ADOLF
VON HARNACK
MARCION: DAS
EVANGELIUM VOM FREMDEN GOTT
Kapitel II, Seite 21—30
21
II. Marcions
Leben und Wirksamkeit ¹.
Marcion war nach guter Überlieferung aus
Sinope, der wichtigsten griechischen Handelsstadt am Südufer des
Schwarzen Meeres, gebürtig, ein Landsmann also des Cynikers
Diogenes, worauf Tert. (adv.
Marc. I, 1) anspielt ².
Er mag
um das
Jahr 85 oder etwas später geboren sein.
Im Pontus gab es in der frühen Kaiserzeit
Judengemeinden. Der Mitarbeiter des Paulus, Aquila, stammte von dort
(Apostelgesch. 18, 2) und ebenso der Bibelübersetzer gleichen
Namens, ein jüdischer Proselyt. Er war ein genauer Zeitgenosse
Marcions, ja, wenn man Epiphanius trauen darf, auch aus Sinope
gebürtig (Iren. bei Euseb., V, 8, 10; Epiphan., De
mens.
et pond.
14 f) ³. Merkwürdig — aus dieser Stadt sind der
schärfste Gegner des Judentums und der skrupulöseste
Übersetzer der jüdischen heiligen Schrift gleichzeitig
hervorgegangen! Gerne würde
man
—————
¹ S. hierzu die Beilage I:
„Untersuchungen über die Person und die Lebensgeschichte Marcions“.
² Nur vom Pontus, nicht von Sinope, hat
Tert.
gewußt. — In der Bedürfnislosigkeit berührten sich
Marcion und Diogenes. Die Gegner nannten diesen „den tollgewordenen
Sokrates“; in bezug auf das Verhältnis jenes zu Paulus könnte
Übelwollen etwas Ähnliches behaupten.
³ Daß beide Aquila’ Pontiker waren,
scheint mir unverdächtig (gegen S c h ü r e r,
Gesch. des Volkes
Israel Bd. III S. 435). Sinope als Vaterstadt des Bibelübersetzers
wird man gelten lassen dürfen, auch wenn die anderen Angaben des
Epiphanius (Aquila ein Verwandter Hadrians, zuerst Christ, als
Astrologe ausgeschlossen, dann Jude) dahingestellt bleiben müssen.
Nach Epiphanius (l. c.
17 f., vgl. Chron. pasch. I p. 491) soll auch der andere jüdische
Bibelübersetzer, Theodotion, aus dem Pontus, ja aus Sinope,
stammen, ursprünglich Marcionit gewesen, dann zum Judentum
22 Marcions Leben
und Wirksamkeit
hier Näheres über
die Propaganda des Judentums erfahren und ihre antithetischen
Wirkungen; aber die Überlieferung ist schweigsam.
In
jedem Sinne antithetisch sind übrigens Marcion und der
Bibelübersetzer Aquila nicht, vielmehr besteht sogar eine gewisse
Wahlverwandtschaft: auch Marcion will von dem Buchstaben des ATs nichts
abmarkten und buchstäbelt in seiner Weise wie Aquila. Das haben
seine kirchlichen Gegner wohl bemerkt und ihm vorgerückt. Es
läßt sich aber überhaupt die Frage aufwerfen, ob
M.
nicht eine Zeit erlebt hat, in der er dem Judentum nahe gestanden hat.
Von hellenischem Geiste spürt man schlechterdings nichts in
ihm,
d i e j ü d i s c h e n A u s l e g u n g
e n d e s
ATs s i n d i h m w o h l b e k a n
n t,
und seine ganze Stellung zum AT und Judentum läßt sich am
besten als Ressentiment begreifen. Bereits in den „Neuen Studien zu
M.“
S. 15 habe ich die Hypothese aufgestellt: M. bezw. seine Familie
kommt
vom Judentum her; jüdischer Proselytismus ging der Bekehrung zum
Christentum voran, was ja nicht auffallend, sondern bei den Bekehrungen
ältester Zeit die Regel gewesen ist. Dafür spricht auch,
daß er die messianischen Weissagungen ebenso erklärt wie die
Juden ¹; sein Christentum erbaut sich also auf einem Ressentiment
in bezug auf das Judentum und seine Religion. Eben deshalb hat er
auch eine ähnliche Erfahrung machen können, wie Paulus, nur
daß sie extensiv viel weiter greift wie beim Apostel, der nur mit
dem Gesetze bricht, nicht aber mit dem Gesetzgeber und dem AT.
Christen im Pontus setzt der erste Petrusbrief voraus, und wie
zahlreich und stark die christlichen Gemeinden dort schon
—————
übergetreten sein und unter Commodus gewirkt
haben. Allein
soweit man seine Angaben zu kontrollieren vermag, bestehen sie die
Probe nicht. Nach Irenäus (l. c.) war Theodotion Ephesier und
Proselyt wie Aquila; auch gegen den chronologischen Ansatz des
Epiphanius erheben sich starke Bedenken.
¹ Er kennt ihre zeitgeschichtlichen Deutungen
und er hält das ganze AT für w a h r e
Geschichte und traut seinem
Buchstaben. Welche Gnostiker, welche Kirchenlehrer haben das sonst
getan? Jene machen Unterscheidungen oder nehmen Lug und Trug an, diese
allegorisieren. M. aber hält’s mit den Juden! Man erinnere
sich
hier, daß Tert.s Polemik gegen M. und gegen die Juden
auf
großen Strecken einfach identisch ist.
23 Marcions Leben
und Wirksamkeit
z. Z. Trajans waren, lehrt uns
der berühmte Brief des Plinius an Trajan. Er ist nach neueren
Untersuchungen in oder bei Amisus geschrieben ¹. Auf eine feste
Organisation der dortigen Gemeinden am Anfang des 2. Jahrhunderts
lassen die „Diakonissen“ schließen, welche Plinius erwähnt.
Daher hat die auch sonst unverdächtige
Nachricht Hippolyts, Marcion sei der Sohn des Bischofs (eines Bischofs)
von Sinope gewesen, nichts gegen sich; ja die Entwicklung Marcions wird
uns verständlicher, wenn er von frühen Jahren her Christ
gewesen ist und in der großen Gemeinde gestanden hat. Zeitlebens
hat er, im Unterschied von den Gnostikern, für die große
Gemeinde, d. h. die ganze Christenheit, gearbeitet, und niemals hat er
ein Sektierer sein wollen. Auch seine Vertrautheit mit dem AT und der,
sei es auch zum Abscheu gewordene, Respekt vor seinem Buchstaben
erklären sich leichter, wenn er mit dem heiligen Buche
aufgewachsen ist.
Aber die andere Nachricht, welche ebenfalls Hippolyt
bringt, Marcion sei in Sinope von seinem Vater exkommuniziert worden,
weil er eine Jungfrau verführt habe, verdient keinen Glauben.
Hippolyt selbst hat sie in seinem späteren antignostischen Werk,
der Refutatio, nicht wiederholt; Irenäus, Rhodon, Tertullian, die
Alexandriner und Eusebius schweigen über sie; sie entstammt
gewiß der polemischen Topik; generell sagt Hegesipp, die Ketzer
hätten die Kirche, die reine Jungfrau, verführt ².
Dagegen braucht man nicht zu bezweifeln, daß
M. von seinem eigenen Vater exkommuniziert worden ist. Die
Nachricht
ist so singulär in der Ketzergeschichte, daß sie schon
deshalb Glauben verdient. Ist M. aber in Sinope exkommuniziert
worden,
so wird es einer Irrlehre wegen geschehen sein, und das ist ja auch der
Sinn der Legende, er habe eine Jungfrau
verführt.
Exkommunikationen im Sinne der Praxis der
späteren Kirche kann es unter Hadrian noch nicht gegeben haben: sie
—————
¹ S. W i l c k e n
im „Hermes“ Bd. 49 (1914)
S. 120 ff.
² Die Geschichte deshalb für
wahrscheinlich zu halten, weil die strenge sexuelle Askese, die M.
nachmals geboten hat, als Ressentiment zu verstehen sei, wäre auch
dann noch fragwürdig, wenn die Anekdote genügend bezeugt
wäre.
24 Marcions Leben und Wirksamkeit
besagten teils mehr, teils
weniger. Mehr, denn sie konnten unter so strengen Formen vollzogen
worden sein, daß der Ausgestoßene dem Satan übergeben
wurde; weniger, denn das Urteil der exkommunizierenden Gemeinde war
nicht für andere Gemeinden ohne weiteres gültig. Sicher aber
dürfen wir annehmen, daß nur eine schwere Irrlehre die
Exkommunikation veranlaßt hat; denn nur im äußersten
Fall entschloß man sich damals einen Bruder auszuschließen,
wenn er doch Christus als seinen Herrn anerkannte. M. muß
also
schon damals die Grundzüge seiner der großen Kirche
unerträglichen Lehre vertreten haben ¹.
Er begab sich nach Kleinasien; es war schon eine
Propagandareise. Eine unverächtliche Quelle erzählt,
daß er Briefe Pontischer Brüder mit sich führte. Nur
Empfehlungsschreiben können es gewesen sein, woraus folgt,
daß er in seiner Heimat doch auch Anhänger besaß,
daß seine Ausschließung dort also nicht ohne Widerspruch
erfolgt war. Allein auch in Kleinasien (Ephesus: so die Quelle; wohl
auch Smyrna und vielleicht Hierapolis), wo er Anerkennung bei den
Gemeindevorstehern suchte und ihnen seine Auffassung des Evangeliums
vorlegte, wurde er abgelehnt und zurückgestoßen. Damals wird
wohl jene Begegnung mit Polykarp stattgefunden haben — oder doch erst
später in Rom? —, von der uns Irenäus (nach Papias?)
berichtet. Den Anerkennung begehrenden wies Polykarp in schärfster
Weise ab: „Ich anerkenne dich als Erstgeborenen des Satan.“ M.
muß schon seine „Zweigötter“-Lehre und die Verwerfung des
AT vorgetragen und der Gemeinde insinuiert haben, wenn Polykarp ihm in
dieser grausamen Weise begegnete.
Jetzt begab sich M. nach Rom: Pontus,
Kleinasien,
Rom be-
—————
¹ Von seinem Bildungsgang
wissen wir
nichts; aber seine Textkritik beweist, daß er ein gebildeter Mann
war, also mindestens auch das übliche philosophische Wissen
besaß. Seine dezidierte Abneigung gegen die Philosophie (s. u.)
spricht nicht dagegen. „Ardens ingenii et doctissimus“ hat ihn
Hieronymus, sicher Origenes ausschreibend (er beruft sich auf eine
Überlieferung) Comm. in Osee 1. II zu c. 10, 1 genannt; s. d.
Motto oben S. 1. Daß die
Kirchenväter alle möglichen griechischen Hauptphilosophen
für seine Lehrmeister ausgegeben haben, kommt nicht in Betracht;
aber ein Mann, den Origenes „doctissimus“ genannt hat, muß
erstlich sehr bibelkundig gewesen sein — das können auch wir noch
feststellen — und zweitens auch eine gute weltliche Bildung besessen
haben.
25 Marcions Leben und Wirksamkeit
deuteten auch kirchlich schon
damals eine Klimax: wer auf die ganze Christenheit Einfluß
gewinnen wollte, mußte in die Welthauptstadt gehen ¹. Auf
seinem eigenen Schiffe fuhr er dorthin; denn wir hören aus besten
Quellen (Rhodon in Rom, Tertullian), daß er ein begüterter
Schiffsherr und in Rom als solcher bekannt (ὁ ναύτηϛ Μαρκίων,
nauclerus
²). Diese Reise fällt
wahrscheinlich in das 1. Jahr des Antoninus Pius, sicher um diese Zeit.
Eine Nachricht bei Hieronymus lautet, M. habe schon vorher eine
Anhängerin dorthin geschickt, um seine Ankunft vorzubereiten. Das
ist undurchsichtig.
Trotz der Abweisungen im Pontus und in Asien empfand
und wußte sich M. noch immer als ein Glied der allgemeinen
Christenheit und daher als „Bruder“; nach seiner Überzeugung
vertrat er das Evangelium, wie es der Christenheit geschenkt war und
wie sie es vertreten sollte. Er trat daher der römischen
Christengemeinde bei und schenkte ihr bei seinem Eintritt 200 000
Sesterzen. In Rom wird man zunächst nichts von seiner
Vorgeschichte und seiner Lehre gewußt haben; aber wenn sie auch
bald bekannt geworden sind, so lag nicht sofort eine Nötigung
für die Gemeinde vor, ihn auszuschließen. Sie konnten
abwarten. Das Geldgeschenk mag auch dazu beigetragen haben, die Kritik
an dem neuen Gemeindegliede nicht zu beschleunigen, und M. selbst
kann
die Propaganda seiner Lehre vorsichtig begonnen haben. Es ist auch
für die Zeit nach seinem Bruche mit der großen Kirche
charakteristisch, daß uns kein schmähendes oder böses
Wort über diese und ihre Mitglieder überliefert ist ³.
Es ist aber auch möglich, ja es hat eine
gewisse Wahrscheinlichkeit, daß M. sich zuerst in Rom noch
ganz
zurückgehalten hat, um in ernster Arbeit die Grundlagen seiner
Lehre aufs sicherste auszubilden. Die Herstellung des e c h
t e n Textes des Evangeliums und
der Briefe des Paulus, d. h. ihre Reinigung
—————
¹ Vielleicht hat auch die
Erwägung
Marcion zur Reise nach Rom bestimmt, daß dort der Bruch der
Kirche mit dem Judentum vollständiger war als in Asien. Man
fastete am Sabbat und hielt Ostern nicht mit den Juden zusammen.
M.
konnte hoffen, dort einen günstigeren Boden zu finden.
² Wiederholt benutzt Tertullian den weltlichen
Beruf Marcions, um ihn zu verspotten.
³ Er entrüstet sich über die
Urapostel und die judaistischen Evangelisten; aber die große
Kirche seiner Zeit sieht er als verführte an.
26 Marcions Leben und Wirksamkeit
von den judaistischen
Interpolationen, und sodann die Abfassung des großen kritischen
Werkes „Antithesen“, das die Unvereinbarkeit des ATs mit dem Evangelium
und seine Herkunft von einem
anderen Gott erweisen sollte, waren so umfangreiche und gewaltige
Aufgaben, daß sie nur in stiller, anhaltender Arbeit erfüllt
werden konnten. Da ihnen der Text zugrunde liegt, der uns für Rom
und das Abendland stärker bezeugt ist als für das Morgenland,
ist es wahrscheinlich, wenn auch nicht gewiß, daß M.
seine
grundlegenden Werke erst in Rom verfaßt hat, und da der Bruch mit
der römischen Kirche und die sich anschließende große
Propaganda sie voraussetzen, muß M. sie im J. 144
abgeschlossen
haben; denn in dieses Jahr (Ende Juli) fällt der Bruch. Also hat
M. wahrscheinlich als reifer Mann in den ca. 5 Jahren zwischen 139
und
144 sein Neues Testament und sein Antithesenwerk in Rom geschaffen;
doch ist die Möglichkeit offen zu lassen, daß das schon in
Kleinasien geschehen ist.
Als er sie vollendet hatte, trat er vor die
römische Gemeinde hin und forderte ihre Presbyter (wichtig,
daß die Quelle [Hippolyt] hier keinen Bischof erwähnt) auf,
zu dieser seiner Arbeit und damit zu seiner Lehre Stellung zu nehmen.
Es kam zu einer förmlichen Verhandlung — der ersten dieser Art,
die wir aus der alten Kirchengeschichte kennen, andererseits aber eine
Parallele zum sog. Apostelkonzil. Von Luk. 6, 43 („der gute und der
faule Baum“) ging M. bei der Verhandlung aus. Auch der in
seinem
Sinn noch deutlichere Spruch Luk. 5, 36 f. („neuer Wein, alte
Schläuche“) scheint schon damals eine Rolle gespielt zu haben;
jedenfalls bildete auch er eine Grundlage der Ausführungen
M.s. Beide Sprüche in ihrer scharfen Antithese sind in
der
Tat als Ausgangspunkte der Marcionitischen Lehre besonders geeignet.
Die Verhandlungen endeten mit einer scharfen
Abweisung der unerhörten Lehre und mit dem Ausschluß
M.s;
man gab ihm auch die 200 000 Sesterzen zurück. Noch nach zwei
Menschenaltern wußte nicht nur Hippolyt in Rom, sondern auch
Tertullian in Karthago von diesem eindrucksvollen Vorgang. Es wird
für immer denkwürdig bleiben, daß auf der ersten
römischen Synode, von der wir wissen, ein Mann vor den Presbytern
gestanden hat, der ihnen den Unterschied von Gesetz und Evangelium
darlegte
27 Marcions Leben
und Wirksamkeit
und ihr Christentum für
ein judaistisches erklärte. Wer denkt hier nicht an Luther! ¹
Schon damals vielleicht oder später erst wurde
M. — Tertullian berichtet es — auch ein Brief vorgehalten
(vermutlich
aus dem Archiv der römischen Kirche), in welchem er selbst bekannt
hatte, daß er früher den Glauben der großen Kirche
geteilt habe. Man braucht an der Echtheit des Briefs nicht zu zweifeln;
und selbst wenn er besagte, daß M. sich, als er nach Rom
kam,
noch als in Glaubenseinheit mit den römischen Christen stehend
gewußt hat (was ja auch der Eintritt in die Gemeinde und das
Geldgeschenk beweisen), so ist das nicht auffallend ²; denn
M.
nahm ja an, daß seine Lehre die genuine sei und daß sie
daher — bis zum Beweise des Gegenteils — auch die Zustimmung der
Christengemeinden finden müsse. Ganz vergeblich bemüht sich
daher Tertullian, M. aus dem Brief einen Strick zu drehen. Auch
sittlich ist es zu rechtfertigen, daß M., nachdem er in
Pontus
und in Asien abgewiesen war, in Rom nicht sofort als Reformator
auftreten, sondern zunächst weiter forschen und seiner
Glaubenslehre die volle Begründung geben wollte in der Hoffnung,
sie würde in dieser Gestalt von der Gemeinde der Welthauptstadt
und dann von der ganzen Christenheit anerkannt werden.
Gewiß mit schwerem Herzen hat M. das
Urteil,
das ihn ausschloß und seine Lehre als schlimmste Ketzerei
ablehnte, entgegengenommen; aber nun zog er mit gewaltiger Energie die
Konsequenz und begann seine reformatorische Propaganda im
größten Stil. Schon wenige Jahre später, um das J. 150,
schreibt Justin in der Apologie, daß sie sich ü
b e r d a s g a n z e M e n s c h e
n g e s c h l e c h t
erstrecke, und stellt M. neben den Erzketzer Simon Magus, nachdem
er
bereits vorher in seinem verlorenen Syntagma wider alle Häresien
die literarische Bekämpfung dieses „Apostels der Dämonen“
begonnen hatte. „Marcions häretische Tradition hat die ganze Welt
erfüllt“,
schreibt auch Tertullian (adv.
Marc. V, 19).
—————
¹ M. hat den Römern nicht
vom
Gott
des Lichts und der Finsternis, nicht vom Gegensatz des Geistes und der
Materie o. ä. gesprochen, sondern von dem Gegensatz des AT.s und
des Evangeliums, der die Annahme zweier Götter fordere.
² Der Brief kann aber auch einer viel
älteren Zeit angehören.
28 Marcions Leben und Wirksamkeit
Schwerlich
länger als etwa 15 Jahre nach dem J. 144 hat M.s Wirksamkeit
gedauert; denn keine Quelle berichtet, daß er noch zur Zeit Marc
Aurels gelebt hat. Wann und wo er gestorben ist, wissen wir nicht; die
Legende bei Tertullian, er habe auf dem Totenbette bereut und um
Wiederaufnahme in die Kirche gebeten, verdient keinen Glauben ¹.
Leider wissen wir von den Jahren der großen
Wirksamkeit M.s gar nichts; wir sehen nur die Früchte, die
außerordentliche Verbreitung der Marcionitischen K i
r c h e in allen Provinzen des
Reichs schon im Zeitalter der Antonine; denn nicht labile Sekten,
sondern e i n e große K i r c h e,
bestehend aus geordneten
und festgefügten Teilgemeinden — d i e
Kirche Jesu Christi — setzte M. im Bewußtsein, der berufene
Nachfolger des Paulus zu sein, der großen Kirche entgegen. Eben
deshalb hat ihn Justin neben Simon den Magier gestellt. Nur
d i e e i n e wichtige Nachricht ist
noch auf uns gekommen, daß M. mit dem syrischen Gnostiker
Cerdo
in Rom in Verbindung getreten sei und dieser Einfluß auf ihn
gewonnen habe. Einige Kirchenväter, Irenäus folgend, haben
diesen Einfluß maßlos übertrieben, um M.s
Originalität herabzudrücken und ihn dem landläufigen
Gnostizismus unterzuordnen ²; aber das Hauptstück der Lehre
M.s, die Entgegensetzung des guten f r e m d e n
Gottes und des gerechten Gottes, stammt nicht von Cerdo, der vielmehr
den Gegensatz des guten und des schlechten Gottes, wie andere
Gnostiker, verkündigte und ein syrischer Vulgärgnostiker
war.
D a d i e M a r c i o n i t i s c h
e K i r c h e u. W.
C e r d o n i e g e n a n n t u n
d a u s s c h l i e ß l i c h M. a
l s i h r e n S t i f t e r
v e r e h r t
h a t, so beruht das Abhängigkeitsverhältnis, in
welches
Irenäus und Hippolyt M. gesetzt haben, auf einem Irrtum, bzw.
einer Fälschung. Aber andrerseits ist es möglich, daß
gewisse Züge der Lehre M.s, die loser mit der Hauptlehre
zusammenhängen, dagegen mit syrisch-gnostischen Lehren aufs
nächste verwandt sind (die Fassung des Verhältnisses von
Geist und Fleisch; der strenge Doketismus), auf den Einfluß
Cerdos zurückgehen.
—————
¹ Auch sie gehört
höchst
wahrscheinlich der polemischen konfessionellen Topik an, die noch heute
in Kraft ist, wie die böse Fabel von der Verführung einer
Jungfrau.
² S. die Beilage
II: „Cerdo und Marcion“.
29 Marcions Leben und Wirksamkeit
Muß dies anerkannt
werden, so ist es unwahrscheinlich, daß M., wie Epiphanius
behauptet, erst nach seinem Bruch mit der römischen Gemeinde von
Cerdo beeinflußt worden ist oder sich gar nunmehr „zur
Häresie Cerdos geflüchtet hat“; denn jene Züge der
Verwandtschaft treten in der Kritik des Textes des Evangeliums und der
Paulusbriefe deutlich hervor sowie in dem Antithesenwerk M.s;
diese
Arbeiten aber sind (s. o.) schwerlich erst nach dem Bruch mit der
Kirche abgefaßt worden ¹.
Der Tag dieses Bruchs, unmittelbar nach den
Verhandlungen mit den Presbytern der römischen Kirche, d. h. die
Stiftung ihrer Reformationskirche, ist im Gedächtnis der
Marcionitischen Kirche geblieben; er fiel in den Juli des J. 144; denn
die Marcioniten berechneten nach ihm den zeitlichen Abstand zwischen
Christus und M. auf 115 Jahre und 6½ Monate.
Daß M. sich persönlich (in Rom?) mit
Valentin und Basilides berührt hat („wie ein Älterer mit
Jüngeren“), kann man mindestens nicht mit Wahrscheinlichkeit aus
einer Stelle bei Clemens (Strom. VII, 18, 107) schließen, und die
abgerissene Nachricht im Muratorischen Fragment, Valentin und noch ein
anderer hätten für M. ein neues Psalmbuch geschrieben,
bleibt
ganz dunkel. Ist der christliche römische Lehrer Ptolemäus,
den Justin in der sog. zweiten Apologie erwähnt, mit dem bekannten
—————
¹ Von den persönlichen
Verhältnissen
Cerdos ist so gut wie nichts bekannt. Was die Voraussetzungen seiner
Lehre betrifft, so bringt ihn Irenäus mit den Simonianern in
Zusammenhang (ἀπὸ τῶν
περὶ τὸν Σίμωνα),
was nichts
besagt, und
bezeichnet M. als seinen Diadochen. Hippolyt nennt ihn den Lehrer
M.s
und sagt, daß er aus Syrien nach Rom gekommen sei. Epiphanius
bringt ihn u. a. mit Satornil in Verbindung, zu dem er in der Tat zu
gehören scheint. Aber auf guter Kunde beruht die Angabe des
Irenäus, daß Cerdo wie Valentin unter dem Bischof Hygin nach
Rom gekommen sei und daß sein Verhältnis zur Kirche sich
erst allmählich negativ geklärt hat (πολλάκις εἰς τὴν
ἐκκλησίαν ἐλθὼν καὶ ἐξομολογούμενος οὕτως διετέλεσε, ποτὲ μὲν
λαθροδιδασκαλῶν, ποτὲ
δὲ πάλιν ἐξομολογούμενος, ποτὲ δὲ ὑπό τινων ἐλεγχόμενος ἐϕ’
οἷς ἐδίδασκε κακῶς καὶ ἀφιστάμενος τῆς τῶν θεοσεβῶν συνοδίας). Dies ist
die
kostbarste
Nachricht, die wir in bezug auf die Schwierigkeiten besitzen, die im
vorkatholischen Zeitalter, die Ausscheidung von Häretikern
betreffend, bestanden haben, und wirft auch ein Licht auf M.s
Verhältnis zur Kirche, bis es zum definitiven Bruch in Rom kam.
Beide Häretiker wollten augenscheinlich in der großen Kirche
bleiben.
30 Marcions Leben und Wirksamkeit
römischen Valentinianer
gleichen Namens identisch (was nicht unwahrscheinlich), so kann sich
M.
mit diesem in Rom berührt haben.
Letzte
Änderung am 15. Dezember 2017