ADOLF VON HARNACK

MARCION: DAS EVANGELIUM VOM FREMDEN GOTT
Kapitel II, Seite 21—30

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II. Marcions Leben und Wirksamkeit ¹.

    Marcion war nach guter Überlieferung aus Sinope, der wichtigsten griechischen Handelsstadt am Südufer des Schwarzen Meeres, gebürtig, ein Landsmann also des Cynikers Diogenes, worauf Tert. (adv. Marc. I, 1) anspielt ². Er mag um das Jahr 85 oder etwas später geboren sein.
    Im Pontus gab es in der frühen Kaiserzeit Judengemeinden. Der Mitarbeiter des Paulus, Aquila, stammte von dort (Apostelgesch. 18, 2) und ebenso der Bibelübersetzer gleichen Namens, ein jüdischer Proselyt. Er war ein genauer Zeitgenosse Marcions, ja, wenn man Epiphanius trauen darf, auch aus Sinope gebürtig (Iren. bei Euseb., V, 8, 10; Epiphan., De mens. et pond. 14 f) ³. Merkwürdig — aus dieser Stadt sind der schärfste Gegner des Judentums und der skrupulöseste Übersetzer der jüdischen heiligen Schrift gleichzeitig hervorgegangen!  Gerne würde man
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    ¹ S. hierzu die Beilage I: „Untersuchungen über die Person und die Lebensgeschichte Marcions“.
    ² Nur vom Pontus, nicht von Sinope, hat Tert. gewußt. — In der Bedürfnislosigkeit berührten sich Marcion und Diogenes. Die Gegner nannten diesen „den tollgewordenen Sokrates“; in bezug auf das Verhältnis jenes zu Paulus könnte Übelwollen etwas Ähnliches behaupten.
    ³ Daß beide Aquila’ Pontiker waren, scheint mir unverdächtig (gegen   S c h ü r e r,   Gesch. des Volkes Israel Bd. III S. 435). Sinope als Vaterstadt des Bibelübersetzers wird man gelten lassen dürfen, auch wenn die anderen Angaben des Epiphanius (Aquila ein Verwandter Hadrians, zuerst Christ, als Astrologe ausgeschlossen, dann Jude) dahingestellt bleiben müssen.
     Nach Epiphanius (l. c. 17 f., vgl. Chron. pasch. I p. 491) soll auch der andere jüdische Bibelübersetzer, Theodotion, aus dem Pontus, ja aus Sinope, stammen, ursprünglich Marcionit gewesen, dann zum Judentum


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hier Näheres über die Propaganda des Judentums erfahren und ihre antithetischen Wirkungen; aber die Überlieferung ist schweigsam.
    In jedem Sinne antithetisch sind übrigens Marcion und der Bibelübersetzer Aquila nicht, vielmehr besteht sogar eine gewisse Wahlverwandtschaft: auch Marcion will von dem Buchstaben des ATs nichts abmarkten und buchstäbelt in seiner Weise wie Aquila. Das haben seine kirchlichen Gegner wohl bemerkt und ihm vorgerückt. Es läßt sich aber überhaupt die Frage aufwerfen, ob M. nicht eine Zeit erlebt hat, in der er dem Judentum nahe gestanden hat. Von hellenischem Geiste spürt man schlechterdings nichts in ihm,   d i e   j ü d i s c h e n   A u s l e g u n g e n   d e s   ATs   s i n d   i h m   w o h l b e k a n n t,   und seine ganze Stellung zum AT und Judentum läßt sich am besten als Ressentiment begreifen. Bereits in den „Neuen Studien zu M.“ S. 15 habe ich die Hypothese aufgestellt: M. bezw. seine Familie kommt vom Judentum her; jüdischer Proselytismus ging der Bekehrung zum Christentum voran, was ja nicht auffallend, sondern bei den Bekehrungen ältester Zeit die Regel gewesen ist. Dafür spricht auch, daß er die messianischen Weissagungen ebenso erklärt wie die Juden ¹; sein Christentum erbaut sich also auf einem Ressentiment in bezug auf das Judentum und seine Religion. Eben deshalb hat er auch eine ähnliche Erfahrung machen können, wie Paulus, nur daß sie extensiv viel weiter greift wie beim Apostel, der nur mit dem Gesetze bricht, nicht aber mit dem Gesetzgeber und dem AT.
    Christen im Pontus setzt der erste Petrusbrief voraus, und wie zahlreich und stark die christlichen Gemeinden dort schon
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übergetreten sein und unter Commodus gewirkt haben. Allein soweit man seine Angaben zu kontrollieren vermag, bestehen sie die Probe nicht. Nach Irenäus (l. c.) war Theodotion Ephesier und Proselyt wie Aquila; auch gegen den chronologischen Ansatz des Epiphanius erheben sich starke Bedenken.
    ¹ Er kennt ihre zeitgeschichtlichen Deutungen und er hält das ganze AT für   w a h r e   Geschichte und traut seinem Buchstaben. Welche Gnostiker, welche Kirchenlehrer haben das sonst getan? Jene machen Unterscheidungen oder nehmen Lug und Trug an, diese allegorisieren. M. aber hält’s mit den Juden! Man erinnere sich hier, daß Tert.s Polemik gegen M. und gegen die Juden auf großen Strecken einfach identisch ist.


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z. Z. Trajans waren, lehrt uns der berühmte Brief des Plinius an Trajan. Er ist nach neueren Untersuchungen in oder bei Amisus geschrieben ¹. Auf eine feste Organisation der dortigen Gemeinden am Anfang des 2. Jahrhunderts lassen die „Diakonissen“ schließen, welche Plinius erwähnt.
    Daher hat die auch sonst unverdächtige Nachricht Hippolyts, Marcion sei der Sohn des Bischofs (eines Bischofs) von Sinope gewesen, nichts gegen sich; ja die Entwicklung Marcions wird uns verständlicher, wenn er von frühen Jahren her Christ gewesen ist und in der großen Gemeinde gestanden hat. Zeitlebens hat er, im Unterschied von den Gnostikern, für die große Gemeinde, d. h. die ganze Christenheit, gearbeitet, und niemals hat er ein Sektierer sein wollen. Auch seine Vertrautheit mit dem AT und der, sei es auch zum Abscheu gewordene, Respekt vor seinem Buchstaben erklären sich leichter, wenn er mit dem heiligen Buche aufgewachsen ist.
    Aber die andere Nachricht, welche ebenfalls Hippolyt bringt, Marcion sei in Sinope von seinem Vater exkommuniziert worden, weil er eine Jungfrau verführt habe, verdient keinen Glauben. Hippolyt selbst hat sie in seinem späteren antignostischen Werk, der Refutatio, nicht wiederholt; Irenäus, Rhodon, Tertullian, die Alexandriner und Eusebius schweigen über sie; sie entstammt gewiß der polemischen Topik; generell sagt Hegesipp, die Ketzer hätten die Kirche, die reine Jungfrau, verführt ².
    Dagegen braucht man nicht zu bezweifeln, daß M. von seinem eigenen Vater exkommuniziert worden ist. Die Nachricht ist so singulär in der Ketzergeschichte, daß sie schon deshalb Glauben verdient. Ist M. aber in Sinope exkommuniziert worden, so wird es einer Irrlehre wegen geschehen sein, und das ist ja auch der Sinn der Legende, er habe eine Jungfrau verführt.
    Exkommunikationen im Sinne der Praxis der späteren Kirche kann es unter Hadrian noch nicht gegeben haben: sie
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    ¹ S.   W i l c k e n   im „Hermes“ Bd. 49 (1914) S. 120 ff.
    ² Die Geschichte deshalb für wahrscheinlich zu halten, weil die strenge sexuelle Askese, die M. nachmals geboten hat, als Ressentiment zu verstehen sei, wäre auch dann noch fragwürdig, wenn die Anekdote genügend bezeugt wäre.


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besagten teils mehr, teils weniger. Mehr, denn sie konnten unter so strengen Formen vollzogen worden sein, daß der Ausgestoßene dem Satan übergeben wurde; weniger, denn das Urteil der exkommunizierenden Gemeinde war nicht für andere Gemeinden ohne weiteres gültig. Sicher aber dürfen wir annehmen, daß nur eine schwere Irrlehre die Exkommunikation veranlaßt hat; denn nur im äußersten Fall entschloß man sich damals einen Bruder auszuschließen, wenn er doch Christus als seinen Herrn anerkannte. M. muß also schon damals die Grundzüge seiner der großen Kirche unerträglichen Lehre vertreten haben ¹.
    Er begab sich nach Kleinasien; es war schon eine Propagandareise. Eine unverächtliche Quelle erzählt, daß er Briefe Pontischer Brüder mit sich führte. Nur Empfehlungsschreiben können es gewesen sein, woraus folgt, daß er in seiner Heimat doch auch Anhänger besaß, daß seine Ausschließung dort also nicht ohne Widerspruch erfolgt war. Allein auch in Kleinasien (Ephesus: so die Quelle; wohl auch Smyrna und vielleicht Hierapolis), wo er Anerkennung bei den Gemeindevorstehern suchte und ihnen seine Auffassung des Evangeliums vorlegte, wurde er abgelehnt und zurückgestoßen. Damals wird wohl jene Begegnung mit Polykarp stattgefunden haben — oder doch erst später in Rom? —, von der uns Irenäus (nach Papias?) berichtet. Den Anerkennung begehrenden wies Polykarp in schärfster Weise ab: „Ich anerkenne dich als Erstgeborenen des Satan.“ M. muß schon seine „Zweigötter“-Lehre und die Verwerfung des AT vorgetragen und der Gemeinde insinuiert haben, wenn Polykarp ihm in dieser grausamen Weise begegnete.
    Jetzt begab sich M. nach Rom: Pontus, Kleinasien, Rom be-
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    ¹ Von seinem Bildungsgang wissen wir nichts; aber seine Textkritik beweist, daß er ein gebildeter Mann war, also mindestens auch das übliche philosophische Wissen besaß. Seine dezidierte Abneigung gegen die Philosophie (s. u.) spricht nicht dagegen. „Ardens ingenii et doctissimus“ hat ihn Hieronymus, sicher Origenes ausschreibend (er beruft sich auf eine Überlieferung) Comm. in Osee 1. II zu c. 10, 1 genannt; s. d. Motto oben S. 1. Daß die Kirchenväter alle möglichen griechischen Hauptphilosophen für seine Lehrmeister ausgegeben haben, kommt nicht in Betracht; aber ein Mann, den Origenes „doctissimus“ genannt hat, muß erstlich sehr bibelkundig gewesen sein — das können auch wir noch feststellen — und zweitens auch eine gute weltliche Bildung besessen haben.


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deuteten auch kirchlich schon damals eine Klimax: wer auf die ganze Christenheit Einfluß gewinnen wollte, mußte in die Welthauptstadt gehen ¹. Auf seinem eigenen Schiffe fuhr er dorthin; denn wir hören aus besten Quellen (Rhodon in Rom, Tertullian), daß er ein begüterter Schiffsherr und in Rom als solcher bekannt (ὁ ναύτηϛ Μαρκίων, nauclerus ²). Diese Reise fällt wahrscheinlich in das 1. Jahr des Antoninus Pius, sicher um diese Zeit. Eine Nachricht bei Hieronymus lautet, M. habe schon vorher eine Anhängerin dorthin geschickt, um seine Ankunft vorzubereiten. Das ist undurchsichtig.
    Trotz der Abweisungen im Pontus und in Asien empfand und wußte sich M. noch immer als ein Glied der allgemeinen Christenheit und daher als „Bruder“; nach seiner Überzeugung vertrat er das Evangelium, wie es der Christenheit geschenkt war und wie sie es vertreten sollte. Er trat daher der römischen Christengemeinde bei und schenkte ihr bei seinem Eintritt 200 000 Sesterzen. In Rom wird man zunächst nichts von seiner Vorgeschichte und seiner Lehre gewußt haben; aber wenn sie auch bald bekannt geworden sind, so lag nicht sofort eine Nötigung für die Gemeinde vor, ihn auszuschließen. Sie konnten abwarten. Das Geldgeschenk mag auch dazu beigetragen haben, die Kritik an dem neuen Gemeindegliede nicht zu beschleunigen, und M. selbst kann die Propaganda seiner Lehre vorsichtig begonnen haben. Es ist auch für die Zeit nach seinem Bruche mit der großen Kirche charakteristisch, daß uns kein schmähendes oder böses Wort über diese und ihre Mitglieder überliefert ist ³.
    Es ist aber auch möglich, ja es hat eine gewisse Wahrscheinlichkeit, daß M. sich zuerst in Rom noch ganz zurückgehalten hat, um in ernster Arbeit die Grundlagen seiner Lehre aufs sicherste auszubilden. Die Herstellung des   e c h t e n   Textes des Evangeliums und der Briefe des Paulus, d. h. ihre Reinigung
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    ¹ Vielleicht hat auch die Erwägung Marcion zur Reise nach Rom bestimmt, daß dort der Bruch der Kirche mit dem Judentum vollständiger war als in Asien. Man fastete am Sabbat und hielt Ostern nicht mit den Juden zusammen. M. konnte hoffen, dort einen günstigeren Boden zu finden.
    ² Wiederholt benutzt Tertullian den weltlichen Beruf Marcions, um ihn zu verspotten.
    ³ Er entrüstet sich über die Urapostel und die judaistischen Evangelisten; aber die große Kirche seiner Zeit sieht er als verführte an.


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von den judaistischen Interpolationen, und sodann die Abfassung des großen kritischen Werkes „Antithesen“, das die Unvereinbarkeit des ATs mit dem Evangelium und seine Herkunft von einem
anderen Gott erweisen sollte, waren so umfangreiche und gewaltige Aufgaben, daß sie nur in stiller, anhaltender Arbeit erfüllt werden konnten. Da ihnen der Text zugrunde liegt, der uns für Rom und das Abendland stärker bezeugt ist als für das Morgenland, ist es wahrscheinlich, wenn auch nicht gewiß, daß M. seine grundlegenden Werke erst in Rom verfaßt hat, und da der Bruch mit der römischen Kirche und die sich anschließende große Propaganda sie voraussetzen, muß M. sie im J. 144 abgeschlossen haben; denn in dieses Jahr (Ende Juli) fällt der Bruch. Also hat M. wahrscheinlich als reifer Mann in den ca. 5 Jahren zwischen 139 und 144 sein Neues Testament und sein Antithesenwerk in Rom geschaffen; doch ist die Möglichkeit offen zu lassen, daß das schon in Kleinasien geschehen ist.
    Als er sie vollendet hatte, trat er vor die römische Gemeinde hin und forderte ihre Presbyter (wichtig, daß die Quelle [Hippolyt] hier keinen Bischof erwähnt) auf, zu dieser seiner Arbeit und damit zu seiner Lehre Stellung zu nehmen. Es kam zu einer förmlichen Verhandlung — der ersten dieser Art, die wir aus der alten Kirchengeschichte kennen, andererseits aber eine Parallele zum sog. Apostelkonzil. Von Luk. 6, 43 („der gute und der faule Baum“) ging M. bei der Verhandlung aus. Auch der in seinem Sinn noch deutlichere Spruch Luk. 5, 36 f. („neuer Wein, alte Schläuche“) scheint schon damals eine Rolle gespielt zu haben; jedenfalls bildete auch er eine Grundlage der Ausführungen M.s. Beide Sprüche in ihrer scharfen Antithese sind in der Tat als Ausgangspunkte der Marcionitischen Lehre besonders geeignet.
    Die Verhandlungen endeten mit einer scharfen Abweisung der unerhörten Lehre und mit dem Ausschluß M.s; man gab ihm auch die 200 000 Sesterzen zurück. Noch nach zwei Menschenaltern wußte nicht nur Hippolyt in Rom, sondern auch Tertullian in Karthago von diesem eindrucksvollen Vorgang. Es wird für immer denkwürdig bleiben, daß auf der ersten römischen Synode, von der wir wissen, ein Mann vor den Presbytern gestanden hat, der ihnen den Unterschied von Gesetz und Evangelium darlegte


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und ihr Christentum für ein judaistisches erklärte. Wer denkt hier nicht an Luther! ¹
    Schon damals vielleicht oder später erst wurde M. — Tertullian berichtet es — auch ein Brief vorgehalten (vermutlich aus dem Archiv der römischen Kirche), in welchem er selbst bekannt hatte, daß er früher den Glauben der großen Kirche geteilt habe. Man braucht an der Echtheit des Briefs nicht zu zweifeln; und selbst wenn er besagte, daß M. sich, als er nach Rom kam, noch als in Glaubenseinheit mit den römischen Christen stehend gewußt hat (was ja auch der Eintritt in die Gemeinde und das Geldgeschenk beweisen), so ist das nicht auffallend ²; denn M. nahm ja an, daß seine Lehre die genuine sei und daß sie daher — bis zum Beweise des Gegenteils — auch die Zustimmung der Christengemeinden finden müsse. Ganz vergeblich bemüht sich daher Tertullian, M. aus dem Brief einen Strick zu drehen. Auch sittlich ist es zu rechtfertigen, daß M., nachdem er in Pontus und in Asien abgewiesen war, in Rom nicht sofort als Reformator auftreten, sondern zunächst weiter forschen und seiner Glaubenslehre die volle Begründung geben wollte in der Hoffnung, sie würde in dieser Gestalt von der Gemeinde der Welthauptstadt und dann von der ganzen Christenheit anerkannt werden.
    Gewiß mit schwerem Herzen hat M. das Urteil, das ihn ausschloß und seine Lehre als schlimmste Ketzerei ablehnte, entgegengenommen; aber nun zog er mit gewaltiger Energie die Konsequenz und begann seine reformatorische Propaganda im größten Stil. Schon wenige Jahre später, um das J. 150, schreibt Justin in der Apologie, daß sie sich   ü b e r   d a s   g a n z e   M e n s c h e n g e s c h l e c h t   erstrecke, und stellt M. neben den Erzketzer Simon Magus, nachdem er bereits vorher in seinem verlorenen Syntagma wider alle Häresien die literarische Bekämpfung dieses „Apostels der Dämonen“ begonnen hatte. „Marcions häretische Tradition hat die ganze Welt erfüllt“, schreibt auch Tertullian (adv. Marc. V, 19).
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    ¹ M. hat den Römern nicht vom Gott des Lichts und der Finsternis, nicht vom Gegensatz des Geistes und der Materie o. ä. gesprochen, sondern von dem Gegensatz des AT.s und des Evangeliums, der die Annahme zweier Götter fordere.
    ² Der Brief kann aber auch einer viel älteren Zeit angehören.


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    Schwerlich länger als etwa 15 Jahre nach dem J. 144 hat M.s Wirksamkeit gedauert; denn keine Quelle berichtet, daß er noch zur Zeit Marc Aurels gelebt hat. Wann und wo er gestorben ist, wissen wir nicht; die Legende bei Tertullian, er habe auf dem Totenbette bereut und um Wiederaufnahme in die Kirche gebeten, verdient keinen Glauben ¹.
    Leider wissen wir von den Jahren der großen Wirksamkeit M.s gar nichts; wir sehen nur die Früchte, die außerordentliche Verbreitung der Marcionitischen   K i r c h e   in allen Provinzen des Reichs schon im Zeitalter der Antonine; denn nicht labile Sekten, sondern   e i n e   große   K i r c h e,   bestehend aus geordneten und festgefügten Teilgemeinden — d i e   Kirche Jesu Christi — setzte M. im Bewußtsein, der berufene Nachfolger des Paulus zu sein, der großen Kirche entgegen. Eben deshalb hat ihn Justin neben Simon den Magier gestellt. Nur   d i e   e i n e   wichtige Nachricht ist noch auf uns gekommen, daß M. mit dem syrischen Gnostiker Cerdo in Rom in Verbindung getreten sei und dieser Einfluß auf ihn gewonnen habe. Einige Kirchenväter, Irenäus folgend, haben diesen Einfluß maßlos übertrieben, um M.s Originalität herabzudrücken und ihn dem landläufigen Gnostizismus unterzuordnen ²; aber das Hauptstück der Lehre M.s, die Entgegensetzung des guten   f r e m d e n   Gottes und des gerechten Gottes, stammt nicht von Cerdo, der vielmehr den Gegensatz des guten und des schlechten Gottes, wie andere Gnostiker, verkündigte und ein syrischer Vulgärgnostiker war.   D a   d i e   M a r c i o n i t i s c h e   K i r c h e   u.   W.   C e r d o   n i e   g e n a n n t   u n d   a u s s c h l i e ß l i c h   M.   a l s   i h r e n   S t i f t e r   v e r e h r t   h a t,   so beruht das Abhängigkeitsverhältnis, in welches Irenäus und Hippolyt M. gesetzt haben, auf einem Irrtum, bzw. einer Fälschung. Aber andrerseits ist es möglich, daß gewisse Züge der Lehre M.s, die loser mit der Hauptlehre zusammenhängen, dagegen mit syrisch-gnostischen Lehren aufs nächste verwandt sind (die Fassung des Verhältnisses von Geist und Fleisch; der strenge Doketismus), auf den Einfluß Cerdos zurückgehen.
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    ¹ Auch sie gehört höchst wahrscheinlich der polemischen konfessionellen Topik an, die noch heute in Kraft ist, wie die böse Fabel von der Verführung einer Jungfrau.
    ² S. die Beilage II: „Cerdo und Marcion“.


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Muß dies anerkannt werden, so ist es unwahrscheinlich, daß M., wie Epiphanius behauptet, erst nach seinem Bruch mit der römischen Gemeinde von Cerdo beeinflußt worden ist oder sich gar nunmehr „zur Häresie Cerdos geflüchtet hat“; denn jene Züge der Verwandtschaft treten in der Kritik des Textes des Evangeliums und der Paulusbriefe deutlich hervor sowie in dem Antithesenwerk M.s; diese Arbeiten aber sind (s. o.) schwerlich erst nach dem Bruch mit der Kirche abgefaßt worden ¹.
    Der Tag dieses Bruchs, unmittelbar nach den Verhandlungen mit den Presbytern der römischen Kirche, d. h. die Stiftung ihrer Reformationskirche, ist im Gedächtnis der Marcionitischen Kirche geblieben; er fiel in den Juli des J. 144; denn die Marcioniten berechneten nach ihm den zeitlichen Abstand zwischen Christus und M. auf 115 Jahre und 6½ Monate.
    Daß M. sich persönlich (in Rom?) mit Valentin und Basilides berührt hat („wie ein Älterer mit Jüngeren“), kann man mindestens nicht mit Wahrscheinlichkeit aus einer Stelle bei Clemens (Strom. VII, 18, 107) schließen, und die abgerissene Nachricht im Muratorischen Fragment, Valentin und noch ein anderer hätten für M. ein neues Psalmbuch geschrieben, bleibt ganz dunkel. Ist der christliche römische Lehrer Ptolemäus, den Justin in der sog. zweiten Apologie erwähnt, mit dem bekannten
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    ¹ Von den persönlichen Verhältnissen Cerdos ist so gut wie nichts bekannt. Was die Voraussetzungen seiner Lehre betrifft, so bringt ihn Irenäus mit den Simonianern in Zusammenhang (ἀπὸ τῶν περὶ τὸν Σίμωνα), was nichts besagt, und bezeichnet M. als seinen Diadochen. Hippolyt nennt ihn den Lehrer M.s und sagt, daß er aus Syrien nach Rom gekommen sei. Epiphanius bringt ihn u. a. mit Satornil in Verbindung, zu dem er in der Tat zu gehören scheint. Aber auf guter Kunde beruht die Angabe des Irenäus, daß Cerdo wie Valentin unter dem Bischof Hygin nach Rom gekommen sei und daß sein Verhältnis zur Kirche sich erst allmählich negativ geklärt hat (πολλάκις εἰς τὴν ἐκκλησίαν ἐλθὼν καὶ ἐξομολογούμενος οὕτως διετέλεσε, ποτὲ μὲν λαθροδιδασκαλῶν, ποτὲ δὲ πάλιν ἐξομολογούμενος, ποτὲ δὲ ὑπό τινων ἐλεγχόμενος ἐϕ’ οἷς ἐδίδασκε κακῶς καὶ ἀφιστάμενος τῆς τῶν θεοσεβῶν συνοδίας). Dies ist die kostbarste Nachricht, die wir in bezug auf die Schwierigkeiten besitzen, die im vorkatholischen Zeitalter, die Ausscheidung von Häretikern betreffend, bestanden haben, und wirft auch ein Licht auf M.s Verhältnis zur Kirche, bis es zum definitiven Bruch in Rom kam. Beide Häretiker wollten augenscheinlich in der großen Kirche bleiben.


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römischen Valentinianer gleichen Namens identisch (was nicht unwahrscheinlich), so kann sich M. mit diesem in Rom berührt haben.





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Letzte Änderung am 15. Dezember 2017