ADOLF VON HARNACK

MARCION: DAS EVANGELIUM VOM FREMDEN GOTT
Einleitung, Seite 1—21

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1


„Non putetis quia potuerunt fieri
haereses per aliquas parvas animas;
non fecerunt haereses nisi magni homines,
sed quantum magni, tantum mali montes.“
Augustin.

„Nullus potest haeresim struere, nisi
qui ardentis ingenii est et habet dona
naturae, quae a deo artifice sunt creata,
talis fuit Marcion, quem doctissimum legimus.“
Hieronymus (Origenes).



I. Einleitung.

Die religionsgeschichtlichen Voraussetzungen der christlichen Verkündigung Marcions und die innere Lage der Christenheit bei seinem Auftreten.

    Der Mann, dem die folgenden Blätter gewidmet sind, war ein   R e l i g i o n s s t i f t e r;   als solchen hat ihn schon sein Zeitgenosse und erster literarischer Gegner, Justin der Apologet, erkannt. Aber Marcion gehörte zu den Religionsstiftern, die selbst nicht wissen, daß sie es sind. Diese Selbsttäuschung war bei ihm entschuldbarer als bei irgendeinem anderen; denn der Apostel Paulus hat keinen überzeugteren Schüler als ihn gehabt, und von keinem anderen Gott wollte M. wissen als von dem, der in dem Gekreuzigten erschienen war.

1.
    Im ersten Jahrhundert unserer Zeitrechnung las man in Athen und Rom, vermutlich auch in anderen Städten Altarinschriften, die da lauteten: „Den unbekannten Göttern“, oder: „Den Göttern Asiens, Europas und Afrikas, den unbekannten und fremden Göttern“, vielleicht auch: „Dem unbekannten Gott“ ¹.
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    ¹ S. über sie die eindringenden Untersuchungen   N o r d e n s   („Agnostos Theos“, 1913, S 1 ff).


2 Einleitung

    Diese Inschriften wollten aus dem Motiv der Furcht heraus unliebsamen Eingriffen übersehener oder ausländischer Gottheiten im voraus begegnen („religio eventualis)“. Das Attribut „unbekannt“ barg also kein theologisches Geheimnis.
    Aber schon seit Sokrates gab es in der Religionsphilosophie, wenn auch nicht unter diesem Namen, einen „unbekannten und fremden Gott“. „Unbekannt“ war er, weil er keinen Namen hat; „fremd“ war er, weil er nicht zu den „dii patrii“ gehörte. Das Wichtigste aber war, daß er in der   E i n z a h l   und als der   E i g e n t l i c h e   vorgestellt werden mußte, und daß er daher alle anderen Götter entwertete und auflöste.
    Eben dadurch wurde der unbekannte Gott ein kündlich großes Geheimnis und wurde zum bekannten. Zwar blieb er dem Namen nach der unbekannte, ja er erhielt erst jetzt diesen Namen oder ähnliche — denn die patriotische Überlieferung und das Volk kennen ihn nicht —; aber das religiöse Wissen wurde in bezug auf ihn immer beredter und in bezug auf die anderen Götter immer stummer und abschätziger; es arbeitete aus dem negativen Attribut „Unbekannt“ eine Fülle positiver Attribute heraus und wußte mit den bekannten Göttern nichts mehr anzufangen. Mit den „unbekannten und fremden Göttern Asiens, Europas und Afrikas“ hat dieser Unbekannte gar nichts zu tun; durch eine Weltenferne ist er von ihnen geschieden und lebt in einer ganz anderen Sphäre als sie. Er ist viel ferner und viel näher!
    Dennoch, so erzählt die Apostelgeschichte, sind sie und er zusammengebracht worden, und durch keinen Geringeren als den Apostel Paulus in Athen. Daß ihm oder, wie einige meinen, seinem Erzähler — es tut nichts zur Sache — das möglich war, ist auch ein Zeichen der Zeit, d. h. des Synkretismus. Wie man zahlreiche sehr irdische Prophezeiungen damals ins Überirdische umdeutete, so deutete Paulus die gespenstischen oder nur „eventuellen“ unbekannten Götter in   d e n   unbekannten Gott um. Alsbald aber stellte er diesen unbekannten als nur   v e r k a n n t e n   Gott dar und predigte von ihm als dem Schöpfer und Leiter der Welt.
    Darin ist ihm die große Kirche gefolgt. Sie hat nur dann noch vom unbekannten Gott gesprochen, wenn sie die Blindheit des Heidentums ihm gegenüber ins Auge faßte oder wenn sie die Erhabenheit dieses Gottes über die menschliche Vernunft


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und ihre Erkenntnis zu betonen Grund hatte. Sonst kannte sie ihn durch seine Offenbarung in der Welt, in der Geschichte und in Jesus Christus; sie kannte ihn und rief ihn bei Namen.
    Aber die christlichen Gnostiker, hellenischen Mystikern und Philosophen folgend, nahmen es mit dem Begriff „unbekannt“ ernst: ihr Gott, obgleich der Vater Jesu Christi, war wirklich der unbekannte; denn auf dem langen Wege der Spekulation über ihn von Plato her hatte sich allmählich der Zusammenhang dieses Gottes mit der Welt nicht nur gelockert, sondern ganz aufgelöst. Von inneren Erfahrungen und Beobachtungen aus, die sich immer souveräner geltend machten, vermochten sie den reinen, guten und erhabenen Gott, den sie in ihrem Busen fanden, immer weniger in Beziehung zur äußeren Welt, die so schlecht ist, zu setzen, bis zuletzt das verbindende Band ganz zerriß:   d e r   u n b e k a n n t e   G o t t   i s t   n i c h t   d e r   W e l t s c h ö p f e r.   Eben darum ist er der unbekannte. Die aus der Innerlichkeit stammenden Attribute Gottes als des Geistigen, Heiligen und Guten erhoben ihn so hoch über die Welt, daß er nicht mehr als ihr Schöpfer und Regierer gedacht werden durfte. In dem Momente aber wurde die Welt vollends unwert, da nicht nur alle Werte, sondern auch alles wahre Sein bei dem Unbekannten zu suchen sind. Sie wurde zum Gefängnis; zur Hölle, zum Sinnlosen, zum eklen Schein, ja zum Nichts. Alle diese Urteile sind im Grunde identisch: das Recht zu sein, war ihr entzogen; also löste ihre sinnenfällige Existenz alle denkbaren Mißempfindungen und Verurteilungen aus.
    Aber die Gnostiker machten dabei doch einen gewaltigen Vorbehalt. Der Mensch, mitten in der Welt stehend und durch Leib und Seele ihr zugehörig, besitzt in seinem Geiste einen Funken von dem Sein und Leben des unbekannten Gottes. Diese Ausstattung verbindet ihn so enge mit ihm, daß dieser Gott dem Geiste überhaupt kein Fremder und nur relativ ein Unbekannter ist: der Unbekannte braucht dem verdunkelten und geschwächten Geiste nur zu erscheinen und alsbald erkennt und erfaßt er ihn. Also ist in dieser raumzeitlichen und sinnlichen Welt doch etwas Göttliches vorhanden, und diese Erkenntnis konnte nicht ohne Folgen für die Betrachtung der Welt selbst bleiben: es steckt in diesem Kosmos irgendwie etwas Überirdisches und Wertvolles.


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    Alle namhaften Gnostiker dachten so, und wie sie ihr Selbstbewußtsein an diesem Gedanken ins Ungemessene zu steigern vermochten, so konnte auch die rettende Tat des erscheinenden Unbekannten nur wie die Einlösung einer gebotenen Verpflichtung erscheinen, die die Selbsterlösung des stammverwandten Geistes lediglich unterstützt.
    Da erschien ein religiöser Denker auf dem Plan, der mit dem Hauptansatz dieser ganzen religiösen Betrachtung vollen Ernst machte.   E r   s t a n d   n i c h t   i n n e r h a l b   i h r e r   E n t w i c k l u n g s l i n i e,   und war nicht in ihre Halbheiten verwickelt; ebendeshalb konnte er Ernst machen. Er kam von anderen Voraussetzungen her, vom Alten Testament, vom biblischen Christentum, von Paulus. Er hatte Gott an der Erscheinung Jesu Christi ganz und ausschließlich als Vater der Barmherzigkeit und Gott alles Trostes kennen gelernt und war gewiß, daß keine andere Aussage über ihn gültig, ja daß jede andere der schwerste Irrtum sei. Daher verkündigte er diesen Gott konsequent und ausschließlich als   d e n   g u t e n   E r l ö s e r,   zugleich aber als den Unbekannten und als den   F r e m d e n.   U n b e k a n n t   ist er, weil er in keinem Sinn an der Welt und an dem Menschen erkannt werden kann;   f r e m d   ist er, weil ihn schlechterdings kein naturhaftes Band und keine Verpflichtung mit der Welt und dem Menschen verbindet,   a u c h   n i c h t   m i t   s e i n e m   G e i s t e.   Als ein in jedem Sinn   f r e m d e r   Gast und   f r e m d e r   Herr tritt dieser Gott in die Welt ein. Er   i s t   e i n e   u n g e h e u r e   P a r a d o x i e,   und so darf auch die Religion selbst nur als solche empfunden werden, wenn sie die echte und nicht die falsche sein soll. Nun war wirklich und zum ersten Mal in der Religionsgeschichte „der unbekannte und fremde Gott“ zur Erlösung in der Welt, die ihn nichts angeht, weil er nichts in ihr geschaffen hat, aus barmherziger Liebe erschienen. An einen solchen Gott hatten die am wenigsten gedacht, die in ihrer subalternen und furchtsamen Frömmigkeit den „unbekannten und fremden Göttern“ Altäre errichteten.
    D e r   M a n n,   d e r   d i e s e n   G o t t   v e r k ü n d i g t e,   w a r   d e r   C h r i s t   M a r c i o n   a u s   S i n o p e.   Daß sie Fremdlinge auf Erden seien, glaubten damals alle Christen zu wissen. M. korrigierte diesen Glauben:   G o t t   i s t   d e r   F r e m d e,   der sie aus ihrer Heimat der Bedrückung und des Elends


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in ein ganz neues, bisher auch nicht einmal geahntes Vaterhaus führt. Die   e i n e   Linie, auf die M. gehört, ist damit bezeichnet:   e r   h a t   d i e   R e l i g i o n   d e r   I n n e r l i c h k e i t   b i s   z u r   ä u ß e r s t e n   K o n s e q u e n z   v o l l e n d e t.   Er bringt einen Abschluß einer fünfhundertjährigen Entwicklung in bezug auf die Verinnerlichung der Religion. Der Hellenismus aber lehnte diese Konsequenz ab; denn Gnostiker und Neuplatoniker, sonst so verschieden, blieben darin einig, daß Gott zwar der „Unbekannte“, jedoch nicht „der Fremde“ ist ¹. Aber Marcion gehört noch auf eine zweite und dritte Linie, und sie sind seine eigentlichen. Um ihm auf diesen die richtige Stelle anzuweisen, muß man ausführlicher werden.

2.
    Die Stärke und Anziehungskraft der neuen Religion, die seit den Tagen des Kaisers Claudius aus Palästina in das Reich einzog, lag neben und mit der Verkündigung von Jesus Christus, dem Gekreuzigten und Auferstandenen, in der Fülle der polaren religiösen Elemente, die sie von Anfang an umfaßt hat. Indem sie, die Höchsterscheinung des Spätjudentums, alle diese Überlieferungen und Erkenntnisse mit christlichem Vorzeichen in ihren neuen Lebensbegriff, den „Glauben“, aufnahm (einschließlich der für die Gemeinschaftsbildung und den Kultus maßgebenden Ideen), war sie von Anfang an   e i n e   e m i n e n t   s y n k r e t i s t i s c h e   u n d   e b e n   d e s h a l b   v o n   A n f a n g   a n   d i e   k a t h o l i s c h e   R e l i g i o n.   Als der volle Niederschlag der Religionsgeschichte eines eminent religiösen Volkes war sie nicht zugeschnitten auf die frommen Bedürfnisse eines einzelnen Kreises, sondern auf die zahlreichen und mannigfaltigen Bedürfnisse weitester, durch Anlage und Bildung verschiedener Kreise. Sie konnte im Fortgang ihrer Entwicklung
—————
     ¹ Merkwürdig aber — Marcions größter Gegner, Tertullian, hat einmal (im Apolog. 1) einer ähnlichen Grundstimmung in bezug auf „die Wahrheit“ Ausdruck gegeben, wie M. in bezug auf Gott: „Die Wahrheit weiß wohl, daß sie nur als   F r e m d l i n g   auf Erden weilt, daß man unter   F r e m d e n   leicht Feinde findet und daß sie im übrigen ihre Herkunft, Heimat und Hoffnung, ihren Dank und ihre Würde im Himmel hat“. Man darf sich hier, sei es auch von ferne, des   G o e t h e schen Gedankens erinnern: „Jede Idee tritt als ein   f r e m d e r   Gast in die Erscheinung“.


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wohl komplizierter, aber nicht vielseitiger werden, als sie es schon bei ihrem Eintritt in das römische Reich gewesen.
    I n f o l g e   d i e s e r   B e l a s t u n g   h a t   d i e   c h r i s t l i c h e   R e l i g i o n   k e i n e   J u g e n d   g e h a b t,   j a   a u c h   k e i n e   u r w ü c h s i g e   E n t w i c k l u n g.   Sie war von Anfang an mit einem Maximum religiöser polarer Gedanken behaftet.
    Diese Religion verkündigte einen bisher unbekannten Gott, und sie predigte zugleich den von allen geahnten und vielen schon bekannten Herrn des Himmels und der Erde.
    Sie warb Anhänger für einen neuen Herrn und Heiland, der jüngst unter Tiberius gekreuzigt worden, aber sie behauptete zugleich, daß er bereits bei der Schöpfung beteiligt gewesen und sich von den Zeiten der Urväter her in der Menschenbrust und durch Propheten offenbart habe.
    Sie verkündigte, daß alles neu sei, was ihr Heiland bringe und schaffe, und sie überlieferte zugleich ein altes heiliges Buch, das sie den Juden entrissen hatte, in welchem seit unvordenklichen Zeiten alles geweissagt sei, was Erkenntnis und Leben bedürfen.
    Sie brachte eine unerschöpfliche Fülle erhabener   M y t h e n,   und sie predigte zugleich den alles umfassenden   L o g o s,   dessen Wesen und Wirken jene darstellen.
    Sie verkündigte die Alleinwirksamkeit Gottes und zugleich die Selbstherrlichkeit des freien Willens.
    Sie stellte alles auf den hellen Geist und die Wahrheit, und sie brachte doch einen harten und dunklen Buchstaben sowie Sakramente, welche der religiösen Sinnlichkeit und der Mystik entgegenkamen.
    Sie erklärte den Kosmos für die gute Schöpfung des guten Gottes, zugleich aber für das üble Herrschaftsgebiet der bösen Dämonen.
    Sie verkündigte die Auferstehung des Fleisches und betrachtete und behandelte zugleich dieses Fleisch als den schlimmsten Feind.
    Sie schärfte in einer bisher unerhörten Weise durch die Ankündigung des nahen Gerichtstags des zürnenden Gottes die Gewissen, und sie verkündigte diesen Gott, für den sie alle Aussagen des AT in Kraft erhielt, zugleich als den Gott aller Barmherzigkeit und Liebe.


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    Sie forderte unter Androhung der Verdammung die strengste Lebensführung in Enthaltung und Entsagung, und sie verhieß eine vollkommene Vergebung aller Sünden.
    Sie kam der einzelnen Seele so entgegen, als stünde diese allein auf der Welt, und sie berief alle in einen solidarischen Bruderbund, so umfassend wie das menschliche Leben und so tief wie die menschliche Not.
    Sie richtete eine religiöse Demokratie auf und war von Anfang an darauf bedacht, diese unter starke Autoritäten zu beugen.
    Auch in ihrer Fortentwicklung ist keine andere Religion jemals vielseitiger, komplizierter und „katholischer“ gewesen, als es diese Religion — offenkundig und noch mehr latent — schon in ihrem Anfange war trotz ihres kurzen Bekenntnisses „Christus der Herr“.
    Woher diese Kompliziertheit, diese complexio oppositorum, die von dem oberflächlichen Blick noch immer verkannt und erst der späteren Entwicklung dieser Religion zugeschrieben wird? Die Antwort ist einfach: die Religion, welche Jesum Christum verkündigte, überlieferte mit dem AT auch den komplizierten, aus zahlreichen Quellen geflossenen religiösen Stoff des Spätjudentums mit allen seinen verschiedenen Höhenlagen   a l s   i h r e n   „G l a u b e n“.
    Dieser „Katholizismus“ war nicht im Geist des Stifters; man weiß, daß ihm alle Überlieferungen, Lehren und Formen wesentlich gleichgültig waren, wenn nur Gott erkannt, sein Wille befolgt und seinem Reiche Raum gegeben wurde. Eine weitschichtige „Lehre“ aufzustellen, lag Jesus Christus ganz fern, da er, Altes hervorholend und Neues verkündigend, stets nur die praktische Religion selbst an ihren entscheidenden Hauptpunkten im Auge hatte. Und auch darin war und blieb er Jude im Sinne der Propheten, daß es ihm ausschließlich auf das Reich Gottes und wiederum auf die „Gerechtigkeit“ vor Gott ankam, nur daß er sie an einem anderen Maßstabe maß als die Schriftgelehrten und Pharisäer.
    Wie er empfanden wahrscheinlich auch die palästinensischen judenchristlichen Gemeinden. Auch sie kannten keine Gott-Welt-Dogmatik. Der ungeheure komplizierte und disparate Stoff, der sich im Spätjudentum zusammengefunden hatte, blieb für sie noch immer strukturlos, war nicht Glaubenslehre, sondern eben


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„Stoff“ mit unsicherer Geltung, aus dem man Anregungen, Admonitionen und Spekulationen nach Belieben schöpfte. Auf jüdischem Boden war die Verkündigung von Jesus Christus lediglich die Erfüllung der alten messianischen Verheißungen. Eine jahrhundertelange Überlieferung und Übung hatte das Judentum in den Stand gesetzt, sich gegenüber den rezipierten neuen Stoffen   d o g m a t i s c h   gleichsam immun zu erhalten, d. h. zwar ihren Reichtum zu benutzen, aber schließlich doch die Einfachheit des alten   G l a u b e n s   nicht zu belasten. Diese Haltung und Kunst ging automatisch auch auf das Judenchristentum über.
    Aber das änderte sich — man kann sagen, mit   e i n e m   Schlage —, als die christliche Predigt auf griechischen Boden übertrat. Das Judentum selbst schon hatte diese Änderung erfahren, als es mit dem Griechentum in Berührung getreten war; aber, national und kultisch noch immer eine strenge Einheit bildend, blieb die „alexandrinische“ Änderung verdeckt, beargwöhnt und unkräftig, wie sie sich ja auch geschichtlich nur als eine Episode im Judentum darstellt.
    Worin bestand die Änderung?   D i e   R e l i g i o n   w u r d e   z u r   R e l i g i o n s p h i l o s o p h i e — denn nur als solche verstand sie der höhere griechische Geist —; sie wurde dem   L o g o s   unterworfen; zugleich aber enthielt sie die Anweisung,   a l l e s   d a s   „l o g i s c h“   d u r c h z u a r b e i t e n   u n d   i n   s t r e n g e   E i n h e i t   u n d   G e l t u n g   z u   s e t z e n,   w a s   n u r   i m m e r   a l s   g ö t t l i c h e   O f f e n b a r u n g   ü b e r l i e f e r t   e r s c h i e n.
    Dieses „Offenbarte“ aber war ein Stoff von unübersehbarer Fülle. Unübersehbar war vor allem schon das Hauptstück, das Alte Testament. Wer vermochte diesen Reichtum, wenn er sub specie λόγου betrachtet werden sollte, zu erfassen, diese Fülle von Aussagen über Gott und über sein äußeres und inneres Wirken, diese Vielheit von Geschichten und Lehren, von Anweisungen und Trostmitteln? Und wer vermochte die verschiedenen Stufen und Höhenlagen auszugleichen, welche die heilige Urkunde umfaßte, die doch ausgeglichen werden mußten, wenn alles von ein und demselben Geiste eingegeben war? Und mit dem AT flutete ein Strom von Apokalypsen, Weisheitslehren und Spekulationen herüber, jede Welle einen uralten Namen auf ihrem


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Kamme tragend, der durch die Offenbarungsurkunde geheiligt erschien.
    Staunend steht man vor der Tatsache, daß sich Griechen dieses alles als heilige Offenbarung gefallen ließen. Allein eines hing hier am anderen und hing letztlich am Sechstagewerk, an den Psalmen und an einigen prophetischen Stücken. Sie, und nur sie, haben, wie zahllose Zeugnisse lehren, den ungeheuren Eindruck auf die Seelen und den Geist der Griechen gemacht, der sie bestimmte, auch alles andere als Gotteswort anzuerkennen, was mit diesen Offenbarungen in unlösbarem Zusammenhang stand. Einige von ihnen bekennen dabei frei, daß nicht die Predigt von Jesus Christus sie zunächst überzeugt hat, sondern daß AT bzw. seine Kernstücke für sie die Brücke gewesen ist, die sie zum Christentum geführt hat und fort und fort bei ihm erhielt. „Evangelio non crederem, nisi me commoveret autoritas Veteris Testamenti“, ist unzweifelhaft das Bekenntnis zahlreicher griechischer Christen der ältesten Zeit gewesen. Freilich die höchsten Geister waren es nicht; in die Oberschicht des griechischen Geistes vermochten das AT und die christliche Verkündigung erst einzudringen, als sich diese Oberschicht auflöste.
    Was in Palästina Messianismus und Eschatologie war, enthüllte sich auf griechischem Boden als eine Religion, deren Inhalt — infolge der Sättigung des Spätjudentums mit religiösem Stoff — ein Maximum war.
    Bis auf den heutigen Tag war und ist es die vornehmste Aufgabe der katholischen Kirchen, der christlichen Religion die ganze Fülle religiösen Kapitals, vor allem die complexio oppositorum, wie sie oben mit einigen Strichen charakterisiert worden ist, und damit die beispiellose religiöse Universalität zu erhalten. Die ganze Dogmengeschichte hat sich aus dieser Aufgabe entwickelt; die Ordnung des Kultus und des Absolutionssystems ist nach ihr eingerichtet, ja selbst die komplizierte Verfassung, die sie ausgebildet hat, ist vollständig nur von hier aus zu verstehen. Aber nicht schon der alten Kirche, sondern erst der aristotelischen Dialektik der mittelalterlichen Scholastik ist es nach vielen Jahrhunderten gelungen, mit dem Gedanken einheitlich den ganzen disparaten und konträren Stoff zu beherrschen.


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    Es liegt am Tage, daß dieser   g a n z e   Stoff auf keiner Stufe seiner Entwicklung „Privatreligion“ sein und werden konnte. Mochte der einzelne auch noch so hoch stehen, mochten sein Geist, sein Empfindungsleben und seine religiöse Erfahrung auch noch so tief und bildsam sein und mochte sein lockeres Denken auch noch so viele Zumutungen ertragen, so konnte er doch immer nur Teile für sein inneres Leben aus diesem antithetischen Komplex herausgreifen. Dem   G a n z e n   vermochte er nur Ehrfurcht und Gehorsam entgegenzubringen, und so ist es heute noch. Diese Tatsache schuf mit Notwendigkeit eine Zwischengröße als Trägerin des Ganzen. Jede höhere Religion fordert eine hypostasierte Gemeinschaft; aber hier war sie doppelt gefordert, weil nur eine solche hier stark genug war, das   G a n z e   zu verstehen und zu vertreten und weil die alte   V o l k s gemeinde Israel der neuen Entwicklung sich versagte — d i e   K i r c h e.   Die Kirche, einst die konkrete Gemeinde von Jerusalem, ist schon im apostolischen Zeitalter neben Christus und über die Gemeinden und die einzelnen getreten; das ist ein Beweis ihrer aus der Sache sich ergebenden Unerläßlichkeit. Aus ihrem Reichtum leben die einzelnen, nähren sich in verschiedener Weise von ihm und überlassen das Verständnis des Ganzen und die Verantwortung für dasselbe gehorsam der Kirche, d. h. dem neuen sich entwickelnden Stande der Berufstheologen.
    Daß aber dieser „idealen“ Kirche auf Erden auch eine   r e a l e   Darstellung entsprechen müsse, diese Einsicht hat sich erst im Laufe von zwei Jahrhunderten aus den Nötigungen entwickelt, den   g a n z e n   antithetischen Komplex der christlichen Botschaft   i n   K r a f t   z u   e r h a l t e n   und gegen Verkürzungen und Bereicherungen zu   v e r t e i d i g e n.   Die sichtbare katholische Kirche ist daher keine „Zufallserscheinung“ in der Entwicklung des Christlichen, auch nicht nur ein Produkt derselben im Zusammenwirken mit der umgebenden Welt und ihren eindringenden Kräften, sondern sie war von Anfang an gefordert, wenn alle die polaren Elemente neben und miteinander in Kraft erhalten werden sollten, welche bereits in der frühesten Verkündigung dieser Religion enthalten waren.   D e m   u n g e h e u r e n   E x p o n e n t e n   d e r   c h r i s t l i c h e n   s y n k r e t i s t i s c h e n   T h e o l o g i e   i s t   a l s   B a s i s   d i e   K i r c h e   u n t e r g e s c h o b e n.


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    Aber zu keiner Zeit läßt sich der Trieb in dem denkenden religiösen Menschen unterdrücken, sich das, was ihm als Religion gebracht wird, in seiner Totalität   i n n e r l i c h   anzueignen oder, wenn ihm das nicht gelingt, das sich Widersprechende, Unverstandene und Anstößige auszuscheiden. Man muß also erwarten, daß vom Anfang der Kirchengeschichte an und fort und fort Männer nicht gefehlt haben, welche sich durch   A u s s c h e i d u n g,   A k z e n t u i e r u n g   und   e i n h e i t l i c h e   O r g a n i s i e r u n g   des Stoffes in der Religion heimisch zu machen suchten. Sie wollten ein   e i n d e u t i g e s   Christentum lehren und dieses zu einem „Glauben“ zusammenfassen, der keine sich widersprechenden oder anstößigen Gedanken aufnötigte. Zwar durch das Mittel der allegorischen Methode konnte das auch gelingen und man konnte mit ihrer Hilfe vieles Disparate zusammenhalten; aber diese Methode war doch nicht überall und immer anwendbar und auch nicht jedermanns Sache.
    Schon die werdende katholische Kirche nannte solche Männer, die sich aus der Gesamtüberlieferung ihre eigene Religion zurecht machten und sie jener dann entgegensetzten, „Häretiker“, d. h. Lehrer, die dem folgten, was sie sich „erwählt hatten“.
    Hier bereits ist des vornehmsten christlichen Missionars der ältesten Zeit, des Apostels Paulus, zu gedenken. Seine Stellung ist deshalb eine so einzigartige, weil er sowohl ein Vater der katholischen Kirche als auch der „Häresie“ gewesen ist.
    Paulus hat stets den höchsten Wert darauf gelegt, seine Predigt mit der der „Urapostel“, d. h. mit dem großen Aggregat der christlichen Verkündigung, in Einklang zu halten. Mochte er seine apostolische Selbständigkeit auch noch so sehr betonen, die volle Übereinstimmung mit der alten Verkündigung in ihrer ganzen Breite und Vielseitigkeit sollte dadurch nicht gefährdet sein. Die große Kirche auf dem Grunde der Propheten und Apostel mit dem Eckstein Christus, d. h. die Kirche der Gesamtüberlieferung, hat er gebaut. Aber andrerseits bedrohte er sie nicht nur durch die dezidierte Betonung „seines“ Evangeliums, sondern er schied auch einen bedeutenden Teil aus der komplexen Überlieferung stillschweigend oder ausdrücklich aus und akzentuierte andere Elemente so, daß ihre polaren Gegensätze zu verschwinden drohten.   E r   b a h n t e   d e n   W e g   z u   e i n e m


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e i n d e u t i g e n   V e r s t ä n d n i s   d e r   c h r i s t l i c h e n   B o t s c h a f t;   aber ebendas ist es, was diese Botschaft als universale und als complexio oppositorum nicht verträgt. Er gab dem Begriff des Gesetzes einen neuen Inhalt und vernichtete den alten; er schied die religiöse Bedeutung der „Werke“ aus; er akzentuierte das „Neue“ so, daß das AT seine Gegenwartsbedeutung einzubüßen drohte; er ließ den „Geist“ so über den Buchstaben triumphieren, daß dieser transitorisch und unwert erschien; er faßte die „Sünde“ und wiederum die „Erlösung“ unter einem   e i n z i g e n   Gesichtspunkt und sprach damit allen anderen die Gültigkeit ab.
    Alles zusammengefaßt: das Nebeneinander der religiösen und moralischen, der theozentrischen und anthropozentrischen, der prädestinatianischen und ergistischen, der dramatischen und ruhenden Elemente, wie es aus dem Spätjudentum von der christlichen Verkündigung übernommen war, genügte ihm nicht. Von dem Glauben an den gekreuzigten Gottessohn aus trachtete er nach einer Glaubenslehre, die von der Erlösung her die Gegensätze des inneren Lebens und den Gang der Geschichte beleuchtete und eindeutig erklärte. Ob er dabei selbst schon von griechischer Gnosis bestimmt war, ist eine Kontroverse, die hier nicht erörtert zu werden braucht. Auch wenn man sie in gewissem Umfang bejaht, bleibt seine religiöse Selbständigkeit noch groß genug.
    Aber merkwürdig — er hat mit den Reduktionen und kraftvollen Vereinfachungen zunächst keine nennenswerten Erfolge gehabt; nur als   F e r m e n t e   gewahrt man sie innerhalb der Entwicklung des nachapostolischen Christentums. Seine großen Erfolge beschränkten sich wesentlich auf die Durchführung des Rechtes der Heiden, ohne weiteres Christen zu werden; im übrigen wirkte seine Predigt mit der der vielen Namenlosen zusammen, die, mehr oder weniger kritiklos, den breiten Strom polarer religiöser Elemente als christliche Verkündigung über die Welt sich ergießen ließen. Das, was man Paulinismus nennt, ist mehr eine Weissagung auf die Zukunft als ein durchschlagendes Moment in der sich zum Katholizismus entwickelnden Kirche gewesen. Die meisten der nachapostolischen christlichen Schriftsteller bis Irenäus zeigen nur geringe Paulinische Einflüsse. In gewisser Weise geht jeder von ihnen noch seinen eigenen Weg;


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aber andrerseits stimmen alle zusammen, weil keiner die Verkündigung des anderen bewußt ausschließt. Alle schöpfen sie aus dem ungeheuren Sammelbecken des Spätjudentums, in welches sich auch der christliche Quell ergossen hatte. Keiner von ihnen, „Johannes“ ausgenommen, kristallisiert das, was er vorträgt; man hat den Eindruck, daß jeder von ihnen auch anderes hätte hervorholen können. Keiner ist ein „Häretiker“, und keiner macht die anderen zu „Häretikern“. Es gab noch keine eindeutige Theologie, die mit Akzenten und Exklusiven arbeitete.
    Diesen Eindruck hat man, wenn man die Schriften des Lukas, Petrus, Jakobus und die sog. Patres Apostolici liest, Clemens, und Ignatius, Barnabas und Hermas. Aber seitwärts gab es bereits neben und nach Paulus christliche „Häretiker“, und seit den Tagen Hadrians wurden sie eine Macht.
    Für sie alle ist charakteristisch daß sie   d e n   S y n k r e t i s m u s   d e r   r e l i g i ö s e n   M o t i ve — denn die Complexio oppositorum et variorum ist nichts anderes als Synkretismus der religiösen Motive — nicht bestehen lassen wollten, sondern ihm eine mehr oder weniger eindeutige Religionsempfindung und Lehre entgegensetzten. Mit Recht erkannten sie dabei, daß die quelle dieses unreinlichen Synkretismus vor allem in dem AT lag, in seinem häufig inferioren Buchstaben und in den Willkürlichkeiten des Verständnisses, zu denen er Anlaß gab. Sie alle verwarfen daher das AT bald vollständig, bald in einigen seiner Hauptteile.
    Aber hier bemerkt man die paradoxe Tatsache, daß diese „Häretiker“, indem sie sich vom AT, vom Spätjudentum und damit vom Synkretismus der religiösen Motive zu befreien und dem Christentum einen eindeutigen Ausdruck zu geben suchten, von einer anderen Seite her doch wieder einen Synkretismus einführten. Sie alle, wenn auch in verschiedener Weise, machten Anleihen bei Mythen- und Mysterien-Komplexen, die, wie sie schon dem orthodoxen, sei es auch manchem Fremden bereits aufgeschlossenen Judentum als heidnisch-dämonisch erschienen, so auch den Vertretern der christlichen Gesamtüberlieferung befremdlich und unannehmbar waren. In den „Gnostikern“ tritt uns die merkwürdige Erscheinung entgegen, daß sie, von der Heilsbedeutung der Person Christi ausgehend und sich daher


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an Paulus in der Regel anschließend, dem Christentum durch Ausscheidung zahlreicher religiöser und sittlicher Leitmotive eine eindeutige Struktur gaben,   a b e r   d a b e i   b e i   f r e m d e n   M y s t e r i e n s p e k u l a t i o n e n   d i e   e r h e b l i c h s t e n   A n l e i h e n   m a c h t e n.
    Bis heute ist diese Tatsache geschichtlich und religions-psychologisch nicht scharf erfaßt ¹ und daher nicht erklärt. Woher kommt es, daß die ersten eindeutigen christlichen Theologen   G n o s t i k e r   gewesen sind, d. h. fremde Mythen samt den zugehörigen Spekulationen in das aus dem Judentum stammende Christentum eingeführt haben?
    M. E. liegt der Grund hierfür darin, daß das Judentum mit und neben seiner heiligen Urkunde, d. h. mit und neben seinem „Gesetz“ keine   m a ß g e b e n d e   T h e o l o g i e   ausgebildet hat. Es hat zwar in seinen Apokalypsen, Weisheitsbüchern und namentlich in seiner griechischen Literatur eine Fülle von religiösen Motiven und theologischen Spekulationen zum Ausdruck gebracht und an den Buchstaben des ATs geheftet — alles dies ging als formlose Masse in die christliche Verkündigung über —; aber das systematische Bedürfnis war sozusagen schon durch das   „G e s e t z“   erschöpft; daher kam das Judentum in der Systematik im Grunde nicht über den   e i n e n   Satz heraus: „Höre Israel, der Herr dein Gott ist ein einiger Gott“. Und auch dieser Satz war durch die Einführung neuer religiöser Motive bedroht, ohne daß man es recht merkte, weil es eine   t h e o l o g i s c h - kirchliche Buchführung im Judentum überhaupt nicht gab.
    Hatte nun das „Gesetz“ mit ihm das Volkstum seine Geltung in den neuen christlichen Gemeinden verloren — welch ein Unterschied von den Judengemeinden! —, so mußte, um
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    ¹ Man übersieht es, daß der Gnostizismus negativ die Ablehnung des spätjüdischen Synkretismus der disparaten religiösen Motive und positiv den Versuch der Durchführung eines   e i n d e u t i g e n   religiösen Motivs auf dem Boden der christlichen Verkündigung bedeutet, weil man sich den Blick durch die bunte Fülle der von den Gnostikern herangezogenen Mythenspekulationen verwirren läßt. Diese sind ja nur herangezogen, um einem im Grunde   e i n f a c h e n   religiösen Glauben einen Unterbau zu geben, da man in ihnen den theologischen Hauptgedanken, den man befolgen wollte, philosophisch und geschichtlich ausgeprägt zu erkennen glaubte.


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dem Zerfließen zu begegnen, eine neue bindende Macht eintreten: die katholische Kirche hat sie im Laufe des zweiten Jahrhunderts in dem kombinierten Gedanken   „d e s   G l a u b e n s“   u n d   „d e r   a p o s t o l i s c h e n   Ü b e r l i e f e r u n g“   gefunden und trieb aus diesem Gedanken nach der Schöpfung der apostolischen Schriftensammlung und des apostolischen Amts der Bischöfe vorsichtig und allmählich die umfassende katholische Glaubenslehre hervor. Dennoch mißglückte, kirchlich betrachtet, der erste Abschluß, wie ihn Origenes vorgelegt hatte, und mußte in der Folgezeit durchgreifend korrigiert werden. Das Mißglücken bedeutete aber keine Katastrophe, weil die formalen Autoritäten der heiligen Schriften und der apostolischen Autorität der Kirche im Bunde mit dem ganz kurzen apostolischen Glaubensbekenntnis stark genug waren, Erschütterungen zu begegnen und das Bewußtsein eines unendlichen und doch gesicherten und zuverlässigen religiösen Besitzes aufrechtzuerhalten.
    Aber die „Häretiker“, darin dem Apostel Paulus verwandt, wollten die Herstellung der Glaubenslehre, d. h. die geistige Durchdringung und organische Zentralisierung der Religion, nicht aufschieben. ¹ Schon dieses Verlangen zeigt, daß sie Griechen waren — Paulus als Glaubenslehrer ist über sein Volk hinausgewachsen —; aber nicht nur waren sie Griechen, sondern die Hervorragenden unter ihnen müssen bereits, bevor sie Christen wurden, griechische   G n o s t i k e r   gewesen sein, d. h. aus jener neuen geistigen und religiösen Atmosphäre stammen, die aus der Kombination orientalischer und hellenischer Mysterienweisheit, nicht ohne Einfluß der spätpythagoreischen, -platonischen und -stoischen Philosophie, seit einigen Generationen entstanden war.
    Diese „Gnosis“, in so mannigfaltigen Gebilden sie sich stoff-
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    ¹ Von den „Apologeten“ muß hier abgesehen werden; denn für sie ist es charakteristisch, daß ihre systematischen Versuche, obschon sie den Bemühungen der altkatholischen Väter zugrunde liegen, lediglich der Verteidigung der christlichen Religion, bezw. der Missionsaufgabe dienen, nicht aber aus dem inneren Drange, sich der Religion geistig zu bemächtigen, hervorgegangen sind. Soweit eine solche Absicht bei ihnen doch bemerkbar ist, bleibt sie an Tiefe der Einsicht in das Wesen der Religion hinter den Gnostikern zurück. Doch würden wir vielleicht in bezug auf Justin darüber anders urteilen, wenn wir seine verlorenen Werke besäßen.


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lich, kultisch und soziologisch darstellt, ist doch in ihrer christlichen Gestalt eine eindeutige Größe und nimmt in dieser das Stadium vorweg, in welches die nicht-christliche griechische Religionsphilosophie erst durch Jamblichus getreten ist. Die christlichen Gnostiker des 2. Jahrhunderts nehmen dieses Stadium vorweg, indem sie   O f f e n b a r u n g s p h i l o s o p h e n   sind und das dramatische und vertikale nachplatonische Gott-Welt-System, sowie das hohe Lied vom Geiste, seinem Abstieg und Aufstieg, mit der christlichen Verkündigung verbinden. Dieser Verkündigung wird dabei der Supremat eingeräumt; denn Jesus Christus ist der Erlöser der Geister, d. h. die göttliche Macht, welche die durch den großen Abfall geschehene widernatürliche Verbindung von Geist und Materie, in welcher der Geist in Fesseln liegt, aufhebt und die Rückkehr des Geistes in seine Heimat ermöglicht.
    Die christliche Verkündigung wurde von den Gnostikern — nur von den bedeutenden ist hier die Rede — mit dem hohen Ernste und dem heiligen Enthusiasmus des Paulus ergriffen, den sie als Führer verehrten; aber sie wurde ganz eingebettet in das dualistische System, das ursprünglich und wiederum am Schluß des Dramas als pantheistisches gedacht ist, weil das wieder auf sich selbst zurückgeworfene Kenoma ein Nichts ist. Das Recht zu dieser Kombination schien durch Paulus selbst gewährleistet; denn es fanden sich in seinen Briefen Stellen genug über Gott, Seele, Geist und Fleisch, Gott dieser Welt, Welt- und Geschichtsmysterien usw., die von einem Griechen kaum anders gedeutet werden konnten als im Sinne jenes Systems, und darüber hinaus traten in ihnen Spekulationen entgegen, die von Äonen-Spekulationen kaum verschieden waren. Der Äonen-Spekulationen aber konnten diese Gnostiker nicht entraten, da nur die Nachweisung eines Pleroma von Geistern mit absteigender Göttlichkeit den tatsächlichen Zustand der Welt als einer widernatürlichen und üblen Mischung vom Guten und Bösen zu erklären vermochte. Dem AT mußten diese Gnostiker durchweg mit scharfer Kritik entgegentreten; denn bereits sein grundlegender Anfang, die Schöpfungsgeschichte, war ihnen ganz unannehmbar, weil diese Geschichte das für gut erklärte, was sie als schlecht beurteilten — die Welt in ihrer konstitutiven Zuständlichkeit, ja in ihrem Sein. Aber für das AT tauschten sie die erhabene


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Dramatik eines uranfänglichen vorweltlichen Geschehens und das hohe Lied des Geistes ein. Warum sollen sie mit der christlichen Verkündigung unverträglich sein, die doch in ihrer Erhabenheit und in ihrer erschütternden und beseligenden Dramatik sich ihnen als wahlverwandt erweist? Und fordert nicht geradezu das Bekenntnis: „Christus der Herr“ dazu auf, diese seine Herrschaft über das All und die Geschichte so zu fassen, wie es die Spekulation hier tut?
    Die Situation in welcher sich die vom Judentum politisch völlig losgelöste christliche Religion zur Zeit Hadrians befand, war die kritischste in ihrer Geschichte. Auf der einen Seite stand die formlose, unkristallisierte, an das AT gebundene, in Wahrheit vom Spätjudentum mit der Fülle seiner Stoffe und widerstreitenden Motive abhängige christliche Verkündigung, entschlossen alles ins „Apostololische“ hineinzuziehen und nach Geist und Buchstaben zu bewahren. Auf der andern Seite standen bedeutende Lehrer, die eine eindeutige und feste christliche Gott-Welt-Erkenntnis darboten, in der die Erlösung durch Jesus Christus die höchste Stelle besaß und die die erhabensten Spekulationen der Griechen über die die Welt bewegenden letzten Gegensätze fortbildeten. Jene hielten die Autorität des ATs streng aufrecht, diese verwarfen sie; aber die Situation jener war noch dadurch erschwert, daß sich ihnen selbst die Schwierigkeiten immer mehr aufdrängten, die dieses Buch enthielt. Gehört es den Christen allein oder den Christen und Juden? Für welche seiner Teile gilt noch heute der Buchstabe? Für keinen (so der Barnabasbrief, der das buchstäbliche Verständnis für teuflisch erklärt) oder für alle oder für einige? Darf man etwa eine nur zeitweilige gottgewollte Geltung gewisser Teile annehmen? Ist das Gesetz gegeben worden, um die Sünden zu vermehren? Muß man alles allegorisieren? Wie soll man allegorisieren? Erschöpft sich die Bedeutung des Buchs in dem Typischen, Prophetischen? Ist nicht manches nur zur Kennzeichnung und Strafe der Juden gesagt? usw. Allerseits war man zwar im Katholizismus darüber einverstanden, daß das Zeremonialgesetz den Christen nicht gilt; aber bereits die Begründung dieses Satzes war zweifelhaft, und über ihn hinaus gab es die peinlichsten, bis zum Widerspruch sich steigernden Verschiedenheiten. So traten „die Apostolischen“ mit schweren Unsicherheiten in die große Krisis ein.


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    Aus ihr die Christenheit zu befreien, sah sich Marcion berufen.   K e i n   S y n k r e t i s m u s,   s o n d e r n   S i m p l i f i k a t i o n,   E i n h e i t l i c h k e i t   u n d   E i n d e u t i g k e i t   d e s   C h r i s t l i c h e n — das ist die zweite Linie, auf welcher er mit seiner Predigt vom fremden Gott und seiner Kirchenstiftung erscheint. Dem unübersehbaren und vieldeutigen Komplex des Überlieferten soll eine eindeutige religiöse Botschaft entgegengestellt werden. Steht Marcion aber hier nicht nur mit Paulus, sondern auch mit den Gnostikern zusammen und der Kirche gegenüber, so lehnt er gegen diese aufs schärfste den neuen Synkretismus ab, den sie in der verkehrten Meinung einführten, die aus der Mysterienspekulation hinzugebrachten Stoffe seien dem wahren christlichen Gedanken adäquat und daher beifallswert. So ist auch hier Marcion, wie bei seiner rücksichtslosen Durchführung der   P a r a d o x i e   der Religion, der Konsequente:   d i e   w a h r e   R e l i g i o n   m u ß   e b e n s o   e i n d e u t i g   u n d   t r a n s p a r e n t   s e i n,   w i e   s i e   f r e m d   u n d   a b s o l u t - p a r a d o x   s e i n   m u ß.

3.
    R e l i g i o n   i s t   E r l ö s u n g — der Zeiger der Religionsgeschichte stand im 1. und 2. Jahrhundert an dieser Stelle; niemand konnte mehr ein Gott sein, der nicht ein Heiland war. In wundervoller Weise kam die neue christliche Religion dieser Erkenntnis entgegen, und der Apostel Paulus hat sie bereits so gestaltet, daß er Christus als   E r l ö s e r   zum Mittelpunkte der gesamten christlichen Verkündigung machte. Aber sein Gottesbegriff, vom ATlichen genährt, zeigt im Vergleich mit seinem Christusbegriff noch einen gewaltigen Überschuß. Ob mit Recht oder Unrecht, kann hier noch unerörtert bleiben. Unwidersprechlich ist, daß sich der Vater Jesu Christi bei Paulus keineswegs mit Christus, dem Erlöser, einfach deckt. Er ist nicht nur der Vater der Barmherzigkeit und der Gott alles Trostes, sondern er ist auch der Unerforschliche, der in einem unzugänglichen Lichte wohnt, der Schöpfer der Welt, der Autor der mosaischen Gesetzgebung, der souveräne Lenker der Geschichte, insonderheit der ATlichen, ferner der Zürnende und Strafende und endlich der Richter, der mit dem großen Gerichtstage vor der Tür steht. Gewiß — Paulus hat bereits vieles gestrichen an dem alten

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jüdischen Gottesbegriff, teils durch das Mittel der allegorischen Auslegung, teils durch eine geschichtsphilosophische Betrachtung, die es auf Grund des Gedankens der Erziehung des Menschengeschlechts und einer heilsnotwendigen Akkomodation gestattete, zahlreiche Anstöße, zu entfernen. So war nicht nur das Zeremonialgesetz beseitigt, sondern auch ein großer Komplex unerträglicher ATlicher Aussagen. Und neben Paulus standen zahlreiche Lehrer, die an der Aufgabe arbeiteten, den christlichen Gottesbegriff nach dem   H e i l a n d   Christus zu erfassen und zu bestimmen. Auch auf dieser Linie steht Marcion; aber auch auf ihr ist er bis zur äußersten Konsequenz fortgeschritten. Neben der Erlösung darf schlechthin nichts stehen; sie ist etwas so Großes, so Erhabenes, so Unvergleichliches, daß der, der sie hat und bringt,   n i c h t s   a n d e r e s   sein kann als eben der Erlöser.   D e r   c h r i s t l i c h e   G o t t e s b e g r i f f   m u ß   d a h e r   a u s s c h l i e ß l i c h   u n d   v ö l l i g   r e s t l o s   n a c h   d e r   E r l ö s u n g   d u r c h   C h r i s t u s   f e s t g e s t e l l t   w e r d e n.   A l s o   k a n n   u n d   d a r f   G o t t   n i c h t s   a n d e r e s   s e i n   a l s   d a s   G u t e   i m   S i n n e   d e r   b a r m h e r z i g e n   u n d   e r l ö s e n d e n   L i e b e.   Alles übrige ist streng auszuscheiden: Gott ist nicht der Schöpfer, nicht der Gesetzgeber, nicht der Richter, er zürnt und straft auch nicht, sondern er ist ausschließlich   d i e   v e r k ö r p e r t e,   e r l ö s e n d e   u n d   b e s e l i g e n d e   L i e b e.   Damit ist das Trachten der Zeit nach dem Gott der Erlösung und ihre Wertschätzung der Erlösung auf den denkbar schärfsten Ausdruck gebracht.
    Die Religion ist die paradoxe Botschaft   v o m   f r e m d e n   G o t t;   sie ist schlechthin   e i n h e i t l i c h e   u n d   e i n d e u t i g e   B o t s c h a f t,   und sie ist die   e x k l u s i v e   Botschaft   v o n   d e m   G o t t,   d e r   d e r   E r l ö s e r   i s t.   Jede dieser Aussagen, die zu   e i n e m   harmonischen Einklang zusammengehen, entspricht dem gewaltigen Sehnen und Ringen der Zeit, spricht es in einem Maximum aus und bringt ihm die höchste Erfüllung, indem sie diese Erfüllung in der Erscheinung Christi nachweist. In der Verkündigung Marcions „von dem   f r e m d e n   und   g u t e n   G o t t,   dem Vater Jesu Christi, der die ihm völlig fremden, elenden Menschen aus den schwersten Banden — n ä m l i c h   a u s   s e i n e m   i h m   a n e r s c h a f f e n e n   W e s e n   u n d   a u s   d e r   d e r   V e r h a f t u n g   d i e s e s


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W e s e n s   u n t e r   e i n   v e r d a m m e n d e s   G e s e t z — zu ewigem Leben durch den Glauben erlöst“, hat sie ihren kürzesten, aber doch alles umfassenden Ausdruck gefunden. Die Paradoxie der Religion, ihre eindeutige Kraft und ihr ausschließlicher Charakter als Erlösung sind hier zusammengefaßt. Nicht kehren die Menschen durch die Erlösung in ihr Vaterhaus zurück, sondern eine herrliche Fremde ist aufgetan und wird ihnen zur Heimat.
    Das Interesse, das sich an das Auftreten Marcions in der Religions- und Kirchengeschichte knüpft, ist hiermit bezeichnet. Keine zweite religiöse Persönlichkeit kann ihm zur Seite gestellt werden, die im Altertum nach Paulus und vor Augustin an Bedeutung mit ihm rivalisieren könnte. Daher ist alles der höchsten Aufmerksamkeit wert, was uns von ihm erhalten oder über ihn überliefert ist. Das ist nicht wenig: wir besitzen (1) die Berichte seiner Gegner über sein angebliches „System“; wir kennen (2) den Umfang seiner Bibel, und viele Abschnitte aus ihr sind uns im Wortlaut überliefert; wir wissen (3) um die Grundsätze seiner Bibelkritik und zahlreiche seiner Korrekturen liegen vor uns; endlich sind (4) umfangreiche Reste seines großen Werkes „Antithesen“ auf uns gekommen samt zahlreichen Erklärungen biblischer Stellen. Aber es fehlt bisher viel an der gebotenen Ausbeutung dieser Quellen; namentlich sind die zweite und vierte ungebührlich vernachlässigt worden, die doch die wichtigsten sind. Infolge davon erscheint sein Christentum unbiblischer, abstrakter und unlebendiger, als es in Wahrheit gewesen ist, zumal da man den Berichten der Gegner den eigenen Ausführungen M.s gegenüber einen viel zu großen Spielraum gelassen hat. Wer z. B. hat darauf aufmerksam gemacht, daß M. eine Reihe von Aussagen stehen gelassen, nach denen die Begriffe „gerecht“, „Gerechtigkeit“, „rechtfertigen“, „Gericht“ auch vom guten Gotte gelten? Wer hat bisher den großen Unterschied aufgedeckt, der auch nach ihm zwischen den Uraposteln und den judaistischen Pseudoaposteln besteht? Wer seine Stellung zum Gesetz und zum AT über die dürftige Erkenntnis hinausgeführt, daß er sie verworfen hat? In allen diesen und vielen anderen Problemen hat sich die Geschichtsschreibung bislang wesentlich damit begnügt, die kurzen dezidierten Mitteilungen der Gegner zu wiederholen. Man bewegt sich heute noch durchaus in ihrem Fahrwasser: sie wollten zeigen, daß er Dualist war, aber aus


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dem, was er im NT stehen gelassen hat, widerlegt werden kann; der echten Geschichtsschreibung aber ist die Aufgabe gestellt, aus ebendiesem Materiale zu zeigen, was er denn eigentlich gewollt hat. Das ist mehr und tiefer und reicher, als was man bisher ermittelt hat. Auch ist es eine Freude, sich mit einem tief religiösen Mann von intellektueller Reinlichkeit zu beschäftigen, der allen Synkretismus, Allegorie und Sophisterei ablehnt.



 
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Letzte Änderung am 9. Dezember 2017