ADOLF VON HARNACK

MARCION: DAS EVANGELIUM VOM FREMDEN GOTT
Beilage IV C, Seite 240*—255*


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240* Beilage IV: Das Evangelium Marcions


C. Untersuchungen zum Evangelium Marcions.

   
Daß das Evangelium Marcions nichts anderes ist als was das altkirchliche Urteil von ihm behauptet hat, nämlich ein verfälschter Lukas ¹, darüber braucht kein Wort mehr verloren zu werden ². Häufiger als im Apostolikon ist der eigentümliche Text
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    ¹ Daß Hippolyt, der in dem Syntagma (s. Pseudotert. unter „Cerdo“, Filastr., haer. 45) dies ausdrücklich sagt, in der Refut. VII, 30 Marcions Evangelium auf das   M a r k u s - Ev. zurückführt, gehört zu den mancherlei Unbegreiflichkeiten, die dieses Werk im Verhältnis zum Syntagma aufweist. Hippolyt muß geschlafen haben, als er dies niederschrieb, oder die Erinnerung an den wahren Tatbestand muß dem alten Manne so verblaßt gewesen sein, daß sich ihm das kurze Ev. des Markus und der „stummelfingerige“ Markus — so nennt er ihn, auf eine alte Überlieferung über ihn anspielend — mit dem verkürzten Lukas in einem wirren tertium comparationis vermengte. — Soeben ist ein durch Fleiß ausgezeichnetes, aber ganz unbrauchbares Buch von   R a s c h k e   über das Markus-Ev. erschienen, welches nicht nur dies Ev. für das Marcion-Ev. erklärt, sondern auch Markus mit Marcion identifiziert und unter anderem unter den 12 Jüngern den Kaiser Hadrian, den Vierfürst Philippus, Theudas usw. findet, auch in dem „fliehenden Jüngling“ bei Markus den von Jesus sich entfernenden Christus-Geist sieht.
    ² Epiph., haer. 42, 9: Οὗτος ἔχει εὐαγγέλιον μόνον τὸ κατὰ Λουκᾶν, περικεκομμένον ἀπὸ τῆς ἀρχῆς διὰ τῆν τοῦ σωτῆρος σύλληψιν καὶ τῆν ἔνσαρκον αὐτοῦ παρουσίαν. οὐ μόνον δὲ τὴν ἀρχὴν ἀπέτεμεν ὁ λυμηνάμενος ἑαυτὸν, <μᾶλλον> ἤπερ τὸ εὐαγγέλιον, ἀλλὰ καὶ τοῦ τέλους καὶ τῶν μέσων


241* Beilage IV: Das Evangelium Marcions — Untersuchungen zum Evangelium Marcions

M.s durch zwei (und mehrere) Zeugen beglaubigt ¹. Ganz wie beim Apostolikon schwankt aber auch bei einer Anzahl von Stellen die Überlieferung — in zahlreichen Fällen gewiß infolge der Ungenauigkeit der Referenten, aber in anderen Fällen ebenso sicher infolge der fortgesetzten Arbeiten der Schüler Marcions am Bibeltext ². Nicht immer muß hier der älteste Referent (Tertullian) Recht haben; denn auch sein Exemplar des Marcionitischen Evangeliums wird nicht das intakte Exemplar Marcions selbst gewesen sein. Daher kann auch in einzelnen Fällen Epiphanius die ursprüngliche LA Marcions aufbewahrt haben, Tertullian aber die sekundäre wiedergeben.
    Die Textrezension, der M. gefolgt ist, und die Frage, wie er diesen Text, abgesehen von seinen tendenziösen Korrekturen ³ gefaßt hat, bedürfen auch hier, wie beim Apostolikon einer besonderen Untersuchung 4.
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πολλὰ περιέκοψε τῶν τῆς ἀληθείας λόγων, ἄλλα δὲ παρὰ γεγραμμένα προστέθεικεν [dies bestätigt sich nur in bescheidensten Umfang], μόνῳ δὲ κέχρηται τούτῳ τῷ χαρακτῆρι, τῷ κατὰ Λουκᾶν εὐαγγελίῳ.
    ¹ S. den Anfang des Marcionitischen Evangeliums, ferner 5, 14; 6, 43; 8, 19; 8, 46; 10, 21 (bis); 10, 22; 12, 8; 12, 28; 12, 32; 13, 28 (bis); 16, 11 ff.; 24, 25 (bis); 24, 37; 24, 39 (bis). Auch die Stellen gehören hierher, wo M.s Text von zwei oder mehreren Zeugen als vorhanden und gleichlautend mit dem kanonischen bezeugt wird; ferner auch solche Stellen, wo Epiphanius oder Tertullian Lücken angibt und sich die Verse auch bei den anderen Zeugen nicht finden; s. z. B. 8, 40—42 a u. 49—56; 11, 29—32; 12, 6. 7; 13, 29—35; 15, 11—32; 18, 31—33; 19, 29—46; 20, 9—18; 20, 37. 38; 21, 18; 21, 21—24; 22, 16; 22, 35—37; 22, 49—51; 24, 40.
    ² S. zu c. 4, 16 f.; 5, 14 (bis); 5, 33; 5, 36 ff.; 7, 9; 7, 27; 9, 30; 10, 26. 27; 12, 4; 12, 39—48; 18, 18—23; 23, 46; 24, 25 u. a. Eine einheitliche Richtung oder Tendenz in den späteren Korrekturen läßt sich nicht nachweisen. Dazu ist das Material zu schmal und unsicher. Sicher ist, daß sie auch aus den anderen Evangelien ein paar Stellen aufgenommen haben, so Matth. 5, 17, aber mit Umkehrung des Gedankens.
    ³ Über diese ist in der Darstellung ausreichend gehandelt worden.
    4 Aus den Worten des unbekannten syrischen antimarcionitischen Polemikers: „... z. Z. des Pilatus des Pontiers, in jener Zeit, da das Ev. geschrieben wurde“, könnte man folgern, M. habe die Abfassung des Evangeliums in die Zeit des Pilatus verlegt. Unmöglich wäre das nicht, aber der Zusammenhang der Stelle legt die Annahme näher, daß sich der Autor mißverständlich ausgedrückt hat und sagen wollte, daß Christus nach M. erst z. Z. des Pilatus aufgetreten sei.


242* Beilage IV: Das Evangelium Marcions — Untersuchungen zum Evangelium Marcions


1.   D e r   C h a r a k t e r   d e s   v o n   M a r c i o n   b e n u t z t e n   T e x t e s.

    Der kritische Apparat ergibt zunächst dieselben Hauptresultate für das Evangelium, die oben S. 150* f sub (1)—(6) für das Apostol. festgestellt worden sind. An das   v i e r t e   ist hier noch einiges weitere anzuknüpfen.
    M.s   g r i e c h i s c h e r   u n d   l a t e i n i s c h e r   T e x t   d e s   L u k a s   E v. ¹   ist — abgesehen von seinen tendenziösen Eingriffen — e i n   r e i n e r  
WText ². Der Apparat bringt dafür Kapitel für Kapitel so zahlreiche Belege, daß sie hier nicht einzeln aufgeführt zu werden brauchen. Speziell aber dem Text im Cod. D steht M.s Text näher als jedem anderen Text ³. Marcion hat also sein Evangelium wahrscheinlich erst in Rom rezensiert. Wann die lateinische Obersetzung angefertigt ist und ob vielleicht die Marcionitische Übersetzung die Vorlage der katholischen ist, läßt sich hier so wenig sicher ermitteln, wie beim Apostolikon; aber, die letztere Frage anlangend, ist es hier, wie dort, höchst unwahrscheinlich, daß man nach dem verkürzten und tendenziös entstellten Latinum M.s den echten Text wiederhergestellt hat.
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    ¹ Die beiden Texte stehen sich außerordentlich nahe (wie beim Apostol.), d. h. die lateinische Übersetzung hat, soviel man zu urteilen vermag, fremde Einflüsse nicht erfahren.
    ² Ebendeshalb sind auch, wie beim Apostol., die Übereinstimmungen mit Syr. Curet. u. Sin. und mit den ägyptischen Versionen zahlreich; beachtenswert sind auch die Berührungen mit Sinait. (erste Hand). Daß M.s Text so zu beurteilen ist, hat   P o t t   bereits 1906 bezw. 1920 in seinen Arbeiten „Der Text des NT nach seiner geschichtlichen Entwicklung“ und „De text u evv. in saeculo secundo“ („Mnemosyne“ Juli u. Okt. 1920) nachgewiesen.
    ³ Dem Archetypus von a b c e aber fast ebenso nah. Die besondere Affinität D und Marcion ist im Ev. noch größer als im Apostol. Außerdem kommen auch hier, wie beim Ev., Irenaeus (Lat.), Ambrosiaster, Ambrosius usw. in Betracht. — In der Zeitschrift f. Kirchengesch. hat   P o t t   eine Abhandlung über den MText veröffentlicht (Bd. 42 H. 2, 1923 S. 202 ff.). Da sein Textmaterial über das   T i s c h e n d o r f sche   hinausgeht, hat er nachweisen können, daß 2 bis 3 Dutzend bisher als unbezeugt geltende indifferente Lesarten M.s doch, wenn auch ganz spärlich (und meistens von Zeugen des
WTextes), bezeugt sind.

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Indessen bedürfen die Varianten M.s im Zusammenhang mit dieser Frage noch einer Untersuchung ¹.
    Legt man den Text   T i s c h e n d o r f s   zugrunde und läßt man alles beiseite, was an Varianten und Ausmerzungen sicher oder höchst wahrscheinlich dem Marcion gebührt (weil es seine eigentümlichen Tendenzen aufweist,) ferner alles, was sonst unbezeugt ist, so zeigt die Hauptgruppe der Varianten, nämlich die 2—300, welche er mit dem
WText gemeinsam, hat,   e i n e n   s t a r k e n   E i n f l u ß   d e s   M a t t h. - T e x t e s   bzw. des Markus-Textes.
    Da es höchst unwahrscheinlich ist, um nicht mehr zu sagen, daß M. selbst den Lukastext dem von ihm abgelehnten Matthäus konformiert hat, so kann dem Schlusse nicht ausgewichen werden, obgleich, soviel ich sehe,   P o t t   ihn nicht anerkennt, daß M. bereits einen
WLukastext vorgefunden hat, der mit Matth. (bezw. auch mit Markus) konformiert war ².
    Hierzu kommen aber noch einige Stellen, in denen M. mit Matth. oder Mark. geht, ohne von Zeugen des
Wtextes oder überhaupt von einem Zeugen begleitet zu sein ³.
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    ¹ Ich habe mir einige griechische Worte zusammengestellt, die in dem Marcionitischen Bibeltext stehen gelassen sind; von besonderem Interesse scheinen sie mir nicht zu sein: allegorica, angelus, apostolus, arabon, architectus, baptizari, blasphemia, colophizari, diabolus, ecclesia, evangelium, (evangelizari, evangelizator), idolothyta, neomenia, paradisus, philosophia, propheta (prophetari, prophetia), pseudapostoli, scandalum, stigmata, synagoga.
    ² In einzelnen Fällen kann man streiten, ob überhaupt eine Konformierung vorliegt (s.   P o t t,   Zeitschr. f. KGesch. S. 208 f.) — in zahlreichen Fällen aber stehen Konformieningen fest. Für die Kanonsgeschichte ist die Beobachtung von großer Bedeutung: der in Rom um die Mitte des 2. Jahrhunderts gültige Text des Lukas war schon mit Matth. (Mark.) konformiert. — Die Konformationen sind gewiß mit vollem Bedacht unternommen.
    ³ Ich gebe hier keine Zusammenstellungen, wie in der ersten Auflage, weil ich durch   P o t t   belehrt bin, daß der   T i s c h e n d o r f sche Apparat nicht ausreicht, ich aber aus verschiedenen Gründen mit dem   S o d e n schen Apparat nicht zu arbeiten vermag. Doch ist der Schaden nicht groß; denn, unabhängig von zahlreichen Zweifeln im Einzelnen stehen die Beobachtungstatsachen fest (1) daß an zahlreichen Stellen, an denen M. denselben Text wie
W hat, synoptischer Einfluß vorliegt, (2) ein solcher auch dort hin und her zu konstatieren ist, wo M.s Text allein steht.

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    Daß in diesen Fällen, die alle stilistisch-lexikalischer Natur und sachlich ganz neutral sind, Marcion selbst die Konformierung mit den anderen Synoptikern vorgenommen hat, ist deshalb ganz unwahrscheinlich, weil sie sich den oben beurteilten Fällen einfach anschließen, in denen der von ihm benutzte WText bereits diese Konformierungen aufweist ¹. Daß M. innerhalb des WTextes, den er bezeugt, Sonderlesarten hat, ist ja zu erwarten; denn solche weist auch jeder andere der Zeugen (D, d, a, b, c, Ambrosiaster usw.) in großer Zahl auf. Tragen diese Sonderlesarten dieselben Züge wie die Lesarten, welche der Text zusammen mit seinen Familienverwandten aufweist, so gehören sie nicht dem einzelnen Text an, sondern der Familie. Natürlich stellen sie nicht   d e n   Typ des WTextes dar, sondern bereits eine harmonistische Abwandlung. Aber es bleibt mir unverständlich, warum   P o t t   das Unwahrscheinliche für wahrscheinlich hält, daß M. selbst für alle diese Harmonisierung mit Matth. „oft“ (S. 212 u. sonst) verantwortlich sei. Nur Gründe zwingendster Art könnten dazu führen, dies anzunehmen; sie fehlen aber gänzlich.
    Dogmatisch indifferente, sonst nicht oder kaum bezeugte Lesarten, unbeeinflußt von Matth. und Mark., finden sich in dem Text noch gegen 90 ². Daß sie M.s geistiges Eigentum sind und er sie ab-.
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    ¹ In einigen Fällen übrigens mag die Konformierung mit den anderen Synoptikern auf Rechnung des Tert. kommen (der selbst hin und her bei seinen Referaten zum Matth.-Text abgleitet, weil er ihn im Gedächtnis hatte), oder auf Rechnung (bei Epiphanius)   s p ä t e r e r   Einflüsse des Matth.-Textes auf den Marcion-Text. In bezug auf Tert. s. z. B. zu 6, 20; 12, 10. 24. 51 (IV, 14. 28. 29). An der ersten Stelle zitiert er beim zweiten Zitat des Spruchs „caelorum“ (nach Matth.) statt „dei“; an der zweiten schiebt er in der Auseinandersetzung „blasphemia“ (nach Matth.) ein, obgleich er den Spruch richtig nach Lukas-Marcion, nämlich ohne „blasphemia“, zitiert hatte. An der dritten fügt er aus der Erinnerung an den Matth.-Text „et tamen vestiuntur ab ipso“ hinzu, und an der vierten glaubt er, M. habe „machaeram“ aus dem Texte entfernt und durch ein anderes Wort ersetzt, aber bei Matth., nicht bei Luk., steht „machaeram“.
    ² Ich gebe diese Zusammenstellung ohne Gewähr dafür, daß nicht einzelne Stellen anders zu beurteilen sind. S. c, 4, 32; 5, 38; 6, 3 (bis). 9[?]. 12. 17 (ter). 22 (ter). 27 f. 29 (quater) 31. 38. 43 (bis); 7, 1. 16. 18 f.[?]. 23 (bis). 27. 28; 8, 18. 46; 9, 8. 19 (bis). 20. 22. 24. 30 (quinquies); 10, 21 (bis); 24 (ter); 11, 1. 11. 12. 20. 28. 46. 47; 12,


245* Beilage IV: Das Evangelium Marcions — Untersuchungen zum Evangelium Marcions

sichtlich eingebracht hat, ist nur für eine sehr kleine Gruppe wahrscheinlich. Auch sie gehören größtenteils zu dem Text, wie er ihn bereits vorgefunden hat. Ein nicht geringer Teil von ihnen wird übrigens der unsicheren Überlieferung zuzuschreiben sein, in der wir M.s Text besitzen; also bleibt im besten Fall nur ein sehr kleiner Teil übrig, der M. selbst zuzuweisen ist. Ich greife das 6. und das 16. Kapitel heraus, um eine Anschauung von der Art dieser Varianten zu geben ¹:
    6, 3 Χριστός > Ἰησοῦς.
    6, 3 τί > ὅ.
    6, 9 μή > κακοποιῆσαι (hat Tert. etwa willkürlich verkürzt?).
    6, 12 τοῦ πατρός > τοῦ θεοῦ.
    6, 17 κατέβη > καταβάς.
    6, 17 ἐν αὐτοῖς > μετ’ αὐτῶν.
    6, 22 ἔσεσθε > ἔστε.
    6, 22 Stellung von ὑμᾶς verändert.
    6, 22 fehlt ἀφορίσουσιν ὑμᾶς.
    6, 27. 28 Glied 2 und 3 dieses Spruchs in eins gezogen.
    6, 29 ἐάν τις > ὅστις.
    6, 29 ῥαπίσῃ > ῥαπίζει.
    6, 29 παράθες (πρόσθες?) > πάρεχε.
    6, 29 πρόσθες > μὴ κωλύσῃς.
    6, 31 καὶ καθὼς ὑμῖν γίνεσθαι θέλετε παρὰ τῶν ἀνθρώπων, οὕτω καὶ ὑμεῖς ποιεῖτε αὐτοῖς > καὶ καθὼς θέλετε ἵνα ποιῶσιν ὑμῖν οἱ ἄνθρωποι, καὶ ὑμεῖς ποιεῖτε ὁμοίως.
    6, 38 fehlt σεσαλευμένον.
    6, 43 der schlechte Baum vor den guten gestellt (dies war wohl Absicht).
    6, 43 προενεγκεῖν (προενέγκαι) > ποιεῖν.
    16, 12 εὑρέθητε > ἐγένεσθε.
    16, 12 Umstellung von ἀνθέξεται und καταφρονήσει.
    16, 16 ἐξ (ἀφ’) οὗ > ἀπὸ τότε.
—————
2 (bis). 8. 9 (ter). 41. 47 (bis); 13, 25; 16, 12. 16. 18 (bis). 21. 25. 26. 27, 28. 29. 31 (bis); 17, 11 f. (4, 27: ist hier eingeschaltet). 14 (bis). 19; 18, 22. 43; 20. 1. 5; 21. 10. 19. 26. 27. 28. 30 (bis). 34; 22, 4. 8. 67; 23, 33; 24, (4). 21 (bis). 26. 31. 38.
    ¹ Auch hier mag die eine oder andere Stelle unsicher sein, weil sie nicht bei M. allein steht.


246* Beilage IV: Das Evangelium Marcions — Untersuchungen zum Evangelium Marcions

    16, 18 ὁ > πᾶς ὁ.
    16, 18 ὁμοίως μοιχός ἐστιν > μοιχεύει.
    16, 21 τραύματα > ἕλκη.
    16, 25 Ἀβραάμ vorangestellt.
    16, 26 ὑμῶν κ. ἡμῶν > ἡμ. κ. ὑμ.
    16, 27 οἰκίαν > οἶκον.
    16, 28 ἐκεῖ > fehlt.
    16, 29 ἐκεῖ > fehlt.
    16, 31 ὁ δὲ εἶπεν > εἶπεν δὲ αὐτῷ.
    16, 31 ἀκούσωσιν αὐτοῦ > πεισθήσονται.
    „Χριστός“ statt „Ἰησοῦς“ und die Voranstellung des schlechten Baumes vor den guten mögen ebenso absichtliche Änderungen M.s sein ¹ wie „prodiit“ für ἠγέρθη (7, 16); aber abgesehen von diesen und ein paar anderen Ausnahmen ², zeigt die Natur auch dieser hier zusammengestellten, sonst unbelegten Varianten, daß wir es schwerlich mit M. selbst hier zu tun haben, sondern mit seiner Vorlage. Was sollte ihn auch bestimmt haben, diese Art von Diorthosen, die denen des
Wtextes so ähnlich sehen, vorzunehmen?
    Somit bleibt nur die große Anzahl seiner absichtlichen Auslassungen und tendenziösen Korrekturen übrig ³; denn daß Marcion daneben auch eine stilistische Korrektur des Textes vorgenommen hat, ist nach dem Ausgeführten unwahrscheinlich und ebenso
—————
    ¹ Doch s. über Χριστός oben S. 154*.
    ² Z a h n   ist geneigt, M. bei 6, 31 die Apostellehre berücksichtigen zu lassen, allein diese Annahme ist unnötig.
    ³ Die Stellen, um die es sich handelt (einschließlich solcher bei denen es zweifelhaft bleibt, ob M. sie gestrichen oder Tert. sie ausgelassen hat), sind mit annähernder Vollständigkeit salvo errore folgende: c. 1, 1—4, 32; 4, 34; 4, 36—39. 44; 5, 39; 6, 17. 23 a. (26). 30 b. 32—34. 47—49; 7, 28. 29—35; 8, 19. 20 f. 28. (32—37). 40—42 a. 49—56; 9, 23. 26 b. 27. 30. 31. 36. 49. 50. 54. 55; 10, 12—15. 21. 25. 26. 28. 29—37. 38—42; 11, 3. 4. 23—26. 29—32. 34—36. 42. 44. 45. 49—51. 53. 54; 12, 6. 7. 8. 9. 24—26. 28. 32. 46. 49—51; 13, 1—9. 22—24. 28. 29—35; 14, 1—11. 21. 25—35; 15, 10. 11—32; 16, 9. 10. 12. 15. 17. 26. 29. 30; 17, 5. 6. 11—19. 23. 24; 18, 20. (24—30); 31—33. 34. 37; 19, 9. (10). 28. 29—46. 47. 48; 20, 9—18. 35. 37. 38. 45—47; 21, 1—4. 13. 18. 21—24. 27. 32. 33; 22. 2. 3. 14. 16. 17. 18. 35—38. 39. 40. 42—46. 49—51. 52—62. 65. 68. 70. 71; 23, 2. 3. 4—5. 13—17. 25. 26—31. 34. 35—42. 43. (46). 54. 56; 24, 2. 21—24. 25. 27. 28. 29. 32—36 37. 39. 44—46. 47. 48—53.


247* Beilage IV: Das Evangelium Marcions — Untersuchungen zum Evangelium Marcions

die Annahme, er habe verkürzen, unterstreichen, verdeutlichen wollen. Das mag an einer oder der anderen Stelle einmal von ihm geschehen sein, ist aber für sein Verfahren nicht charakteristisch ¹.
    Ein Einfluß   s e i n e s   Textes auf die katholischen Texte hat nur in geringem Maße stattgefunden, sobald man die neutralen Sonderlesarten M.s nicht als   s e i n e   Lesarten, sondern als solche des
Wtextes beurteilt; aber einen gewissen Einfluß darf man sicher nicht mit   Z a h n   in Abrede stellen (indem man die LLAA als vormarcionitisch erklärt). Um dies Urteil zu begründen, stelle ich im Folgenden c. 5, 39; 9, 54 ff.; 22, 43 f.; 23, 2 a b; 23. 34; 24, 12; 24, 40 zusammen. Hier darf man bei einigen Stellen mit hoher Wahrscheinlichkeit, bei anderen mit Gewißheit urteilen, daß sie, die in einen Teil der Überlieferung übergegangen,   m a r c i o n i t i s c h   sind:
    1. K. 5, 39 (Οὐδεὶς πιὼν παλαιὸν θέλει νέον κτλ.) Dieser Vers fehlt bei M., und er fehlt in D a b c ff. ²* l Euseb > alle übrigen Zeugen. Er ist also echt und von M. aus sehr verständlichen Gründen gestrichen.
    2. K. 24, 12 (Ὁ δὲ Πέτρος ἀναστὰς ἔδραμεν ἐπὶ τὸ μνημεῖον˙ καὶ παρακύψας βλέπει τὰ ὀθόνια μόνα˙ καὶ ἀπῆλθεν πρὸς αὑτὸν θαυμάζων τὸ γεγονός). Dieser gut lukanisch stilisierte Satz ist bei M. nicht nachzuweisen; er fehlt sonst nur in D a b e l fu, einem Syrer, Eusebcan. Also ist er echt und von M. gestrichen, der den Petrus hier nicht wünschte.
    3. K. 24, 40 (καὶ τοῦτο εἰπὼν ἔδειξε αὐτοῖς τὰς χεῖρας καὶ τοὺς πόδας). Bei M. nicht nachzuweisen; er fehlt sonst nur in D a b e ff² l syrcu. Also ist er echt und von M. aus dogmatischen Gründen gestrichen.
    4. K. 22, 43 f. (der Engel und die Agonie in Gethsemane). Fehlt bei M., aber ist so stark bezeugt, daß die Erzählung außer in der alexandrinischen Überlieferung (ℵBA usw.) nur sehr selten fehlte und auch so gut wie das ganze Abendland sie bestätigt. Sie ist sicher echt und M. hat sie aus dogmatischen Gründen getilgt. Ob der alexandrinische Text durch ihn beeinflußt worden ist oder die Alexandriner spontan Anstoß genommen haben, läßt sich nicht entscheiden; ersteres ist mir wahrscheinlich.
    K. 9, 54 (ὡς καὶ Ἠλίας ἐποίησεν) u. 9, 55 (καὶ εἶπεν˙ οὐκ
—————
    ¹ Mann kommt hier also zu demselben Ergebnis wie beim Apostolikon.

248* Beilage IV: Das Evangelium Marcions — Untersuchungen zum Evangelium Marcions

οἴδατε [vgl. das οὐκ οἴδασιν 23, 34] οἵου πνεύματός ἐστε ὑμεῖς) finden sich und zwar — 54 in D a b c f g AC und den meisten Majuskeln cop syr (aber nicht syrcu) aeth. go Basil. Chrys.; 55 in D, zahlreichen Majuskeln, a b c e f g ² q vulg go cop syr arm aeth. und vielen KKVV. Da die Stücke höchstwahrscheinlich bei M. standen und ausgezeichnet zu seiner Lehre passen, sind sie von ihm hinzugefügt und nun in die katholischen Mss. gedrungen. Wahrscheinlich gilt dies auch von dem Satz 9, 56 (ὁ γὰρ υἱὸς τοῦ ἀνθρώπου οὐκ ἦλθε ψυχὰς ἀνθρώπων ἀπολέσαι ἀλλὰ σῶσαι), den mehrere Majuskeln und a b c e f q vulg cop usw. bieten; leider fehlt uns hier der Marcion-Text; aber angesichts der überwältigenden Zahl von Zeugen   g e g e n   den Vers, kann er nicht ursprünglich sein. Wer aber sollte ihn hinzugefügt haben, wenn nicht M.?
    6. K. 23, 2 (καὶ καταλύοντα τὸν νόμον καὶ τοὺς προφήτας und καὶ ἀποστρέφοντα τὰς γυναῖκας καὶ τὰ τέκνα) Zwei Zusätze M.s, von dem es b c e ff ² i l q gat mm, bez. (den zweiten) c und e übernommen haben.
    7. K. 23, 34 (ὁ δὲ Ἰησοῦς ἔλεγεν˙ Πάτερ, ἄφες αὐτοῖς, οὐ γὰρ οἴδασιν [dies gewinnt nun einen prägnanten Sinn: Die Schergen des Weltschöpfers können vom guten Gott nichts wissen] τί ποιοῦσιν. Von M. hinzugesetzt und eingedrungen in ℵ* u. c ACD gr2 viele Majuskel, c e f ff ² l vulg cop ¹ syr arm aeth Iren. > ℵa (uncis includit) BD* a b d sah cop ². Daß es, obgleich ursprünglich, getilgt worden, ist ganz undenkbar. Zu diesen Stellen gehört auch 4, 16 (s. S. 186*).
    Mit einem Blick erkennt man, daß M.s Text sofort in den
Wtext gelangt sein muß und sich durch diesen teilweise verbreitet hat. Man beachte, daß der Palat. Vindob. (e) an allen diesen Stellen mit M. geht, der Colbert. (c) und Veronen. (b) fünfmal, D und der Vercell. (a) viermal usw. ¹.
—————
    ¹ Daß 24, 40 lukanisch ist, folgt besonders aus der Vergleichung mit 5, 39; hält man (mit Recht) diese Stelle für ursprünglich, so darf man 24, 40 dem Lukas nicht absprechen; denn sie hat fast dieselbe Überlieferung wie 5, 39. Es ist auch an sich ganz unwahrscheinlich, daß ein Zusatz zu Lukas in   a l l e   Mss. gekommen ist mit Ausnahme D a b e ff² l syrcu, während die umgekehrte Annahme, daß er in dem Archetypus dieser Zeugen gestrichen war, keine überlieferungsgeschichtliche Schwierigkeit macht. D hat übrigens allein noch eine wichtige Marcionitische LA aufgenommen; er liest nach M. in Luk. 24, 37 nicht πνεῦμα, sondern φάντασμα. Ferner

249* Beilage IV: Das Evangelium Marcions — Untersuchungen zum Evangelium Marcions


2.   M a r c i o n,   d a s   L u k a s - E v.   u n d   d i e  d r e i   a n d e r e n   E v a n g e l i e n.

    Daß Marcion Matth., Mark. und Joh. gekannt hat — vor zwei Menschenaltern noch eine umstrittene Frage — braucht bei dem gegenwärtigen Stande der Kanons- und Textgeschichte nicht erst bewiesen zu werden ¹. Aber auch darin hatte die konservative Kritik recht, daß M. seine Ablehnung dieser Evv. in seinen „Antithesen“ ausdrücklich begründet hat ². Nicht so einfach ist es aber, sich eine Vorstellung darüber zu bilden, wie er zu dem Ev. gestanden hat, das er sich zur Grundlage seines Ev.s erwählte, zu Lukas. Hätte er es für ein vom Anfang an verfälschtes Ev. gehalten, wie die anderen, so versteht man nicht, warum er gerade dieses Ev. erwählt hat und sich ihm so enge anschloß; er hätte in diesem Fall aus allen vier Evv. herausnehmen können, was ihm probehaltig schien und sein Ev. als eine Art von „Diatessaron“ oder „Diatrion“ komponieren können. Hielt er es aber für ein ursprünglich richtiges Ev. (wie die Paulusbriefe für ursprünglich richtige Briefe), warum unterdrückte er den Namen des Autors, der ihm doch eine hohe Autorität hätte sein müssen? ³ Aber nicht nur unterdrückt hat er ihn, sondern hat auch höchst wahrscheinlich die freundliche Äußerung des Paulus in Kol. 4, 14 getilgt und die Apostelgeschichte ausdrücklich verworfen (s. o. S. 124*). Aus dem Dilemma, welches hier vorliegt, gibt es nur   e i n e n   Ausweg: M. muß angenommen
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ist die tendenziöse Korrektur in 16, 12 (τὸ ἐμόν für τὸ ὑμέτερον) in e i l und eine Minuskel gedrungen. Marcionitische Lesarten können mit Recht noch an einigen Stellen von D G bzw. im
Wtext vermutet werden, wo uns der Wortlaut des Marcionitischen Textes fehlt; aber ein sicherer Beweis läßt sich nicht führen.
    ¹ Ephraem hat „die Schriften“ der Marcioniten, d. h. ihr Neues Testament und die Antithesen gelesen. Aus den letzteren wird es stammen, wenn er sagt, die Marcioniten spotteten über die Hochzeit zu Kana (47. Lied gegen die Ketzer, c. 2).
    ² S. dort.
    ³ Daß er das Ev. namenlos, d. h. ohne den Namen des Lukas, von der Überlieferung empfangen hat, ist ganz unwahrscheinlich: menschliche Autoritäten wollte M., Paulus ausgenommen, den Christus erweckt hat, nicht gelten lassen. Man darf daher nicht etwa folgern, daß unser 3. Ev. ursprünglich ohne den Namen des Lukas überliefert worden sei, weil M. diesen Namen nicht bietet.


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haben, das Luk. Ev. sei in seiner ursprünglichen Gestalt ein himmlisches Geschenk Christi an die Kirche, das ihr auf geheimnisvolle Weise zugekommen ist ¹; Lukas aber, der judaistische Verf. der Apostelgesch., habe dieses reine Ev. verfälscht, und er, Marcion, sei erweckt worden, um diese Fälschungen wiederauszumerzen.   N i e m a l s   und   n i r g e n d w o   hat M. behauptet, daß er das unverfälschte Ev. in einem Exemplare wieder   a u f g e f u n d e n,   sondern stets nur, daß er es   w i e d e r   h e r g e s t e l l t   habe. Hinter dem Ev., wie er es der Kirche bot, steht also keine apostolische Autorität (oder nur eine indirekte, sofern Paulus es als sein Ev. anerkannt hat), sondern Christus, von dem es die Kirche hat, und Marcion. Nur diese Auffassung wird den Zeugnissen des Irenäus, Tertullian und Origenes gerecht, sowie dem einfachen Titel: Εὐαγγέλιον. Dieser Tatbestand erklärt es auch, daß spätere Marcioniten an Christus selbst als Verfasser gedacht haben oder an Paulus (s. o.).
    Daß aber M. aus der Zahl der vier Evangelien sich das des Lukas erwählt und in ihm allein das freilich verfälschte Evangelium Christi und Paulus’ erblickt hat, obgleich ihm doch Lukas ebenso ein „Judaist“ war wie die anderen Evangelisten, ist wohl in der Art dieses Evangeliums begründet (wenn nicht Lukas das erste Evangelium gewesen, das in den Pontus gekommen ist, und er es deshalb bevorzugte). Wir werden annehmen dürfen, daß er die vier Evangelien sehr eingehend geprüft hat, bevor er sich entschied. Der „heidenchristliche“ und asketische Charakter des 3. Evangeliums gegenüber dem 1. und 2., nachdem die drei ersten Kapitel des Werks getilgt waren, muß ihm sympathisch gewesen sein; auch den Markus übrigens hätte M. ohne größere Mühe sich für seine Zwecke dienstbar machen können. Vor dem 4. Evangelium mußte er zurückschrecken um des Prologs willen, der ihm höchst anstößig sein mußte, und wenn er
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    ¹ Wann und wie, darüber hat sich M. in den „Antithesen“ nicht geäußert, und das brachte eine Ungewißheit und Unklarheit, der gegenüber Tert. ratlos war und daher in seiner Polemik selbst unklar werden mußte: war das geschriebene „wahrhaftige“ Ev. nach M. von Anfang an da? Lag es also schon vor, als Paulus gegen die Urapostel auf dem Konzil stritt? Diese Fragen sind nach M. gewiß zu bejahen: das Ev., welches Paulus „mein“ Ev. nennt, hat er empfangen, als er bekehrt wurde. Wie es zustande gekommen ist, hat M. augenscheinlich nicht bekümmert.

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ihn strich, stieß er alsbald auf die Hochzeit zu Kana und auf anderes, was ihm antipathisch war. Daß das Buch im sublimierten Geiste des dem M. widerlichen Spätjudentums wurzelte und voll von Allegorien war, die er ablehnte, machte es ihm unmöglich, ihm zu folgen. Aus Iren. III, 11, 2 („Secundum Marcionem et eos qui similes sunt ei neque mundus per logon factus est neque in sua venit, sed in aliena“) kann man nicht sicher schließen, daß M. eine Kritik des Prologs des Joh. Ev. in den Antithesen gegeben hat; aber unwahrscheinlich ist es nicht.
    Die Verwerfung der drei Evv. schließt an sich a priori nicht aus. daß M. aus ihnen einen oder den anderen Spruch seinem Ev. einverleibt oder bei der Fassung der Sprüche auf ihr Zeugnis vielleicht einmal Rücksicht genommen hat ¹. Die letztere Annahme muß in der Tat offen bleiben, obgleich, wie wir gesehen haben, mindestens die große Menge der Stellen, an denen der Text M.s gegen Lukas mit Matth. (Mark.) geht, aus Konformierungen zu erklären ist, die schon stattgefunden hatten, bevor M. seine tendenzkritische Arbeit unternahm. Immerhin aber steht der Annahme nichts in Wege, daß unter der erheblichen Zahl von Konformierungen, die nur durch M. und nicht durch andere Zeugen des
Wtextes bezeugt sind, sich vielleicht einige befinden, die M. selbst eingeführt hat, wenn man sie auch nicht zu bezeichnen vermag.
    Darüber hinaus aber hat sich   H a h n   große Mühe gegeben zu erweisen, das auch ganze Verse aus den anderen Evangelien von M. rezipiert worden sind. Diese Bemühungen haben heute das Gewicht nicht mehr wie früher; denn letztlich sollten sie dem Nachweis dienen, daß M. bereits die vier Evangelien in der Kirche vorgefunden hat. Dies werden nur noch wenige bestreiten; doch bleibt die Frage immerhin wichtig, ob M. wirklich aus den drei anderen Evv. etwas entlehnt hat.
    Hier aber hat selbst   Z a h n,   der gerne Matthäus-Verse im Ev. des M. gefunden hätte, anerkannt ², daß die drei Stellen aus Matth., die allein in Betracht kommen können, nämlich c. 1, 23
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    ¹ Eine Vergleichung des „echten“ Evangeliums mit den falschen mußte ja M. lehren, daß diese nicht durch und durch falsch waren, vielmehr viel Gutes enthielten, weil z. T. fast wörtlich dasselbe auch im „wahrhaftigen“ Ev. stand.
    ² A. a. O. I S. 666 ff.


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kombiniert mit 2, 11 (in Beziehung auf Jes. 7. 14 und 8‚ 4), ferner 5, 17 und 19, 12 ff. nicht in das Ev. von ihm aufgenommen worden sind, sondern daß er sich in den Antithesen mit ihnen auseinandergesetzt hat ¹. Erst spätere Marcioniten haben die Worte (5, 17), die ihr Meister ausdrücklich als einen dem wahren Ev. fremden Zusatz bezeichnet hatte ², ins Gegenteil verkehrt und in das Ev. aufgenommen (οὐκ ἦλθον πληρῶσαι τὸν νόμον ἀλλὰ καταλῦσαι). Das bezeugt sowohl der Marcionit Markus bei Adamantius ³ als auch Isidor von Pelusium; der letztere gibt dazu noch an, an welcher Stelle im Ev. (ungefähr) die Eintragung stattgefunden hat 4. Vorbereitet hat die Einschiebung übrigens M. selbst durch seinen Zusatz in c. 23, 2, wo er die Ankläger Jesu sagen läßt: τοῦτον εὕρομεν καταλύοντα τὸν νόμον καὶ τοὺς προφήτας. Auch sonst haben spätere Marcioniten wahrscheinlich ein paar Zusätze aus Matth. eingefügt. Ziemlich sicher ist das in bezug auf Matth. 20, 20 ff.; denn wenn nach Orig. Marcioniten erklärten, Paulus sitze im Himmel zur Rechten Gottes, M. zur Linken (Hom. XXV in Luk., T. V p. 181 f.), so können sie diese Phantasie schwerlich an einen anderen Text angeschlossen haben.
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    ¹ Dort sind sie auch von uns behandelt. In I, 24 hält Tert. dem M. Matth. 5, 48 vor („Seid vollkommen wie euer Vater im Himmel“); er hat wohl vergessen, daß das Wort nicht in M.s Ev. steht. In II, 17 sagt er, M. habe den Spruch von dem Gott, der seine Sonne aufgehen läßt über Gute und Böse (Matth. 5, 45) aus dem Ev. gestrichen. Entweder denkt hier Tert. an das vierfache Ev. als an eine Einheit oder er besann sich nicht darauf, daß der Spruch nicht bei Lukas steht. Daß Epiph. (haer. 42, 3) Marcion Mark. 10, 38 in den Mund legt, käme an sich nicht in Betracht, wenn es nicht auch Origenes bezeugte.
    ² S. Tert. IV, 7. 9. 12. 36; V, 14.
    ³ Adamant., Dial. II, 15; hier sagt der Marcionit Markus: Τοῦτο (Matth. 5, 17) οἱ Ἰουδαϊσταὶ ἔγραψαν˙ οὐκ οὕτως δὲ εἶπεν ὁ Χριστός, λέγει γάρ˙ ‚Οὐκ ἦλθον πληρῶσαι τὸν νόμον ἀλλὰ καταλῦσαι‘. Darauf Adamant.: Ἐστὶ καὶ τοῦτο τῆς ὑμετέρας τόλμης ὥσπερ τὰ λοιτὰ καὶ τοῦτο ἐναλλάξαι.
    4 Isidor Pelus., ep. I, 371: (Im Ev. M.s wirst du die Genealogie Christi getilgt finden „und   w e n n   d u   n o c h   e t w a s   w e i t e r   l i e s t,   w i r s t   d u   n o c h   e i n e   a n d e r e   B o s h e i t   s e h e n),   ἀμείψαντες γὰρ τὴν τοῦ κυρίου φωνὴν ‚Οὐκ ἦλθον‛ λέγοντος ‚καταλῦσαι τὸν νόμον ἢ τοὺς προφήτας‛ ἐποίησαν˙ ‚Δοκεῖτε ὅτι ἦλθον πληρῶσαι τὸν νόμον ἢ τοὺς προφήτας; ἦλθον καταλῦσαι, ἀλλ’ οὐ πληρῶσαι‛. Die Fassung hier ist die zuverlässigere gegenüber der des Marcioniten Markus.


253* Beilage IV: Das Evangelium Marcions — Untersuchungen zum Evangelium Marcions

    Nach   Z a h n ¹   soll Marcion selbst vier Stellen aus dem Joh. Ev. in sein Ev. aufgenommen haben, bzw. sich von ihnen abhängig erweisen; aber der Beweis reicht für keine der Stellen aus. Weil M. in Luc. 11. 13 zu ἄρτον in der 4. Bitte σου gestellt und damit die geistliche Deutung vorgeschrieben habe, soll er von Joh. 6, 33 beeinflußt sein. Diese Kombination darf man auf sich beruhen lassen. In den Dialogen des Adamantius wird II, 20 Joh. 13, 34 („Ein neues Gebot gebe ich euch, daß ihr euch untereinander liebet, wie der Vater euch geliebt hat“) und II, 20 Joh. 15. 19 („Wenn ihr aus dieser Welt wäret, so würde die Welt ihr Eigentum lieben“) vom Marcioniten Markus (im ersten Fall ausdrücklich als aus seiner Bibel) zitiert mit kleinen Abweichungen, die Marcionitisch anmuten. Es ist daher anzunehmen, daß diese Worte in einer späteren Marcionitischen Bibel gestanden haben; aber der Beweis läßt sich nicht erbringen, daß schon M. selbst sie eingefügt hat. Endlich teilt Chrysostomus mit, daß die Marcioniten in ihrer Auslegung von Phil. 2, 6 f. in der Fußwaschung die Annahme der Knechtsgestalt des Erlösers erkennen ². Auch hier hat man keine Gewähr dafür, daß M. selbst die Fußwaschung in sein Ev. aufgenommen hat — so wenig, wie man aus der Phantasie der Marcioniten bei Origenes, M. sitze im Himmel zur Linken Christi, schließen darf, M. selbst habe Matth. 20, 20 ff. in sein Evangelium aufgenommen (s. o.). Nicht unmöglich ist es, daß er die Fußwaschung in den Antithesen behandelt hat.
    Marcions Ev. ist mithin ausschließlich ein verfälschtes Lukasev.; M. hat schlechterdings keinen   S t o f f   aus einem anderen Ev. hinzugenommen; mögen auch in den Konformierungen (mit Matth.) einige Stellen auf ihn zurückgehen (?). In diesen Fällen müßte er angenommen haben, daß der Fälscher des echten Ev.s, Lukas, etwas geändert hatte, was zufällig in dem judaistischen Ev. des Matth. der Verfälschung entgangen ist. Doch alles, was hier vielleicht in Betracht kommt, ist ohne Bedeutung.
    Diese   R e i n h e i t   des Ev.s M.s von allen „apokryphen“
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    ¹ A. a. O. I S. 675 ff.
    ² Hom. VII in Phil. (T. XI p. 246): Μορφὴν δούλου, φασίν, ἔλαβεν, ὅτι τὸ λέντιον περιζωσάμενος ἔνιψε τοὺς πόδας τῶν μαθητῶν.


254* Beilage IV: Das Evangelium Marcions — Untersuchungen zum Evangelium Marcions

Stoffen ist sehr bemerkenswert ¹. Wie anders steht es bei Justin oder im 2. Clemensbrief! Die exklusive Energie, mit der er den NTlichen Kanon von 1+10 Schriften geschaffen hat, zeigt sich auch in der festen Beschränkung auf   e i n e   Quelle in bezug auf den evangelischen Stoff. Es spricht aus diesem Verfahren, das mit dem Ausschluß von Prophetien und Apokalypsen jeglicher Art sowie mit der Ablehnung der allegorischen Erklärung zusammengehalten werden muß, die feste Absicht, allen Unsicherheiten zu begegnen und der Verkündigung der neuen Religion eine sichere Grundlage zu geben.
    Aber da M. Unfehlbarkeit für seinen Evangelientext nicht in Anspruch nehmen konnte, haben sofort in seiner Kirche die Textänderungen begonnen, d. h. sich fortgesetzt. Das war so notorisch und anstößig, daß selbst der gründliche Kämpfer gegen das Christentum, Celsus, wenige Jahre nach M.s Tod, mißbilligend davon Notiz genommen hat (c. Cels. II, 27) und Tert. ausdrücklich bemerkt, daß diese „Bibelverbesserung“ noch immer geübt werde, ja daß selbst die Streitunterredungen oder -schriften mit den Katholiken den Marcioniten Anlaß zu ihnen gaben ². Über die tendenziösen Korrekturen M.s s. die Untersuchung oben in dem Hauptteil.
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    ¹ Daß M. den Spruch Luk. 9, 60 als an Philippus gerichtet bezeichnet hat (Clemens Alex., Strom. III, 4, 25), ist nicht gewiß; es kann auch diese apokryphe Adresse auf einem Irrtum des Clemens beruhen. Der Spruch lautet übrigens bei Clemens anders (ἄφες τοὺς νεκροὺς θάψαι τοὺς ἑαυτῶν νεκρούς, σὺ δὲ ἀκολούθει μοι), als er für M. bezeugt ist. — Einen, unter Verwendung von Matth. 5, 9. 10 frei gestalteten Spruch im Ev. des M. mußte man früher der Stelle Clem., Strom. IV, 6, 41 entnehmen; hier heißt es nach früherer Lesung: „Μακάριοι“, φησίν, „οἱ δεδιωγμένοι ἕνεκεν δικαιοσύνης, ὅτι αὐτοὶ υἱοὶ θεοῦ κληθήσονται“, ἢ ὥς τινες τῶν μετατιθέντων τὰ εὐαγγέλια˙ „Μακάριοι“‚ φησίν, „οἱ δεδιωγμένοι ὑπὸ τῆς δικαιοσύνης, ὅτι αὐτοὶ ἔσονται τέλειοι“. Nur M. kann die selig gepriesen haben, die   v o n   der Gerechtigkeit verfolgt werden. Allein nach dem Text von   S t ä h l i n   ist ὑπό ein Lesefehler; es ist ὑπέρ zu lesen. Dann hat Clemens die Fälschung ausschließlich in dem „ἔσονται τέλειοι“ gesehen und an Marcion zu denken, liegt kein sicherer Grund vor, da auch andere die Evangelien verfälscht haben.
    ² Tert. IV, 5: „Cotidie (Marcionitae) reformant evangelium, prout a nobis quotidie revincuntur“.


255* Beilage IV: Das Evangelium Marcions — Untersuchungen zum Evangelium Marcions


Anhang: Marcions Evangelium und Tatians Diatessaron.

    Kurze Zeit nach Marcion hat Tatian sein „Diatessaron“ hergestellt. Er teilte die asketischen Grundsätze mit M.; er lehrte wie dieser einen Demiurg, wenn er ihn auch freundlicher beurteilte; er sprach Adam die Seligkeit ab, und er verfaßte ein uns leider nicht erhaltenes Werk, dessen Titel „Probleme“ an die „Antithesen“ M.s erinnert. Die Vermutung liegt daher nahe, daß sein Evangelienwerk eine gewisse Verwandtschaft mit dem Marcionitischen hatte. In der Tat fehlten auch in dem Diatessaron die Genealogien Jesu, und Luk. 2, 34 hat Tatian „viele in Israel“, Matth. 1, 20 die Davidssohnschaft getilgt. Allein darüber hinaus lassen sich, soviel ich sehe, innerlich verwandte Züge zwischen den beiden Evangelien nicht finden. Sofern M.s
Wtext mit den alten Syrern geht und der Text Tatians ihnen, aber auch sonst dem Wtext nahesteht, besteht eine Verwandtschaft ¹ aber M.s tendenziöse Korrekturen haben auf Tatian keinen Einfluß geübt. Daher darf man auch annehmen, daß er aus anderen Gründen als M. und unbeeinflußt von ihm die oben bezeichneten Korrekturen vorgenommen hat.
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    ¹ Zur Zeit ist es noch nicht möglich, eine Vergleichung der beiden Texte anzustellen; erst muß der Tatian-Text, quoad fieri potest, hergestellt sein.





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Letzte Änderung am 14. August 2019