e n
(1901;
die Kapitel sind die der Rufinschen Übersetzung), der des
Epiphanius nach H o l l, den ich
nach den Aushängebogen benutzen durfte. Nach Tert.
müßte man eigentlich zunächst das lateinische
Apostolikon
M.s wiederherstellen; aber das hätte zu großen
Wiederholungen geführt und hätte doch nichts von Belang
ausgetragen. Was uns nur im lateinischen Apostolikon erhalten ist, ist
aus dem Apparat leicht ersichtlich. Beim Galaterbrief habe ich
versucht, einen einiger-
————
¹ S. die Zusammenstellung unten (E. Untersuchungen).
67*
Beilage IIIA: Das Apostolikon
Marcions — Einleitung
maßen
zusammenhängenden Text zu geben; bei den übrigen Briefen war
das nicht möglich.
Anhang.
Daß der unbekannte
antimarcionitische (armenisch erhaltene) syrische Schriftsteller (s.
Beilage VI) den Apostolos M.s gekannt hat, ist gewiß;
aber S c h ä f e r s (Eine altsyrische,
antimarkionitische Erklärung von Parabeln des Herrn usw., 1917)
geht zu weit, wenn er annimmt, daß er seine Pauluszitate, um die
Marcioniten mit ihren Waffen zu bekämpfen, aus ihrem Apostolos
genommen hat. Das läßt sich nicht beweisen. Nur das ist
gewiß, daß er Römer 6, 5 und I Kor. 3, 6 dort gefunden
hat (a. a. O.); aber auch in diesem Fall hat man keine Sicherheit,
daß er den Text M.s genau zitiert; denn er kann sich auch
von der Existenz des Stichworts dieser Verse, auf welches es ihm allein
ankam, bei M. überzeugt und dann seinen eigenen Text zitiert
haben. Speziell für Ephes. 5, 25 ff. will S c h ä
f e r s beweisen, daß
der Unbekannte hier den Text M.s biete (S. 213 f.); allein dieser
Beweis ist völlig mißglückt. Gerade hier ist — unter
Vergleichung dessen, was wir sicher über diesen Text wissen oder
vermuten können — offenbar, daß der gebotene Text der eigene
des Verfassers, d. h. der nicht ganz korrekt wiedergegebene kanonische
ist. Er lautet: „Ein jeder Mensch soll sein Weib wie sich selbst
lieben, wie auch Christus seine Kirche geliebt hat; denn Glieder sind
wir seines Leibes; so auch ihr: ein jeglicher aus euch muß sein
Weib wie sich selbst lieben, wie auch Christus seine Kirche geliebt
hat. Deswegen wird ein Mensch seinen Vater und seine Mutter verlassen
und seinem Weibe folgen, und es werden die beiden ein Leib sein. Das
Geheimnis ist groß; aber ich sage es hinsichtlich Christi und der
Kirche.“
Letzte
Änderung am 27. Januar 2018