ADOLF VON HARNACK
MARCION: DAS EVANGELIUM VOM FREMDEN GOTT
Kapitel III, Seite 30—35

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III. Der Ausgangspunkt Marcions.

    Der Ausgangspunkt der Kritik M.s an der Überlieferung kann nicht verfehlt werden: er war   i n   d e m   p a u l i n i s c h e n   G e g e n s a t z   v o n   G e s e t z   u n d   E v a n g e l i u m,   ü b e l w o l l e n d e r,   k l e i n l i c h e r   u n d   g r a u s a m e r   S t r a f g e r e c h t i g k e i t   e i n e r s e i t s   u n d   b a r m h e r z i g e r   L i e b e   a n d r e r s e i t s   g e g e b e n.   M. hat sich in die Grundgedanken des Galater- und Römerbriefs versenkt und in ihnen die volle Aufklärung über das Wesen der christlichen Religion, das AT und die Welt gefunden. Es muß ein Tag voll Lichts für ihn gewesen sein, aber auch voll Schauderns über die Dunkelheit, die dieses Licht in der Christenheit wieder geschwärzt hat, als er erkannte, daß Christus einen ganz neuen Gott darstellt und verkündet, ferner daß die Religion schlechthin nichts anderes ist als der hingebende Glaube an diesen Erlöser-Gott, der den Menschen umschafft, endlich daß das gesamte Weltgeschehen vorher das schlechte und widerliche Drama einer Gottheit ist, die keinen höheren Wert besitzt als die stumpfe und ekelhafte Welt selbst, deren Schöpfer und Regierer sie ist.
    Alle religiösen Antithesen des Paulus wurden durch diese Erkenntnis auf den schärfsten Ausdruck gebracht, der sich aber durch diese Steigerung weit von den Absichten des Apostels entfernte. Marcion blieb ihnen nur in der beseligenden Gewißheit der gratia gratis data mit ihrem Kontraste zu der iustitia ex operibus treu, sowie in der Empfindung einer alle Vernunft übersteigenden Befreiung gegenüber dem Zustande einer schrecklichen Heillosigkeit; in dieser Überzeugung war die Universalität der Erlösung gegenüber ihrer Beschränkung auf   e i n   Volk notwendig eingeschlossen.   D a s   R e l i g i o n s p r i n z i p,   w e l c h e s   i n   d e m   G e g e n s a t z   v o n   G e s e t z   u n d   E v a n g e l i u m   a l l e   h ö h e r e   W a h r h e i t   z u s a m m e n f a ß t,   i s t   a u c h   d a s   P r i n z i p   d e r   E r k l ä r u n g   d e s   g e s a m t e n   S e i n s   u n d   G e s c h e h e n s.


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    Diese Erkenntnis, in welcher sich die Religion der Erlösung und Innerlichkeit in einer nicht zu überbietenden Weise zur alles bestimmenden ethischen Metaphysik steigert, hatte die Preisgabe des AT zur unerbittlichen Folge. Was das aber für einen Frommen bedeuten mußte, der, wie M. mit der allgemeinen christlichen Überlieferung verwachsen gewesen (ja vielleicht vorher mit der jüdischen), ist heute kaum mehr nachzuempfinden. Diese Umwertung des ATs, die den Verzicht auf dasselbe bedeutete, hat sich nur unter tiefster Erschütterung und heißesten Schmerzen bei ihm vollziehen können; denn er mußte verbrennen, was er bisher angebetet hatte, und mußte mit dem Gesetz auch Propheten und Psalmen verurteilen, die doch so vieles enthielten, was mit dem Evangelium zu stimmen oder es vorzubereiten schien. Irrtum! Irrtum! Auch ihre erhebendsten und trostreichsten Worte sind nur Schein und Täuschung! Auch aus ihnen blickt, nur verlarvt, das schreckliche Antlitz des grausamen Judengottes und Weltschöpfers; denn Paulus meint nicht nur das Gesetz im engeren Sinn, wenn er verkündet, daß Christus das Ende desselben sei und daß es gegeben sei, um die Sünden zu vermehren, sondern die ganze alte Heilsordnung mit allen ihren Vertretern, und auch Christus sagt, daß nicht nur das Gesetz, sondern auch die Propheten nur bis Johannes reichen, daß sie also keine Geltung mehr besitzen ¹. Nichts aber kann göttlich sein, was seine Geltung verliert.
    Das verkündet Christus selbst in seinem Evangelium; aber er bestätigt überhaupt und durchweg das Paulinische Evangelium. Hat er nicht das Gesetz fort und fort in seinem Leben und durch seine Anweisungen durchbrochen? Hat er nicht den Gesetzeslehrern den Krieg erklärt? Hat er nicht die Sünder berufen, während sie nur Gerechte als Jünger wollten? Hat er nicht den größten Propheten des ATlichen Gottes, Johannes den Täufer, für einen unwissenden und Ärgernis nehmenden Mann erklärt? Und vor allem — hat er nicht kurz und bündig gesagt, daß nur der Sohn den Vater kennt und offenbart, daß also alle, die vor ihm gewesen sind, einen falschen Gott verkündet haben?
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    ¹ Über eine gewisse, hier doch statthabende Einschränkung — weil das Sittengesetz dem Sinnlichen gegenüber zu Recht besteht — siehe später.


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    Diese Äußerungen sind von einer unerbittlichen Sicherheit und Klarheit; also ist auch die Auslegung zweier programmatischer Sprüche Christi klar und lassen keinen Zweifel zu. Wenn er von den zwei Bäumen geredet hat, dem schlechten und dem guten, die ausschließlich solche Früchte hervorzubringen vermögen, die durch ihre Natur gegeben sind, so kann er damit nur die zwei großen göttlichen Autores meinen, den ATlichen Gott, der ausschließlich Wertloses und Schlimmes schafft, und den Vater Jesu Christi, der ausschließlich Gutes hervorbringt; und wenn er es verbietet, auf ein altes Kleid einen neuen Lappen zu setzen und neuen Wein in alte Schläuche zu gießen, so hat er damit den Seinen aufs strikteste untersagt, seine Predigt mit der ATlichen irgendwie zu verbinden; diese müssen sich vielmehr auf immer fern bleiben, wie sie sich von Haus aus fremd und feindlich sind.
    Das AT ist preisgegeben — in dem Momente stand aber die neue Religion nackt und bloß, entwurzelt und schutzlos da. Auf den Altersbeweis, auf alle geschichtlichen und literarischen Beweise überhaupt galt es zu verzichten! Aber eine tiefere Erwägung hat ihn belehrt, daß eben diese Schutz- und Beweislosigkeit von der Sache selbst gefordert ist und sie daher in ihrem wahren Wesen unterstützt. Die Gnade ist „gratis data“, so lehren Christus und Paulus, und das ist der ganze Inhalt der Religion. Wie könnte die Gnade aber gratis data sein, wenn der, der sie spendet, auch nur die geringste Verpflichtung hätte, sie zu erweisen? Aber wenn er der Schöpfer des Menschen und wenn er vom Anfang her ihr Erzieher und Gesetzgeber wäre, so   m ü ß t e   er sich ihrer annehmen. Nur eine elende und sich Gott gegenüber schimpflich duckende Sophisterei könnte die Gottheit von dieser Verpflichtung entlasten! Also darf er keinen naturhaft-geschichtlichen Zusammenhang mit den Menschen haben, deren er sich erbarmt und die er erlöst; also kann er nicht der Weltschöpfer und Gesetzgeber sein; also kann auch weder das AT noch sonst eine erträumte Vorgeschichte Anspruch auf Geltung haben.   D a ß   d e r   E r l ö s e r - G o t t,   d e r   i n   W a h r h e i t   G o t t   i s t,   i n   k e i n e r   O f f e n b a r u n g   i r g e n d w e l c h e r   A r t   v o r   s e i n e r   E r s c h e i n u n g   i n   C h r i s t u s   a n   d i e   M e n s c h e n   h e r a n g e t r e t e n   i s t,   i s t   d a h e r   d u r c h   d i e   N a t u r   s e i n e r   E r l ö s u n g   g e f o r d e r t:


33 Der Ausgangspunkt Marcions


nur als der absolut   F r e m d e   darf er verstanden werden. Daraus ergibt sich aber auch,   d a ß   d a s   F e i n d s e l i g e,   w o v o n   d i e   E r l ö s u n g   d u r c h   C h r i s t u s   b e f r e i t,   n i c h t s   G e r i n g e r e s   s e i n   k a n n   a l s   d i e   W e l t   s e l b s t   m i t s a m t   i h r e m   S c h ö p f e r.   Da nun M. darin der jüdisch-christlichen Überlieferung treu blieb, daß er den Weltschöpfer und den Judengott identifizierte und in dem AT kein Lügenbuch, sondern die wahrhaftige Darstellung der wirklichen Geschichte sah — eine merkwürdige Einschränkung seines religiösen Antijudaismus! —, s o   m u ß t e   i h m   d e r   J u d e n g o t t   s a m t   s e i n e r   U r k u n d e,   d e m   AT,   z u m   e i g e n t l i c h e n   F e i n d e   w e r d e n.
    Man beachte hier noch einmal, wie schlechthin alles in dieser Betrachtung durch das religiöse christliche Prinzip bestimmt ist, welches freilich seine Schwingen nicht, frei über der Zeit schwebend, zu entfalten vermag, weil es die, sei es auch gebrochene, Kette des ATs nicht abstreifen kann. Die erhabene Konsequenz, mit der hier das Prinzip des Guten, als erlösende Kraft und ausschließlich in dieser Eigenschaft, zum obersten Prinzip erhoben ist,   u n d   i h m   n i c h t   s o w o h l   „d i e   M a t e r i e“   a l s   v i e l m e h r   g r u n d z ü g l i c h   d a s   v i e l g e s t a l t i g e   s c h l i m m e   E t h o s   d e r   „W e l t“   z u m   G e g e n s a t z   g e g e b e n   w i r d ¹,   kontrastiert für uns in abstoßender Weise mit der Rückständigkeit, die vom AT bei aller Verurteilung doch nicht loszukommen vermag. Doch diesen Kontrast haben damals höchstens Griechen wie Celsus empfinden können; den Christen jeglicher Schattierung, die alle in den Ketten des ATs lagen, konnte er gar nicht zum Bewußtsein kommen. Sie sahen nur, daß M. das AT verachtete, aber sahen nicht, daß er in seinem Rahmen dachte.
    Nachdem aber Marcion Klarheit über das Grundprinzip und
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    ¹ Die Frage, wovon Christus erlöst hat — von den Dämonen, vom Tode, von der Sünde, von der Schuld, vom Fleische (alle diese Antworten finden sich schon in sehr früher Zeit) — beantwortet M. radikal: er hat uns von der   S c h ö p f u n g   (also auch von uns selbst)   u n d   i h r e m   G o t t   erlöst, um uns zu Kindern eines neuen und fremden Gottes zu machen.


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den Grundgegensatz gefunden hatte, begannen erst für ihn die neuen Aufgaben. Er mußte nun den wahren, so schwer verkannten Inhalt der Verkündigung Jesu und des Paulus für Erkenntnis und Leben darlegen. Das war gegenüber den disparaten und wogenden, an die spätjüdische Überlieferung angeschlossenen Glaubensgedanken der großen Christenheit und gegenüber den bunten Philosophemen und falschen Dualismen der christlichen Gnostiker eine ungeheure Aufgabe, auch wenn der Stoff, welchem der Inhalt zu entnehmen war, sicher umschrieben und zuverlässig überliefert, ihm vorgelegen hätte. Aber hier trat ihm in Wirklichkeit ein Zustand entgegen, der auch den mutigsten und energischsten Forscher zur Verzweiflung bringen konnte. Neben dem AT, das er für die Darlegung der christlichen Verkündigung nicht brauchen konnte, fand er keine Schriften von absoluter Dignität. Doch nein: es boten sich ihm vier Evangelien an, die, als er in Kleinasien und Rom sann und arbeitete, bereits eine Autorität in den dortigen Gemeinden besaßen, die einer absoluten sehr nahe kam. Dann waren jene Paulusbriefe vorhanden, aus denen er sein ganzes Christentum gelernt hatte; sie besaßen in der römischen Gemeinde ein apostolisches Ansehen. Endlich gab es da noch eine größere Zahl christlicher Schriften, die Apostelgeschichte, die Johannes-Offenbarung, andere christliche Prophetenschriften und Briefe verschiedener Autoren unter den Namen von Aposteln und Apostelschülern, die sich zwar einer nicht festbestimmten, aber doch bedeutenden Geltung erfreuten. Aber wie Buntes, Verschiedenes, Widersprechendes stand in diesen Schriften, und wie unsicher bezeugten sie das reine Evangelium, daß Christus als Sohn eines fremden Gottes und als spiritus salutaris gekommen sei, um die Sünder aus der Gefangenschaft ihres Vaters und Herrn, des Weltschöpfers, zu befreien und selig zu machen!   A l s   K r i t i k e r   u n d   R e s t a u r a t o r   m u ß t e   M a r c i o n   s e i n e   g r o ß e   A u f g a b e   f ü r   d i e   C h r i s t e n h e i t   b e g i n n e n;   denn die Sache und die Zeugnisse lagen unter schwerer Verdunkelung. In der Tat: kein christlicher Kritiker hat jemals vor einer schwierigeren Aufgabe gestanden: aus NTlichen Schriften zu beweisen, daß die Menschheit von ihrem Gott und Vater erlöst werden müsse und erlöst worden sei! Marcion ließ sich nicht abschrecken; den alten Büchern, dem Gesetz und den Propheten, stellte er

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neue Bücher entgegen — das Buch des Evangeliums ¹ und die Briefe des Paulus.
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    ¹ M. ist u. W. der erste gewesen, der ein   B u c h   „das Evangelium“ genannt und mit ihm identifiziert hat; vor ihm sah man in dem Evangelium eine Botschaft, die u. A. auch in Büchern niedergelegt war.






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Letzte Änderung am 15. Dezember 2017