ADOLF VON HARNACK
MARCION: DAS
EVANGELIUM VOM FREMDEN GOTT
Beilage IV C, Seite 240*—255*
240*
Beilage IV: Das Evangelium Marcions
C.
Untersuchungen zum Evangelium Marcions.
Daß das Evangelium Marcions
nichts anderes ist als was das altkirchliche Urteil von ihm behauptet
hat, nämlich ein verfälschter Lukas ¹, darüber
braucht kein Wort mehr verloren zu werden ². Häufiger als im
Apostolikon ist der eigentümliche Text
—————
¹ Daß Hippolyt, der in
dem Syntagma (s. Pseudotert. unter „Cerdo“, Filastr., haer. 45) dies
ausdrücklich sagt, in der Refut. VII, 30 Marcions Evangelium auf
das M a r k u s - Ev. zurückführt, gehört zu den
mancherlei Unbegreiflichkeiten, die dieses Werk im Verhältnis zum
Syntagma aufweist. Hippolyt muß geschlafen haben, als er dies
niederschrieb, oder die Erinnerung an den wahren Tatbestand muß
dem alten Manne so verblaßt gewesen sein, daß sich ihm das
kurze Ev. des Markus und der „stummelfingerige“ Markus — so nennt er
ihn, auf eine alte Überlieferung über ihn anspielend — mit
dem verkürzten Lukas in einem wirren tertium comparationis
vermengte. — Soeben ist ein durch Fleiß ausgezeichnetes, aber
ganz unbrauchbares Buch von R a s c h k e über
das Markus-Ev. erschienen, welches nicht nur dies Ev. für das
Marcion-Ev. erklärt, sondern auch Markus mit Marcion identifiziert
und unter anderem unter den 12 Jüngern den Kaiser Hadrian, den
Vierfürst Philippus, Theudas usw. findet, auch in dem „fliehenden
Jüngling“ bei Markus den von Jesus sich entfernenden
Christus-Geist sieht.
² Epiph., haer. 42, 9: Οὗτος ἔχει εὐαγγέλιον
μόνον τὸ κατὰ Λουκᾶν, περικεκομμένον ἀπὸ τῆς ἀρχῆς διὰ τῆν τοῦ σωτῆρος
σύλληψιν καὶ τῆν ἔνσαρκον αὐτοῦ παρουσίαν. οὐ μόνον δὲ τὴν ἀρχὴν
ἀπέτεμεν ὁ λυμηνάμενος ἑαυτὸν, <μᾶλλον> ἤπερ τὸ εὐαγγέλιον, ἀλλὰ
καὶ τοῦ τέλους καὶ τῶν μέσων
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Beilage IV: Das Evangelium Marcions
— Untersuchungen zum Evangelium Marcions
M.s durch zwei
(und mehrere) Zeugen beglaubigt ¹. Ganz wie beim Apostolikon
schwankt aber auch bei einer Anzahl von Stellen die Überlieferung
— in zahlreichen Fällen gewiß infolge der Ungenauigkeit der
Referenten, aber in anderen Fällen ebenso sicher infolge der
fortgesetzten Arbeiten der Schüler Marcions am Bibeltext ².
Nicht immer muß hier der älteste Referent (Tertullian) Recht
haben; denn auch sein Exemplar des Marcionitischen Evangeliums wird
nicht das intakte Exemplar Marcions selbst gewesen sein. Daher kann
auch in einzelnen Fällen Epiphanius die ursprüngliche LA
Marcions aufbewahrt haben, Tertullian aber die sekundäre
wiedergeben.
Die Textrezension, der M. gefolgt ist, und die
Frage, wie er diesen Text, abgesehen von seinen tendenziösen
Korrekturen ³ gefaßt hat, bedürfen auch hier, wie beim
Apostolikon einer besonderen Untersuchung 4.
—————
πολλὰ περιέκοψε τῶν τῆς ἀληθείας λόγων, ἄλλα δὲ παρὰ
γεγραμμένα
προστέθεικεν [dies bestätigt sich nur in bescheidensten Umfang],
μόνῳ δὲ κέχρηται τούτῳ τῷ χαρακτῆρι, τῷ κατὰ Λουκᾶν εὐαγγελίῳ.
¹ S. den Anfang des Marcionitischen
Evangeliums,
ferner 5, 14; 6, 43; 8, 19; 8, 46; 10, 21 (bis); 10, 22; 12, 8; 12, 28;
12, 32; 13, 28
(bis); 16, 11 ff.; 24, 25 (bis); 24, 37; 24, 39 (bis). Auch die Stellen
gehören hierher, wo M.s Text von zwei oder mehreren Zeugen als
vorhanden und gleichlautend mit dem kanonischen bezeugt wird; ferner
auch solche Stellen, wo Epiphanius oder Tertullian Lücken angibt
und sich die Verse auch bei den anderen Zeugen nicht finden; s. z. B.
8, 40—42 a u. 49—56; 11, 29—32; 12, 6. 7; 13, 29—35; 15, 11—32; 18,
31—33; 19, 29—46; 20, 9—18; 20, 37. 38; 21, 18; 21, 21—24; 22, 16;
22, 35—37; 22, 49—51; 24, 40.
² S. zu c. 4, 16 f.; 5,
14 (bis); 5, 33; 5, 36 ff.; 7, 9; 7, 27; 9, 30; 10, 26. 27; 12, 4; 12,
39—48; 18, 18—23; 23, 46; 24, 25
u. a. Eine einheitliche Richtung oder Tendenz in den späteren
Korrekturen läßt sich nicht nachweisen. Dazu ist das
Material zu schmal und unsicher. Sicher ist, daß sie auch aus
den anderen Evangelien ein paar Stellen aufgenommen haben, so Matth. 5,
17, aber mit Umkehrung des Gedankens.
³ Über diese ist in der Darstellung
ausreichend
gehandelt worden.
4 Aus den Worten
des unbekannten syrischen
antimarcionitischen Polemikers: „... z. Z. des Pilatus des
Pontiers, in jener Zeit, da das Ev. geschrieben wurde“, könnte man
folgern, M. habe die Abfassung des Evangeliums in die Zeit des Pilatus
verlegt. Unmöglich wäre das nicht, aber der Zusammenhang der
Stelle legt die Annahme näher, daß sich der Autor
mißverständlich ausgedrückt hat und sagen wollte,
daß Christus nach M. erst z. Z. des Pilatus aufgetreten sei.
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Beilage IV: Das Evangelium Marcions
— Untersuchungen zum Evangelium Marcions
1. D e
r C h a r a k t e r d e s v o
n M a r c i o n b e n u t z t e n T
e x t e s.
Der kritische Apparat ergibt zunächst dieselben
Hauptresultate für das Evangelium, die oben S. 150* f sub (1)—(6) für das
Apostol. festgestellt worden sind. An das v i e r t e
ist hier noch einiges weitere anzuknüpfen.
M.s g r i e c h i s c h e r
u n d l a t e i n i s c h e r T e x t d e s
L u k a s E v. ¹ ist — abgesehen von
seinen tendenziösen Eingriffen — e i n r e i n e
r WText
². Der Apparat bringt dafür Kapitel für Kapitel so
zahlreiche Belege, daß sie hier nicht einzeln aufgeführt zu
werden brauchen. Speziell aber dem Text im Cod. D steht M.s Text
näher als jedem anderen Text ³. Marcion hat also sein
Evangelium wahrscheinlich erst in Rom rezensiert. Wann die lateinische
Obersetzung angefertigt ist und ob vielleicht die Marcionitische
Übersetzung die Vorlage der katholischen ist, läßt sich
hier so wenig sicher ermitteln, wie beim Apostolikon; aber, die
letztere Frage anlangend, ist es hier, wie dort, höchst
unwahrscheinlich, daß man nach dem verkürzten und
tendenziös entstellten Latinum M.s den echten Text
wiederhergestellt hat.
—————
¹ Die beiden Texte stehen sich
außerordentlich nahe (wie beim Apostol.), d. h. die lateinische
Übersetzung hat, soviel man zu urteilen vermag, fremde
Einflüsse nicht erfahren.
² Ebendeshalb sind auch, wie beim Apostol., die
Übereinstimmungen mit Syr. Curet. u. Sin. und mit den
ägyptischen Versionen zahlreich; beachtenswert sind auch die
Berührungen mit Sinait. (erste Hand). Daß M.s Text so zu
beurteilen ist, hat P o t t bereits 1906 bezw. 1920
in seinen Arbeiten „Der Text des NT nach seiner geschichtlichen
Entwicklung“ und „De text u evv. in saeculo secundo“ („Mnemosyne“ Juli
u. Okt. 1920) nachgewiesen.
³ Dem Archetypus von a b c e aber fast ebenso
nah. Die besondere Affinität D und Marcion ist im Ev. noch
größer als im Apostol. Außerdem kommen auch hier, wie
beim Ev., Irenaeus (Lat.), Ambrosiaster, Ambrosius usw. in Betracht. —
In der Zeitschrift f. Kirchengesch. hat P o t t eine
Abhandlung über den MText veröffentlicht (Bd. 42 H. 2, 1923
S. 202 ff.). Da sein Textmaterial über das T i s c h e
n d o r f sche hinausgeht, hat er nachweisen können,
daß 2 bis 3 Dutzend bisher als unbezeugt geltende indifferente
Lesarten M.s doch, wenn auch ganz spärlich (und meistens von
Zeugen des WTextes), bezeugt sind.
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Beilage IV: Das Evangelium Marcions
— Untersuchungen zum Evangelium Marcions
Indessen
bedürfen die Varianten M.s im Zusammenhang mit dieser Frage noch
einer Untersuchung ¹.
Legt man den Text T i s c h e n d o r f
s zugrunde und läßt man alles beiseite, was an
Varianten und Ausmerzungen sicher oder höchst wahrscheinlich dem
Marcion gebührt (weil es seine eigentümlichen Tendenzen
aufweist,) ferner alles, was sonst unbezeugt ist, so zeigt die
Hauptgruppe der Varianten, nämlich die 2—300, welche er mit dem WText gemeinsam, hat, e i n e n
s t a r k e n E i n f l u ß d e s
M a t t h. - T e x t e s bzw. des Markus-Textes.
Da es höchst unwahrscheinlich ist, um nicht
mehr zu sagen, daß M. selbst den Lukastext dem von ihm
abgelehnten Matthäus konformiert hat, so kann dem Schlusse nicht
ausgewichen werden, obgleich, soviel ich sehe, P o t t
ihn nicht anerkennt, daß M. bereits einen WLukastext vorgefunden hat, der mit Matth.
(bezw. auch mit Markus) konformiert war ².
Hierzu kommen aber noch einige Stellen, in denen M.
mit Matth. oder Mark. geht, ohne von Zeugen des Wtextes oder überhaupt von einem Zeugen
begleitet zu sein ³.
—————
¹ Ich habe mir einige
griechische Worte zusammengestellt, die in dem Marcionitischen
Bibeltext stehen gelassen sind; von besonderem Interesse scheinen sie
mir nicht zu sein: allegorica, angelus, apostolus, arabon, architectus,
baptizari, blasphemia, colophizari, diabolus, ecclesia, evangelium,
(evangelizari, evangelizator), idolothyta, neomenia, paradisus,
philosophia, propheta (prophetari, prophetia), pseudapostoli,
scandalum, stigmata, synagoga.
² In einzelnen Fällen kann man streiten,
ob überhaupt eine Konformierung vorliegt (s. P o t t,
Zeitschr. f. KGesch. S. 208 f.) — in zahlreichen Fällen
aber stehen Konformieningen fest. Für die Kanonsgeschichte ist die
Beobachtung von großer Bedeutung: der in Rom um die Mitte des 2.
Jahrhunderts gültige Text des Lukas war schon mit Matth. (Mark.)
konformiert. — Die Konformationen sind gewiß mit vollem Bedacht
unternommen.
³ Ich gebe hier keine Zusammenstellungen, wie
in der ersten Auflage, weil ich durch P o t t
belehrt bin, daß der T i s c h e n d o r f sche
Apparat nicht ausreicht, ich aber aus verschiedenen Gründen mit
dem S o d e n schen Apparat nicht zu arbeiten vermag. Doch
ist der Schaden nicht groß; denn, unabhängig von zahlreichen
Zweifeln im Einzelnen stehen die Beobachtungstatsachen fest (1)
daß an zahlreichen Stellen, an denen M. denselben Text wie W hat, synoptischer Einfluß vorliegt, (2) ein solcher
auch dort hin und her zu konstatieren ist, wo M.s Text allein steht.
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Beilage IV: Das Evangelium Marcions
— Untersuchungen zum Evangelium Marcions
Daß in diesen Fällen, die alle stilistisch-lexikalischer
Natur und sachlich ganz neutral sind, Marcion selbst die Konformierung
mit den anderen Synoptikern vorgenommen hat, ist deshalb ganz
unwahrscheinlich, weil sie sich den oben beurteilten Fällen
einfach anschließen, in denen der von ihm benutzte WText bereits diese Konformierungen aufweist
¹. Daß M. innerhalb des WTextes, den er bezeugt, Sonderlesarten hat,
ist ja zu erwarten; denn solche weist auch jeder andere der Zeugen (D,
d, a, b, c, Ambrosiaster usw.) in großer Zahl auf. Tragen diese
Sonderlesarten dieselben Züge wie die Lesarten, welche der Text
zusammen mit seinen Familienverwandten aufweist, so gehören sie
nicht dem einzelnen Text an, sondern der Familie. Natürlich
stellen sie nicht d e n Typ des WTextes dar, sondern bereits eine
harmonistische Abwandlung. Aber es bleibt mir unverständlich,
warum P o t t das Unwahrscheinliche für
wahrscheinlich hält, daß M. selbst für alle diese
Harmonisierung mit Matth. „oft“ (S. 212 u. sonst) verantwortlich sei.
Nur Gründe zwingendster Art könnten dazu führen, dies
anzunehmen; sie fehlen aber gänzlich.
Dogmatisch indifferente, sonst nicht oder kaum
bezeugte Lesarten, unbeeinflußt von Matth. und Mark., finden sich
in dem Text noch gegen 90 ². Daß sie M.s geistiges Eigentum
sind und er sie ab-.
—————
¹ In einigen Fällen
übrigens mag die Konformierung mit den anderen Synoptikern auf
Rechnung des Tert. kommen (der selbst hin und her bei seinen Referaten
zum Matth.-Text abgleitet, weil er ihn im Gedächtnis hatte), oder
auf Rechnung (bei Epiphanius) s p ä t e r e r
Einflüsse des Matth.-Textes auf den Marcion-Text. In bezug auf
Tert. s. z. B. zu 6, 20; 12, 10. 24. 51 (IV, 14. 28. 29). An der ersten
Stelle zitiert er beim zweiten Zitat des Spruchs „caelorum“ (nach
Matth.) statt „dei“; an der zweiten schiebt er in der
Auseinandersetzung „blasphemia“ (nach Matth.) ein, obgleich er den
Spruch richtig nach Lukas-Marcion, nämlich ohne „blasphemia“,
zitiert hatte. An der dritten fügt er aus der Erinnerung an den
Matth.-Text „et tamen vestiuntur ab ipso“ hinzu, und an der vierten
glaubt er, M. habe „machaeram“ aus dem Texte entfernt und durch ein
anderes Wort ersetzt, aber bei Matth., nicht bei Luk., steht
„machaeram“.
² Ich gebe diese Zusammenstellung ohne
Gewähr dafür, daß nicht einzelne Stellen anders zu
beurteilen sind. S. c, 4, 32; 5, 38; 6, 3 (bis). 9[?]. 12. 17 (ter). 22
(ter). 27 f. 29 (quater) 31. 38. 43 (bis); 7, 1. 16. 18 f.[?]. 23
(bis). 27. 28; 8, 18. 46; 9, 8. 19 (bis). 20. 22. 24. 30 (quinquies);
10, 21 (bis); 24 (ter); 11, 1. 11. 12. 20. 28. 46. 47; 12,
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Beilage IV: Das Evangelium Marcions
— Untersuchungen zum Evangelium Marcions
sichtlich
eingebracht hat, ist nur für eine sehr kleine Gruppe
wahrscheinlich. Auch sie gehören größtenteils zu dem
Text, wie er ihn bereits vorgefunden hat. Ein nicht geringer Teil von
ihnen wird übrigens der unsicheren Überlieferung
zuzuschreiben sein, in der wir M.s Text besitzen; also bleibt im besten
Fall nur ein sehr kleiner Teil übrig, der M. selbst zuzuweisen
ist. Ich greife das 6. und das 16. Kapitel heraus, um eine Anschauung
von der Art dieser Varianten zu geben ¹:
6, 3 Χριστός > Ἰησοῦς.
6, 3 τί > ὅ.
6, 9 μή > κακοποιῆσαι (hat Tert. etwa
willkürlich verkürzt?).
6, 12 τοῦ πατρός > τοῦ θεοῦ.
6, 17 κατέβη > καταβάς.
6, 17 ἐν αὐτοῖς > μετ’ αὐτῶν.
6, 22 ἔσεσθε > ἔστε.
6, 22 Stellung von ὑμᾶς verändert.
6, 22 fehlt ἀφορίσουσιν ὑμᾶς.
6, 27. 28 Glied 2 und 3 dieses Spruchs in eins
gezogen.
6, 29 ἐάν τις > ὅστις.
6, 29 ῥαπίσῃ > ῥαπίζει.
6, 29 παράθες (πρόσθες?) > πάρεχε.
6, 29 πρόσθες > μὴ κωλύσῃς.
6, 31 καὶ καθὼς ὑμῖν γίνεσθαι θέλετε παρὰ τῶν
ἀνθρώπων, οὕτω καὶ ὑμεῖς ποιεῖτε αὐτοῖς > καὶ καθὼς θέλετε ἵνα
ποιῶσιν ὑμῖν οἱ ἄνθρωποι, καὶ ὑμεῖς ποιεῖτε ὁμοίως.
6, 38 fehlt σεσαλευμένον.
6, 43 der schlechte Baum vor den guten gestellt
(dies war wohl Absicht).
6, 43 προενεγκεῖν (προενέγκαι) > ποιεῖν.
16, 12 εὑρέθητε > ἐγένεσθε.
16, 12 Umstellung von ἀνθέξεται und καταφρονήσει.
16, 16 ἐξ (ἀφ’) οὗ > ἀπὸ τότε.
—————
2 (bis). 8. 9 (ter). 41. 47 (bis); 13, 25; 16, 12. 16.
18 (bis). 21. 25. 26. 27, 28. 29. 31 (bis); 17, 11 f. (4, 27: ist hier
eingeschaltet). 14 (bis). 19; 18, 22. 43; 20. 1. 5; 21. 10. 19. 26. 27.
28. 30 (bis). 34; 22, 4. 8. 67; 23, 33; 24, (4). 21 (bis). 26. 31. 38.
¹ Auch hier mag die eine oder andere Stelle
unsicher sein, weil sie nicht bei M. allein steht.
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Beilage IV: Das Evangelium Marcions
— Untersuchungen zum Evangelium Marcions
16, 18 ὁ > πᾶς ὁ.
16, 18 ὁμοίως μοιχός ἐστιν > μοιχεύει.
16, 21 τραύματα > ἕλκη.
16, 25 Ἀβραάμ vorangestellt.
16, 26 ὑμῶν κ. ἡμῶν > ἡμ. κ. ὑμ.
16, 27 οἰκίαν > οἶκον.
16, 28 ἐκεῖ > fehlt.
16, 29 ἐκεῖ > fehlt.
16, 31 ὁ δὲ εἶπεν > εἶπεν δὲ αὐτῷ.
16, 31 ἀκούσωσιν αὐτοῦ > πεισθήσονται.
„Χριστός“ statt „Ἰησοῦς“ und die Voranstellung des
schlechten Baumes vor den guten mögen ebenso absichtliche
Änderungen M.s sein ¹ wie „prodiit“ für ἠγέρθη (7, 16);
aber abgesehen von diesen und ein paar anderen Ausnahmen ², zeigt
die Natur auch dieser hier zusammengestellten, sonst unbelegten
Varianten, daß wir es schwerlich mit M. selbst hier zu tun haben,
sondern mit seiner Vorlage. Was sollte ihn auch bestimmt haben, diese
Art von Diorthosen, die denen des Wtextes so ähnlich sehen, vorzunehmen?
Somit bleibt nur die große Anzahl seiner
absichtlichen Auslassungen und tendenziösen Korrekturen
übrig ³; denn daß Marcion daneben auch eine
stilistische Korrektur des Textes vorgenommen hat, ist nach dem
Ausgeführten unwahrscheinlich und ebenso
—————
¹ Doch s. über Χριστός
oben S. 154*.
² Z a h n ist geneigt, M. bei 6, 31
die Apostellehre berücksichtigen zu lassen, allein diese Annahme
ist unnötig.
³ Die Stellen, um die es sich handelt
(einschließlich solcher bei denen es zweifelhaft bleibt, ob M.
sie gestrichen oder Tert. sie ausgelassen hat), sind mit
annähernder Vollständigkeit salvo errore folgende: c. 1, 1—4,
32; 4, 34; 4, 36—39. 44; 5, 39; 6, 17. 23 a. (26). 30 b. 32—34. 47—49;
7, 28. 29—35; 8, 19. 20 f. 28. (32—37). 40—42 a. 49—56; 9, 23. 26 b.
27. 30. 31. 36. 49. 50. 54. 55; 10, 12—15. 21. 25. 26. 28. 29—37.
38—42; 11, 3. 4. 23—26. 29—32. 34—36. 42. 44. 45. 49—51. 53. 54; 12, 6.
7. 8. 9. 24—26. 28. 32. 46. 49—51; 13, 1—9. 22—24. 28. 29—35; 14, 1—11.
21. 25—35; 15, 10. 11—32; 16, 9. 10. 12. 15. 17. 26. 29. 30; 17, 5. 6.
11—19. 23. 24; 18, 20. (24—30); 31—33. 34. 37; 19, 9. (10). 28. 29—46.
47. 48; 20, 9—18. 35. 37. 38. 45—47; 21, 1—4. 13. 18. 21—24. 27. 32.
33; 22. 2. 3. 14. 16. 17. 18. 35—38. 39. 40. 42—46. 49—51. 52—62. 65.
68. 70. 71; 23, 2. 3. 4—5. 13—17. 25. 26—31. 34. 35—42. 43. (46). 54.
56; 24, 2. 21—24. 25. 27. 28. 29. 32—36 37. 39. 44—46. 47. 48—53.
247*
Beilage IV: Das Evangelium Marcions
— Untersuchungen zum Evangelium Marcions
die
Annahme, er habe verkürzen, unterstreichen, verdeutlichen wollen.
Das
mag an einer oder der anderen Stelle einmal von ihm geschehen sein, ist
aber für sein Verfahren nicht charakteristisch ¹.
Ein Einfluß s e i n e s
Textes auf die
katholischen Texte hat nur in geringem Maße stattgefunden,
sobald man die neutralen Sonderlesarten M.s nicht als s e i
n e
Lesarten, sondern als solche des Wtextes beurteilt; aber einen
gewissen Einfluß darf man sicher nicht mit Z a h n
in Abrede
stellen (indem man die LLAA als vormarcionitisch erklärt). Um dies
Urteil zu begründen, stelle ich im Folgenden c. 5, 39; 9, 54 ff.;
22,
43 f.; 23, 2 a b; 23. 34; 24, 12; 24, 40 zusammen. Hier darf man bei
einigen Stellen mit hoher Wahrscheinlichkeit, bei anderen mit
Gewißheit urteilen, daß sie, die in einen Teil der
Überlieferung übergegangen, m a r c i o n i t i s
c h sind:
1. K. 5, 39 (Οὐδεὶς πιὼν παλαιὸν θέλει νέον κτλ.)
Dieser Vers fehlt bei M., und er fehlt in D a b c ff. ²* l Euseb
> alle übrigen Zeugen. Er ist also echt und von M. aus sehr
verständlichen
Gründen gestrichen.
2. K. 24, 12 (Ὁ δὲ Πέτρος ἀναστὰς ἔδραμεν ἐπὶ τὸ
μνημεῖον˙ καὶ παρακύψας βλέπει τὰ ὀθόνια μόνα˙ καὶ ἀπῆλθεν πρὸς αὑτὸν
θαυμάζων τὸ γεγονός). Dieser gut lukanisch stilisierte Satz ist bei M.
nicht nachzuweisen; er fehlt sonst nur in D a b e l fu, einem Syrer,
Eusebcan. Also ist er echt und von M.
gestrichen, der den Petrus hier
nicht wünschte.
3. K. 24, 40 (καὶ τοῦτο εἰπὼν ἔδειξε αὐτοῖς τὰς
χεῖρας καὶ τοὺς πόδας). Bei M. nicht nachzuweisen; er fehlt sonst nur
in D a
b e ff² l syrcu. Also ist er
echt und von M. aus dogmatischen Gründen
gestrichen.
4. K. 22, 43 f. (der Engel und die
Agonie in Gethsemane). Fehlt bei M., aber ist so stark bezeugt,
daß die Erzählung außer in der alexandrinischen
Überlieferung (ℵBA usw.) nur sehr selten fehlte und auch so gut
wie
das ganze Abendland sie bestätigt. Sie ist sicher echt und M. hat
sie
aus dogmatischen Gründen getilgt. Ob der alexandrinische Text
durch ihn
beeinflußt worden ist oder die Alexandriner spontan
Anstoß genommen haben, läßt sich nicht entscheiden;
ersteres ist mir wahrscheinlich.
K. 9, 54 (ὡς καὶ Ἠλίας ἐποίησεν)
u. 9, 55 (καὶ εἶπεν˙ οὐκ
—————
¹ Mann kommt hier also zu
demselben Ergebnis wie beim Apostolikon.
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Beilage IV: Das Evangelium Marcions
— Untersuchungen zum Evangelium Marcions
οἴδατε
[vgl. das οὐκ οἴδασιν 23, 34] οἵου πνεύματός ἐστε ὑμεῖς) finden sich
und zwar — 54 in D a b c f g AC und den meisten Majuskeln cop syr (aber
nicht syrcu) aeth. go Basil. Chrys.;
55 in D, zahlreichen Majuskeln, a b c e f g ² q vulg go cop syr
arm aeth. und vielen KKVV. Da die Stücke höchstwahrscheinlich
bei M. standen und ausgezeichnet zu seiner Lehre passen, sind sie von
ihm hinzugefügt und nun in die katholischen Mss. gedrungen.
Wahrscheinlich gilt dies auch von dem Satz 9, 56 (ὁ γὰρ υἱὸς τοῦ
ἀνθρώπου οὐκ ἦλθε ψυχὰς ἀνθρώπων ἀπολέσαι ἀλλὰ σῶσαι), den mehrere
Majuskeln und a b c e f q vulg cop usw. bieten; leider fehlt uns hier
der Marcion-Text; aber angesichts der überwältigenden Zahl
von Zeugen g e g e n den Vers, kann er nicht
ursprünglich sein. Wer aber sollte ihn hinzugefügt haben,
wenn nicht M.?
6. K. 23, 2 (καὶ καταλύοντα τὸν νόμον καὶ τοὺς
προφήτας und καὶ ἀποστρέφοντα τὰς γυναῖκας καὶ τὰ τέκνα) Zwei
Zusätze M.s, von dem es b c e ff ² i l q gat mm, bez. (den
zweiten) c und e übernommen haben.
7. K. 23, 34 (ὁ δὲ Ἰησοῦς ἔλεγεν˙ Πάτερ, ἄφες
αὐτοῖς, οὐ γὰρ οἴδασιν [dies gewinnt nun einen prägnanten Sinn:
Die Schergen des Weltschöpfers können vom guten Gott nichts
wissen] τί ποιοῦσιν. Von M. hinzugesetzt und eingedrungen in ℵ* u. c ACD gr2
viele Majuskel, c e f ff ² l vulg cop ¹ syr arm aeth Iren.
> ℵa (uncis includit) BD* a b d
sah cop ². Daß es, obgleich ursprünglich, getilgt
worden, ist ganz undenkbar. Zu diesen Stellen gehört auch 4, 16
(s. S. 186*).
Mit einem Blick erkennt man, daß M.s Text
sofort in den Wtext
gelangt sein muß und sich durch diesen teilweise verbreitet hat.
Man beachte, daß der Palat. Vindob. (e) an allen diesen Stellen
mit M. geht, der Colbert. (c) und Veronen. (b) fünfmal, D und der
Vercell. (a) viermal usw. ¹.
—————
¹ Daß 24, 40 lukanisch
ist, folgt besonders aus der Vergleichung mit 5, 39; hält man (mit
Recht) diese Stelle für ursprünglich, so darf man 24, 40 dem
Lukas nicht absprechen; denn sie hat fast dieselbe Überlieferung
wie 5, 39. Es ist auch an sich ganz unwahrscheinlich, daß ein
Zusatz zu Lukas in a l l e Mss. gekommen ist mit
Ausnahme D a b e ff² l syrcu,
während die umgekehrte Annahme, daß er in dem Archetypus
dieser Zeugen gestrichen war, keine überlieferungsgeschichtliche
Schwierigkeit macht. D hat übrigens allein noch eine wichtige
Marcionitische LA aufgenommen; er liest nach M. in Luk. 24, 37 nicht
πνεῦμα, sondern φάντασμα. Ferner
249*
Beilage IV: Das Evangelium Marcions
— Untersuchungen zum Evangelium Marcions
2.
M a r c i o n, d a s L u k a s - E v.
u n d d i e d r e i a n d e r e n
E v a n g e l i e n.
Daß Marcion Matth., Mark. und Joh. gekannt hat
— vor zwei Menschenaltern noch eine umstrittene Frage — braucht bei dem
gegenwärtigen Stande der Kanons- und Textgeschichte nicht erst
bewiesen zu werden ¹. Aber auch darin hatte die konservative
Kritik
recht, daß M. seine Ablehnung dieser Evv. in seinen „Antithesen“
ausdrücklich begründet hat ². Nicht so einfach ist es
aber, sich eine Vorstellung darüber zu bilden, wie er zu dem Ev.
gestanden hat, das er sich zur Grundlage seines Ev.s erwählte, zu
Lukas. Hätte er es für ein vom Anfang an verfälschtes
Ev. gehalten, wie die anderen, so versteht man nicht, warum er gerade
dieses Ev. erwählt hat und sich ihm so enge anschloß; er
hätte in diesem Fall aus allen vier Evv. herausnehmen können,
was ihm probehaltig schien und sein Ev. als eine Art von „Diatessaron“
oder „Diatrion“ komponieren können. Hielt er es aber für ein
ursprünglich richtiges Ev. (wie die Paulusbriefe für
ursprünglich richtige Briefe), warum unterdrückte er den
Namen des Autors, der ihm doch eine hohe Autorität hätte sein
müssen? ³ Aber nicht nur unterdrückt hat er ihn, sondern
hat auch höchst wahrscheinlich die freundliche Äußerung
des Paulus in Kol. 4, 14 getilgt und die Apostelgeschichte
ausdrücklich verworfen (s. o. S.
124*). Aus dem Dilemma, welches hier vorliegt, gibt es
nur e i n e n Ausweg: M. muß angenommen
—————
ist die tendenziöse Korrektur in 16, 12 (τὸ ἐμόν
für τὸ ὑμέτερον) in e i l und eine Minuskel gedrungen.
Marcionitische Lesarten können mit Recht noch an einigen Stellen
von D G bzw. im Wtext vermutet werden, wo uns
der Wortlaut des Marcionitischen Textes fehlt; aber ein sicherer Beweis
läßt sich nicht führen.
¹ Ephraem hat „die Schriften“ der Marcioniten,
d. h. ihr Neues Testament und die Antithesen gelesen. Aus den letzteren
wird es stammen, wenn er sagt, die Marcioniten spotteten über die
Hochzeit zu Kana (47. Lied gegen die Ketzer, c. 2).
² S. dort.
³ Daß er das Ev. namenlos, d. h. ohne den
Namen des Lukas, von der Überlieferung empfangen hat, ist ganz
unwahrscheinlich: menschliche Autoritäten wollte M., Paulus
ausgenommen, den Christus erweckt hat, nicht gelten lassen. Man darf
daher nicht etwa folgern, daß unser 3. Ev. ursprünglich ohne
den Namen des Lukas überliefert worden sei, weil M. diesen Namen
nicht bietet.
250*
Beilage IV: Das Evangelium Marcions
— Untersuchungen zum Evangelium Marcions
haben,
das Luk. Ev. sei in seiner ursprünglichen Gestalt ein himmlisches
Geschenk Christi an die Kirche, das ihr auf geheimnisvolle Weise
zugekommen ist ¹; Lukas aber, der judaistische Verf. der
Apostelgesch., habe dieses reine Ev. verfälscht, und er, Marcion,
sei erweckt worden, um diese Fälschungen
wiederauszumerzen. N i e m a l s und n i
r g e n d w o hat M. behauptet, daß er das
unverfälschte Ev. in einem Exemplare wieder a u f g e
f u n d e n, sondern stets nur, daß er es w i
e d e r h e r g e s t e l l t habe. Hinter dem Ev., wie
er es der Kirche bot, steht also keine apostolische Autorität
(oder nur eine indirekte, sofern Paulus es als sein Ev. anerkannt hat),
sondern Christus, von dem es die Kirche hat, und Marcion. Nur diese
Auffassung wird den Zeugnissen des Irenäus, Tertullian und
Origenes gerecht, sowie dem einfachen Titel: Εὐαγγέλιον. Dieser
Tatbestand erklärt es auch, daß spätere Marcioniten an
Christus selbst als Verfasser gedacht haben oder an Paulus (s. o.).
Daß aber M. aus der Zahl der vier Evangelien
sich das des Lukas erwählt und in ihm allein das freilich
verfälschte Evangelium Christi und Paulus’ erblickt hat, obgleich
ihm doch Lukas ebenso ein „Judaist“ war wie die anderen Evangelisten,
ist wohl in der Art dieses Evangeliums begründet (wenn nicht Lukas
das erste Evangelium gewesen, das in den Pontus gekommen ist, und er es
deshalb bevorzugte). Wir werden annehmen dürfen, daß er die
vier Evangelien sehr eingehend geprüft hat, bevor er sich
entschied. Der „heidenchristliche“ und asketische Charakter des 3.
Evangeliums gegenüber dem 1. und 2., nachdem die drei ersten
Kapitel des Werks getilgt waren, muß ihm sympathisch gewesen
sein; auch den Markus übrigens hätte M. ohne
größere Mühe sich für seine Zwecke dienstbar
machen können. Vor dem 4. Evangelium mußte er
zurückschrecken um des Prologs willen, der ihm höchst
anstößig sein mußte, und wenn er
—————
¹ Wann und wie, darüber
hat sich M. in den „Antithesen“ nicht geäußert, und das
brachte eine Ungewißheit und Unklarheit, der gegenüber Tert.
ratlos war und daher in seiner Polemik selbst unklar werden
mußte: war das geschriebene „wahrhaftige“ Ev. nach M. von Anfang
an da? Lag es also schon vor, als Paulus gegen die Urapostel auf dem
Konzil stritt? Diese Fragen sind nach M. gewiß zu bejahen: das
Ev., welches Paulus „mein“ Ev. nennt, hat er empfangen, als er bekehrt
wurde. Wie es zustande gekommen ist, hat M. augenscheinlich nicht
bekümmert.
251*
Beilage IV: Das Evangelium Marcions
— Untersuchungen zum Evangelium Marcions
ihn
strich, stieß er alsbald auf die Hochzeit zu Kana und auf
anderes, was ihm antipathisch war. Daß das Buch im sublimierten
Geiste des dem M. widerlichen Spätjudentums wurzelte und voll von
Allegorien war, die er ablehnte, machte es ihm unmöglich, ihm zu
folgen. Aus Iren. III, 11, 2 („Secundum Marcionem et eos qui similes
sunt ei neque mundus per logon factus est neque in sua venit, sed in
aliena“) kann man nicht sicher schließen, daß M. eine
Kritik des Prologs des Joh. Ev. in den Antithesen gegeben hat; aber
unwahrscheinlich ist es nicht.
Die Verwerfung der drei Evv. schließt an sich
a priori nicht aus. daß M. aus ihnen einen oder den anderen
Spruch seinem Ev. einverleibt oder bei der Fassung der Sprüche auf
ihr Zeugnis vielleicht einmal Rücksicht genommen hat ¹. Die
letztere Annahme muß in der Tat offen bleiben, obgleich, wie wir
gesehen haben, mindestens die große Menge der Stellen, an denen
der Text M.s gegen Lukas mit Matth. (Mark.) geht, aus Konformierungen
zu erklären ist, die schon stattgefunden hatten, bevor M. seine
tendenzkritische Arbeit unternahm. Immerhin aber steht der Annahme
nichts in Wege, daß unter der erheblichen Zahl von
Konformierungen, die nur durch M. und nicht durch andere Zeugen des Wtextes bezeugt sind, sich vielleicht einige
befinden, die M. selbst eingeführt hat, wenn man sie auch nicht zu
bezeichnen vermag.
Darüber hinaus aber hat sich H a h
n große Mühe gegeben zu erweisen, das auch ganze
Verse aus den anderen Evangelien von M. rezipiert worden sind. Diese
Bemühungen haben heute das Gewicht nicht mehr wie früher;
denn letztlich sollten sie dem Nachweis dienen, daß M. bereits
die vier Evangelien in der Kirche vorgefunden hat. Dies werden nur noch
wenige bestreiten; doch bleibt die Frage immerhin wichtig, ob M.
wirklich aus den drei anderen Evv. etwas entlehnt hat.
Hier aber hat selbst Z a h n, der
gerne Matthäus-Verse im Ev. des M. gefunden hätte, anerkannt
², daß die drei Stellen aus Matth., die allein in Betracht
kommen können, nämlich c. 1, 23
—————
¹ Eine Vergleichung des
„echten“ Evangeliums mit den falschen mußte ja M. lehren,
daß diese nicht durch und durch falsch waren, vielmehr viel Gutes
enthielten, weil z. T. fast wörtlich dasselbe auch im
„wahrhaftigen“ Ev. stand.
² A. a. O. I S. 666 ff.
252*
Beilage IV: Das Evangelium Marcions
— Untersuchungen zum Evangelium Marcions
kombiniert
mit 2, 11 (in Beziehung auf Jes. 7. 14 und 8‚ 4), ferner 5, 17 und 19,
12 ff. nicht in das Ev. von ihm aufgenommen worden sind, sondern
daß er sich in den Antithesen mit ihnen auseinandergesetzt hat
¹. Erst spätere Marcioniten haben die Worte (5, 17), die ihr
Meister ausdrücklich als einen dem wahren Ev. fremden Zusatz
bezeichnet hatte ², ins Gegenteil verkehrt und in das Ev.
aufgenommen (οὐκ ἦλθον πληρῶσαι τὸν νόμον ἀλλὰ καταλῦσαι). Das bezeugt
sowohl der Marcionit Markus bei Adamantius ³ als auch Isidor von
Pelusium; der letztere gibt dazu noch an, an welcher Stelle im Ev.
(ungefähr) die Eintragung stattgefunden hat 4.
Vorbereitet hat die Einschiebung übrigens M. selbst durch seinen
Zusatz in c. 23, 2, wo er die Ankläger Jesu sagen läßt:
τοῦτον εὕρομεν καταλύοντα τὸν νόμον καὶ τοὺς προφήτας. Auch sonst haben
spätere Marcioniten wahrscheinlich ein paar Zusätze aus
Matth. eingefügt. Ziemlich sicher ist das in bezug auf Matth. 20,
20 ff.; denn wenn nach Orig. Marcioniten erklärten, Paulus sitze
im Himmel zur Rechten Gottes, M. zur Linken (Hom. XXV in Luk., T. V p.
181 f.), so können sie diese Phantasie schwerlich an einen anderen
Text angeschlossen haben.
—————
¹ Dort sind sie auch von uns
behandelt. In I, 24 hält Tert. dem M. Matth. 5, 48 vor („Seid
vollkommen wie euer Vater im Himmel“); er hat wohl vergessen, daß
das Wort nicht in M.s Ev. steht. In II, 17 sagt er, M. habe den Spruch
von dem Gott, der seine Sonne aufgehen läßt über Gute
und Böse (Matth. 5, 45) aus dem Ev. gestrichen. Entweder denkt
hier Tert. an das vierfache Ev. als an eine Einheit oder er besann sich
nicht darauf, daß der Spruch nicht bei Lukas steht. Daß
Epiph. (haer. 42, 3) Marcion Mark. 10, 38 in den Mund legt, käme
an sich nicht in Betracht, wenn es nicht auch Origenes bezeugte.
² S. Tert. IV, 7. 9. 12. 36; V, 14.
³ Adamant., Dial. II, 15; hier sagt der
Marcionit Markus: Τοῦτο (Matth. 5, 17) οἱ Ἰουδαϊσταὶ ἔγραψαν˙ οὐκ οὕτως
δὲ εἶπεν ὁ Χριστός, λέγει γάρ˙ ‚Οὐκ ἦλθον πληρῶσαι τὸν νόμον ἀλλὰ
καταλῦσαι‘. Darauf Adamant.: Ἐστὶ καὶ τοῦτο τῆς ὑμετέρας τόλμης ὥσπερ
τὰ λοιτὰ καὶ τοῦτο ἐναλλάξαι.
4 Isidor Pelus.,
ep. I, 371: (Im Ev. M.s wirst du die Genealogie Christi getilgt finden
„und w e n n d u n o c
h e t w a s w e i t e r l i e s t,
w i r s t d u n o c h e i n
e a n d e r e B o s h e i t s e h e
n), ἀμείψαντες γὰρ τὴν τοῦ κυρίου φωνὴν ‚Οὐκ ἦλθον‛ λέγοντος
‚καταλῦσαι τὸν νόμον ἢ τοὺς προφήτας‛ ἐποίησαν˙ ‚Δοκεῖτε ὅτι ἦλθον
πληρῶσαι τὸν νόμον ἢ τοὺς προφήτας; ἦλθον καταλῦσαι, ἀλλ’ οὐ πληρῶσαι‛.
Die Fassung hier ist die zuverlässigere gegenüber der des
Marcioniten Markus.
253*
Beilage IV: Das Evangelium Marcions
— Untersuchungen zum Evangelium Marcions
Nach Z a h n ¹ soll Marcion selbst vier Stellen
aus dem Joh. Ev. in sein Ev. aufgenommen haben, bzw. sich von ihnen
abhängig erweisen; aber der Beweis reicht für keine der
Stellen aus. Weil M. in Luc. 11. 13 zu ἄρτον in der 4. Bitte σου
gestellt und damit die geistliche Deutung vorgeschrieben habe, soll er
von Joh. 6, 33 beeinflußt sein. Diese Kombination darf man auf
sich beruhen lassen. In den Dialogen des Adamantius wird II, 20 Joh.
13, 34 („Ein neues Gebot gebe ich euch, daß ihr euch
untereinander liebet, wie der Vater euch geliebt hat“) und II, 20 Joh.
15. 19 („Wenn ihr aus dieser Welt wäret, so würde die Welt
ihr Eigentum lieben“) vom Marcioniten Markus (im ersten Fall
ausdrücklich als aus seiner Bibel) zitiert mit kleinen
Abweichungen, die Marcionitisch anmuten. Es ist daher anzunehmen,
daß diese Worte in einer späteren Marcionitischen Bibel
gestanden haben; aber der Beweis läßt sich nicht erbringen,
daß schon M. selbst sie eingefügt hat. Endlich teilt
Chrysostomus mit, daß die Marcioniten in ihrer Auslegung von
Phil. 2, 6 f. in der Fußwaschung die Annahme der Knechtsgestalt
des Erlösers erkennen ². Auch hier hat man keine Gewähr
dafür, daß M. selbst die Fußwaschung in sein Ev.
aufgenommen hat — so wenig, wie man aus der Phantasie der Marcioniten
bei Origenes, M. sitze im Himmel zur Linken Christi, schließen
darf, M. selbst habe Matth. 20, 20 ff. in sein Evangelium aufgenommen
(s. o.). Nicht unmöglich ist es, daß er die
Fußwaschung in den Antithesen behandelt hat.
Marcions Ev. ist mithin ausschließlich ein
verfälschtes Lukasev.; M. hat schlechterdings keinen S
t o f f aus einem anderen Ev. hinzugenommen; mögen auch in
den Konformierungen (mit Matth.) einige Stellen auf ihn
zurückgehen (?). In diesen Fällen müßte er
angenommen haben, daß der Fälscher des echten Ev.s, Lukas,
etwas geändert hatte, was zufällig in dem judaistischen Ev.
des Matth. der Verfälschung entgangen ist. Doch alles, was hier
vielleicht in Betracht kommt, ist ohne Bedeutung.
Diese R e i n h e i t des Ev.s
M.s von allen „apokryphen“
—————
¹ A. a. O. I S. 675 ff.
² Hom. VII in Phil. (T. XI p. 246): Μορφὴν
δούλου, φασίν, ἔλαβεν, ὅτι τὸ λέντιον περιζωσάμενος ἔνιψε τοὺς πόδας
τῶν μαθητῶν.
254*
Beilage IV: Das Evangelium Marcions
— Untersuchungen zum Evangelium Marcions
Stoffen
ist sehr bemerkenswert ¹. Wie anders steht es bei Justin oder im
2. Clemensbrief! Die exklusive Energie, mit der er den NTlichen Kanon
von 1+10 Schriften geschaffen hat, zeigt sich auch in der festen
Beschränkung auf e i n e Quelle in bezug auf
den evangelischen Stoff. Es spricht aus diesem Verfahren, das mit dem
Ausschluß von Prophetien und Apokalypsen jeglicher Art sowie mit
der Ablehnung der allegorischen Erklärung zusammengehalten werden
muß, die feste Absicht, allen Unsicherheiten zu begegnen und der
Verkündigung der neuen Religion eine sichere Grundlage zu geben.
Aber da M. Unfehlbarkeit für seinen
Evangelientext nicht in Anspruch nehmen konnte, haben sofort in seiner
Kirche die Textänderungen begonnen, d. h. sich fortgesetzt. Das
war so notorisch und anstößig, daß selbst der
gründliche Kämpfer gegen das Christentum, Celsus, wenige
Jahre nach M.s Tod, mißbilligend davon Notiz genommen hat (c.
Cels. II, 27) und Tert. ausdrücklich bemerkt, daß diese
„Bibelverbesserung“ noch immer geübt werde, ja daß selbst
die Streitunterredungen oder -schriften mit den Katholiken den
Marcioniten Anlaß zu ihnen gaben ². Über die
tendenziösen Korrekturen M.s s. die
Untersuchung oben in dem Hauptteil.
—————
¹ Daß M. den Spruch Luk.
9, 60 als an Philippus gerichtet bezeichnet hat (Clemens Alex., Strom.
III, 4, 25), ist nicht gewiß; es kann auch diese apokryphe
Adresse auf einem Irrtum des Clemens beruhen. Der Spruch lautet
übrigens bei Clemens anders (ἄφες τοὺς νεκροὺς θάψαι τοὺς ἑαυτῶν
νεκρούς, σὺ δὲ ἀκολούθει μοι), als er für M. bezeugt ist. — Einen,
unter Verwendung von Matth. 5, 9. 10 frei gestalteten Spruch im Ev. des
M. mußte man früher der Stelle Clem., Strom. IV, 6, 41
entnehmen; hier heißt es nach früherer Lesung: „Μακάριοι“,
φησίν, „οἱ δεδιωγμένοι ἕνεκεν δικαιοσύνης, ὅτι αὐτοὶ υἱοὶ θεοῦ
κληθήσονται“, ἢ ὥς τινες τῶν μετατιθέντων τὰ εὐαγγέλια˙ „Μακάριοι“‚
φησίν, „οἱ δεδιωγμένοι ὑπὸ τῆς δικαιοσύνης, ὅτι αὐτοὶ ἔσονται τέλειοι“.
Nur M. kann die selig gepriesen haben, die v o n der
Gerechtigkeit verfolgt werden. Allein nach dem Text von S t
ä h l i n ist ὑπό ein Lesefehler; es ist ὑπέρ zu lesen.
Dann hat Clemens die Fälschung ausschließlich in dem
„ἔσονται τέλειοι“ gesehen und an Marcion zu denken, liegt kein sicherer
Grund vor, da auch andere die Evangelien verfälscht haben.
² Tert. IV, 5: „Cotidie (Marcionitae) reformant
evangelium, prout a nobis quotidie revincuntur“.
255*
Beilage IV: Das Evangelium Marcions
— Untersuchungen zum Evangelium Marcions
Anhang: Marcions Evangelium und Tatians
Diatessaron.
Kurze Zeit nach Marcion hat Tatian sein
„Diatessaron“ hergestellt. Er teilte die asketischen Grundsätze
mit M.; er lehrte wie dieser einen Demiurg, wenn er ihn auch
freundlicher beurteilte; er sprach Adam die Seligkeit ab, und er
verfaßte ein uns leider nicht erhaltenes Werk, dessen Titel
„Probleme“ an die „Antithesen“ M.s erinnert. Die Vermutung liegt daher
nahe, daß sein Evangelienwerk eine gewisse Verwandtschaft mit dem
Marcionitischen hatte. In der Tat fehlten auch in dem Diatessaron die
Genealogien Jesu, und Luk. 2, 34 hat Tatian „viele in Israel“, Matth.
1, 20 die Davidssohnschaft getilgt. Allein darüber hinaus lassen
sich, soviel ich sehe, innerlich verwandte Züge zwischen den
beiden Evangelien nicht finden. Sofern M.s Wtext mit den alten Syrern geht und der Text
Tatians ihnen, aber auch sonst dem Wtext nahesteht, besteht eine Verwandtschaft
¹ aber M.s tendenziöse Korrekturen haben auf Tatian keinen
Einfluß geübt. Daher darf man auch annehmen, daß er
aus anderen Gründen als M. und unbeeinflußt von ihm die oben
bezeichneten Korrekturen vorgenommen hat.
—————
¹ Zur Zeit ist es noch nicht
möglich, eine Vergleichung der beiden Texte anzustellen; erst
muß der Tatian-Text, quoad fieri potest, hergestellt sein.
Letzte
Änderung
am 14. August 2019