ADOLF
VON HARNACK
MARCION: DAS
EVANGELIUM VOM FREMDEN GOTT
Kapitel IX, Seite 196—215
196
IX. Marcions
geschichtliche Stellung und seine Bedeutung für die Entstehung der
katholischen Kirche.
Die geschichtliche Orientierung, die wir an die
Spitze dieser Darstellung gestellt haben, ist hier wieder aufzunehmen:
Das Lebenswerk eines Mannes ist durch den Kampf
bestimmt, den er geführt hat. M. hat nur e i n e n
Gegner bekämpft, die
„pseudoapostoli et Judaici evangelizatores“. Kein Wort von ihm, das die
Heiden angreift, ist uns bekannt; — den „Betrug“ und „die wortreiche
Eloquenz“ ihrer Philosophen schob er einfach beiseite — über
Judenchristen im nationalen Sinn des Worts schweigt er ganz, die
Gnostiker erwähnt er nicht ¹, und die Juden bekämpft er,
weil er die judaistischen Christen bekämpft.
—————
¹ Was das Verhältnis des
Christentums M.s zum G n o s t i z i s m u s
betrifft, so stelle ich den Satz voran: W o d e
r M a r c i o n i t i s m u s o b e r f l
ä c h l i c h,
d. h. n a c h s e i n e n L e h r
e n u n d n i c h t z u g l e i c
h n a c h s e i n e n M o t i v e
n
a u f g e f a ß t u n d a n g e e i g n e
t w u r d e, k o n n t e e
r s e h r l e i c h t a l
s
„G n o s t i z i s m u s“ e r s c h e i n e n u n
d w i r k e n, und i s t n i
c h t n u r s e i n e n G e g n e r
n,
s o n d e r n v e r m u t l i c h a u c
h m a n c h e n s e i n e r A n h
ä n g e r s o e r s c h i e n e n;
denn er hatte mit vielen Gnostikern gemeinsam:
(1) die Verwerfung des AT.’s,
(2) die Auffassung Gottes als des Unbekannten,
(3) die Trennung des Weltschöpfers vom
höchsten Gott,
(4) die Auffassung Gottes als des absolut Guten,
(5) die Auffassung vom Weltschöpfer (=
Gesetzgeber) als eines irgendwie mittleren Wesens,
(6) die Annahme der Ewigkeit der Materie,
(7) den Doketismus in bezug auf Christus,
(8) die Lehre, daß das Fleisch nicht
aufersteht,
(9) die dualistische Askese.
Aber eben die Verwandtschaft in diesen Lehren allein
zeigt, daß durch sie weder das Wesen des Gnostizismus noch das
des Marcionitismus zum Ausdruck gebracht werden kann; denn
197
Marcions geschichtliche Stellung usw.
Unter
diesen aber, den von den pseudoapostoli und Judaici evangelizatores
Bekehrten und Betörten, versteht er d i e
g a n z e g r o ß e C h r i s t e n h e i
t;
sie ihres Irrtums zu überführen und durch Reformation zum
wahren Christentum zurückzubringen, ist sein einziges Streben
gewesen.
—————
(1) im Gnostizismus ist die Religion durch die Gnosis bestimmt, bei
Marcion bestimmt sie die Pistis an den gekreuzigten Christus; dort wird
die Aristokratie der Geistesmenschen gesammelt, hier sind die
demütigen Brüder die Berufenen,
(2) dort herrscht in Abgrund und Schweigen der
unnennbare Gott, hier herrscht Gott als Christus; dort ist der
Menschengeist dem höchsten Gott stammverwandt, hier ist dieser der
absolut Fremde und erst durch die Erlösung Nahe,
(3) dort herrschen außerbiblische Mythen, hier
fehlen sie,
(4) dort ist die Lehre vom Abstieg und Aufstieg der
Seele (des Geistes) fundamental, hier fehlt sie; dort kehrt der Geist
in seine Heimat zurück, hier soll ihm eine Fremde zur Heimat
werden,
(5) dort herrscht eine apostolische Geheimtradition,
hier fehlt sie,
(6) dort bleiben die Schlechten schlecht, hier sind
sie erlösungsfähig,
(7) dort gibt es Mysterienmagie, hier fehlt sie.
Die bedeutendsten elementa concordiae et discordiae
zwischen dem Gnostizismus und Marcion mögen damit bezeichnet sein;
ohne Zweifel sind die letzteren die wichtigeren; z u g l e
i c h z e i g e n s i e d i e V e
r w a n d t s c h a f t m i t
d e n g r o ß k i r c h l i c h e n G l a
u b e n s ü b e r z e u g u n g e n a u f
s d e u t l i c h s t e.
Von hier aus könnte man den Marcionitismus in die Mitte zwischen
der Großkirche und dem Gnostizismus setzen; aber solch’ eine
Betrachtung wäre nichts weniger als aufklärend, da in jenem
Zeitalter schlechterdings niemand so geurteilt hat und urteilen konnte.
Aber begreiflich ist es von hier aus, daß der Marcionitismus
eine
K i r c h e bilden konnte wie die vorkatholischen Christen, und
anderseits,
daß diese ihn mit dem Gnostizismus in einen Topf werfen
mußten. Aber auch das ist zu erwarten, daß, wie nach
freilich sehr übertriebener Überlieferung Marcion vom
Gnostizismus gelernt hat, so auch umgekehrt Gnostiker von ihm gelernt
haben. Sein Antithesenwerk vor allem mußte ihnen sehr willkommen
sein, und es gibt auch einige Spuren der Wirksamkeit des Werks bei
ihnen. Nicht unwahrscheinlich ist ferner, daß der Valentinianer
Ptolemäus von M.s doppelter Auffassung des „Gerechten“
gelernt hat (s. o. S. 112 f.).
Andrerseits ist darauf hinzuweisen, daß, wenn jene oben
zusammengestellten neun Stücke im ganzen der Religion die
Hauptsachen gewesen wären, alle gnostischen S c h u l
e n in der imponierenden K i r c h e Marcions
sehr bald
hätten untergehen müssen; aber das Gegenteil ist der Fall:
sie bleiben neben ihr bestehen, vor allem auch
198
Marcions geschichtliche Stellung usw.
Worin sah
er ihren Irrtum? Im Grunde in e i n e m
Element, aus dem sich, wie aus einer schlechten Wurzel, ein ganzer Baum
des Irrtums entwickelt hat: s i e
h a b e n d e n n e u e n W e i
n i n d i e a l t e n S c h
l ä u c h e g e g o s s e n u n
d d a s
E v a n g e l i u m i n d a s A
T t r a n s p o n i e r t.
Diese Transposition sah er nicht in Einzelheiten und
Kleinigkeiten — die Christenheit hatte zwar die jüdische
Beschneidung, die Festordnung, die Speisegesetze usw. nicht angenommen;
aber das machte auf ihn nicht den geringsten Eindruck und vermochte ihn
nicht im geringsten zu beruhigen; denn der Schaden lag in seinen Augen
viel tiefer: diese Christenheit betrachtet G e s e t
z u n d E v a n g e l i u m a l
s e i n e E i n h e i t u n
d
v e r l e u g n e t d a m i t d a s
W e s e n d e s E v a n g e l i u m s.
Wo alles darauf
ankommt zu s c h e i d e n ¹,
verbindet sie! Und auch das genügte ihm nicht, daß die
Christenheit, wie er selbst, den gegenwärtigen Äon für
gottfeindlich hielt, aus ihm herauswollte und das Unterpfand der
Seligkeit in der Erlösung durch Christus zu besitzen gewiß
war; denn wie konnte das der rechte Glaube sein, der in dem
Schöpfer der Welt den Vater Jesu Christi erkannte?
Wie immer M. den Gegensatz von Glaube und
Werken, Evangelium und Gesetz aufgefaßt und welche Folgerungen er
aus ihm für die Religionslehre gezogen hat — er war das wirklich,
was er sein wollte, ein Jünger des Paulus, der das Werk und den
Kampf des Apostels wiederaufgenommen hat als ein wirklicher Reformator
²; man versteht es, daß N e a n d e r
ihn den ersten Protestanten nennen konnte.
—————
deswegen, weil der
Dualismus M.s kein echter metaphysischer ist und weil die
religiöse Denkmethode und ihre Voraussetzungen bei den Gnostikern,
wie sie sich in den oben angeführten 7 Punkten aussprechen, von
denen M.s toto coelo verschieden sind. Ein Valentin hätte
gewiß die Glaubenslehre M.s für eine „Bauernreligion“
erklärt, d. h. für eine Spielart der psychischen Religion.
Somit besteht die scharfe Unterscheidung, die wir in der
Kirchengeschichte machen müssen, zwischen den Gnostikern und
Marcion zu Recht, und ihre Aufhebung bedeutet eine schwere Verdunkelung.
¹ M. nach Tertull. I, 19: „Separatio legis
et evangelii proprium et principale opus“.
² M. nach Tertull. I, 20: „Non innovo
regulam separatione legis et evangelii, sed retro adulteratam recuro“.
199
Marcions geschichtliche Stellung usw.
Man darf
noch einen Schritt weiter gehen: nicht nur den Kampf und das Werk des
Paulus hat er wiederaufgenommen, sondern er hat das auch in
der G l a u b e n s g e s i n n u n g des Apostels
getan; denn nur Christus den Gekreuzigten wollte er kennen; in ihm
allein schaute er das Angesicht des gnädigen Gottes, und mit
diesem Gott der Güte und Barmherzigkeit wußte er sich in
Glaube und Liebe untrennbar verbunden, weil er sich durch Christus
erkauft und erlöst wußte. Hinter ihm lag Sünde und
Welt, hinter ihm Gebot und Gesetz.
Und hätte Paulus, wenn er nach drei
Menschenaltern wiedererschienen wäre, über die Christenheit,
die er nun fand, nicht auch die schärfsten Urteile gefällt,
ja sie des Abfalls geziehen? Was hätte er wohl gesagt, wenn man
ihm „den Hirten“ des Hermas vorgelegt und ihm mitgeteilt hätte,
die Christenheit folge diesem Buche als einer echten Offenbarung? Wie
hätte er über diese Mandate, diese Visionen und Gleichnisse
geurteilt, wie über die Selbstgerechtigkeit und
Selbstgefälligkeit des Verfassers und über die stumpfe
Bußgesinnung, die aus diesem Buche spricht, in welchem der Name
Christi überhaupt nicht vorkommt? Oder welches Urteil hätten
die Werke des Justin von ihm empfangen? Gewiß hätte er
vieles mit Freude in ihnen gelesen; aber wie hätte er die
Freiheits- und Tugendlehre Justins aufgenommen? Was hätte er
über die Auseinandersetzung mit der Philosophie, über die
Anerkennung Sokrates’ und Platos, was über die neue
Gesetzlichkeit, die ihm in jeder nachapostolischen Schrift
entgegentrat, gesagt?
Kein Zweifel — Paulus hätte das Auswachsen des
christlichen Synkretismus mit Schmerz und Entrüstung wahrgenommen,
wäre der Marcionitischen Kritik der Christenheit in den
wichtigsten Stücken beigetreten, hätte diese auch als eine
verführte und verirrte Herde beurteilt und in dem Mann, der hier
als Reformator auftrat, seinen echten Schüler gesehen.
Aber Marcion zerschnitt das Band zwischen dem Gesetz
und dem Evangelium, verwarf das AT, wies es einem anderen Gott zu,
verkündigte Jesum Christum als Sohn eines fremden Gottes und
leugnete seine Geburt und die Wahrhaftigkeit seines Fleisches. Kein
Zweifel — Paulus hätte sich mit Entsetzen von diesem
blasphemischen Lehrer abgewandt und ihn dem Satan übergeben, und
sicher wäre ihm niemals auch nur von ferne
200
Marcions geschichtliche Stellung usw.
die
Frage aufgetaucht, ob er
nicht selbst mit seiner Lehre an diesen grundstürzenden
Irrtümern M.s schuld sei.
Und doch ist diese Frage eine sehr nötige
Frage, und es ist nicht schwer zu zeigen, daß die extreme Lehre
M.s, durch die er geradezu zum Stifter einer neuen Religion auf
dem Boden der christlichen Überlieferung geworden ist, aus dem
Paulinismus, bzw. aus einer Fortbildung desselben entstanden ist. Auch
ist M. nicht der erste Fortbildner gewesen, sondern er führt
diese Fortbildung nur zum Abschluß.
Zunächst muß man sich hier
vergegenwärtigen, welche Fortbildung des Urchristentums die Lehre
des Paulus selbst bedeutet; dabei mag die Lehre Christi auf sich
beruhen bleiben; denn es ist nicht nötig, soweit
zurückzugehen ¹:
Paulus hat die Geltung des ATlichen Gesetzes und
damit das AT als eindeutige Unterlage der Religion für die zu
bekehrenden Heiden außer Kraft gesetzt, an die Stelle des
Messiasglaubens den Kyrios Christos mit seinem Heilswerk des Todes und
der Auferstehung gestellt und die Religion mit dem Glauben an den Vater
Christi, den Gott der Liebe und Erlösung, streng identifiziert.
Etwas ganz Neues — auch im Sinne des Paulus — war damit gegeben: das
Alte ist vergangen, s i e h e, e s i s
t
a l l e s n e u g e w o r d e n ².
Um den inneren Zusammenhang mit dem
Gott des Gesetzes und der Propheten aber doch festhalten zu
können, der ihm so selbstverständlich war, daß ihm hier
niemals ein Zweifel auftauchen konnte, mußte er statt
e i n e s Mittels eine ganze Reihe
aufbieten; denn jedes tut nur unvollkommene Dienste und hat seine
enggezogenen Grenzen. Aber statt, angesichts der Unvollkommenheit jedes
einzelnen Mittels zur Erklärung des Problems stutzig zu werden,
sah Paulus in ihrer Fülle nur den Reichtum und die Weisheit Gottes
und zog sich
—————
¹ Doch ist die Betrachtung nicht abzuweisen, vielmehr der weiteren
Erwägung in hohem Maße würdig, daß
von e i n e m wichtigen Gesichtspunkt aus
Jesu Verkündigung, die Lehre des Paulus und die Lehre Marcions
eine konsequente Entwicklungslinie gegenüber der jüdischen
Religion bilden.
² S. hierzu die Einleitung, oben S. 11 f. Paulus ist dem
urchristlichen Synkretismus der religiösen Motive und
Überlieferungen durch die Reduktion des Stoffs auf eindeutige
Glaubenserkenntnisse entgegengetreten und hat ebendadurch
die N e u h e i t des Evangeliums ans Licht
gestellt.
201
Marcions geschichtliche Stellung usw.
zuletzt,
wenn jedes Mittel
versagte, auf seine Unerforschlichkeit zurück. Die Mittel, die er
aufbot, waren (1) eine eigentümliche dialektische Betrachtung der
Erziehung des Menschengeschlechts im Zusammenhang mit einer
Adam-Christus-Antithese, (2) eine besondere Dialektik in bezug auf
Sünde und Gnade, Sünde und Gesetz, Schuld und Erlösung,
Leben und Tod und (3) die allegorische Auslegung von
Schriftstellen. L e h n t m a n d i
e s e M i t t e l a b o d e
r v e r m a g m a n
i h n e n ü b e r h a u p t k e i
n V e r s t ä n d n i s a b z u g e w i n
n e n, s o m u ß
m a n P a u l u s s t r e n g d u a
l i s t i s c h (p r i n z i p i e l l e r G e g e n
s a t z d e s G o t t e s d e
s
G e s e t z e s u n d d e s G o t t
e s d e s E v a n g e l i u m s) v e r s
t e h e n, u n d m u ß d a n
n
f o l g e r e c h t d a s, w a s d i e s
e r A u f f a s s u n g w i d e r s p r i c h
t, f ü r
I n t e r p o l a t i o n e n e r k l ä r e n ¹.
—————
¹ Es gab freilich noch drei Auswege, die alle drei gewählt
worden sind. Man konnte einfach über jene Paulinischen
Ausführungen stillschweigend zur Tagesordnung übergehen, als
existierten sie gar nicht (so ist in der Christenheit vor Irenäus
vielfach verfahren worden), oder man konnte sie drehen, deuteln und
abstumpfen (auch das ist geschehen) oder man konnte diesen Paulus
für einen unsäglich verworrenen, aus Widersprüchen aller
Art zusammengesetzten Denker und Schriftsteller erklären, mit dem
jede Auseinandersetzung unmöglich sei. Das ist das Urteil, welches
Porphyrius gefällt hat. — Das Urteil, zu welchem M. kam
(prinzipieller Dualismus bei Paulus) wurde auch von zahlreichen
Gnostikern geteilt, und wenn man sich auf den Standpunkt eines
geborenen Griechen oder Römers stellt, war es fast unvermeidlich;
denn wie sollte ein solcher in dem Gegensatz „Gott und der Gott dieser
Welt“ „Geist und Fleisch“ usw. etwas anderes erkennen als den ihm von
Plato und sonsther geläufigen Gegensatz? M.s Größe
aber besteht darin, daß er zwar auch einen prinzipiellen
Gegensatz hier erkannte, aber n i c h t
den geläufigen religionsphilosophischen, u n
d d a ß e r s c h a r f b l i
c k e n d u n d
e h r l i c h g e n u g w a r, u
m a n d r e r s e i t s e i n z u s e h e n,
w i e v i e l e
A u s f ü h r u n g e n i n d e
n B r i e f e n z u d i e s e
m G e g e n s a t z n i c h t s t i
m m e n.
Die übrigen, die den Apostel zu einem Dualisten machten, halfen
sich durch sophistische Auslegungen über die monotheistischen und
das AT anerkennenden Ausführungen des Apostels hinweg (genau so,
wie umgekehrt die kirchlichen Theologen die Sätze über
Sünde, Gnade und Prädestination mißhandelten) — Marcion
allein zog die Konsequenz, die s c h l e c h t e r d i n g
s
u n v e r m e i d l i c h ist, wenn man sich (irrtümlich)
überzeugt hat, daß Paulus den Gott des Evan-
202
Marcions geschichtliche Stellung usw.
Diesen
Standpunkt nahm M. ein. Auf die Sache, d. h. auf die Religion
gesehen, tat er damit von dem gegebenen Boden des Paulinismus aus einen
Schritt, der an sich nicht größer, sondern kleiner war als
der Schritt, den Paulus getan hatte ¹; denn nach Paulus ist die
alte Religionsordnung des jüdischen Gottes, an welchem das
Urchristentum vor und neben ihm festhielt, abgetan, und das AT ist
nicht mehr die göttliche Urkunde, aus welcher man den Heilswillen
Gottes und sein Wesen jetzt zu erkennen hat. E i n
e U r k u n d e a b e r, z u m a l
eine
g ö t t l i c h e, d i e n u r b e
d i n g t g i l t, i s t i m G r
u n d e
—————
geliums von dem
des Gesetzes trenne: er erklärte, daß in den paulinischen
Briefen Unpaulinisches stecke, das man tilgen müsse. Diese
Folgerichtigkeit machte M. in einem Zeitalter der Konfusionen und
Verkleisterungen nur Ehre, so verkehrt der Ausgangspunkt ist.
Es mag hier die Stelle sein, um M.s
Verhältnis zu Paulus an dem Hauptpunkte kurz zu beleuchten.
Überzeugt man sich, daß M. in bezug auf die tiefe
Würdigung der Begriffe Sünde und Gnade, Gesetz und
Evangelium, Gesetzesgehorsam und Glaube wirklich ein Schüler des
Paulus gewesen ist und sie ihm nachempfunden hat, so muß man
andererseits anerkennen, d a ß
i h m d i e p a u l i n i s c h e D e n
k w e i s e (s. L e i s e g a n g, Der Apostel
Paulus als
Denker, 1923) a b s o l u t v e r s c h l o s s
e n
g e b l i e b e n i s t. Während die
Denktechnik des Paulus in bezug
auf die ersten und letzten Dinge durchaus dialektisch ist (weil Gott
ihm πάντα ἐν πᾶσιν ist), ist dieses Niveau M. unverständlich
und unerreichbar geblieben. Sein Denken ist vielmehr von dem Satz des
Widerspruchs vollkommen beherrscht und von der Unfähigkeit,
über ihn hinaus etwas zu verstehen. Das ist überall klar,
zeigt sich aber am deutlichsten bei seinem Begriff der „Gerechtigkeit“.
Hier wäre er genötigt gewesen, das Problem dialektisch
durchzudenken (denn auch der gute Gott hat nach M. Gerechtigkeit
und das gerechte Gesetz hat auch Gutes); allein er ist, soweit wir zu
urteilen vermögen (s. S. 112),
in diesem Problem stecken geblieben und hat es nicht durchdacht. Als
Erlöster empfindet er also mit Paulus und ist wie dieser innerlich
beherrscht von dem Glauben an den gekreuzigten Christus, als
theologischer Denker bezeichnet er aber geradezu den Gegenpol zu
Paulus, zieht den Apostel gewaltsam auf sein eigenes Niveau herab und
entstellt ihn damit aufs schlimmste; indessen — kommt er
ihm z u l e t z t nicht doch nahe, indem auch
nach seiner Eschatologie der Demiurg schließlich verschwindet und
Gott als πάντα ἐν
πᾶσιν
erscheint? Unterscheidet er sich, von hier aus betrachtet, nicht
lediglich durch einen stärkeren Pessimismus in bezug auf die Welt
und den gegenwärtigen Weltlauf von dem Apostel?
¹ In seinen Konsequenzen freilich war er
unübersehbar groß.
203
Marcions geschichtliche Stellung usw.
s
a m t i h r e m U r h e b e r a u
ß e r K r a f t
g e s e t z t. Der Paulinismus bedeutete also eine ungeheure
Revolution in der jüdisch-christlichen Religionsgeschichte.
Daß die Kirche bei der Paulinischen Halbheit stehen geblieben
ist, ja sie bald sogar nach rückwärts revidiert hat, ist
erstaunlich und ausschließlich aus der ungeheuren
äußeren und inneren Autorität des AT im Zusammenhang
mit dem geschichtlichen Ursprung des Christentums aus dem Judentum zu
verstehen. Aber es steht doch keineswegs so, als sei M. der
einzige gewesen, der die Paulinische Halbheit empfunden hat, vielmehr
sind uns aus der nichtgnostischen Christenheit des nachapostolischen
Zeitalters mehrere Ansätze verschiedener Art überliefert,
über sie hinauszukommen. Wenn der Verfasser des Hebräerbriefs
in bezug auf das AT nur die Betrachtung gelten läßt,
daß es etwas Schattenhaftes (c. 10, 1) und nunmehr veraltet sei
(c. 8, 13), so geht er damit in der Beurteilung dieses Buchs weiter als
Paulus und spricht ihm jede Geltung für die Gegenwart ab; wenn
ferner der Verf. des Barnabasbriefs unzweideutig und mit dem
Bewußtsein, daß es sich um die wichtigste Sache handelt,
erklärt, durchweg und überall sei das wörtliche
Verständnis des AT ein vom Teufel herbeigeführtes, greuliches
Mißverständnis der Juden und wer diesem
Mißverständnis in Glauben, Lehre, Kultus, Lebensordnung usw.
folge, sei ein Satanskind — so schafft er einfach und förmlich aus
dem AT ein zweites Buch; n u r d i e s e
s
B u c h h a t f ü r d i
e C h r i s t e n G ü l t i g k e i t!
Auch hier ist
die Identität des Gottes des Gesetzes und des Evangeliums, wie von
Paulus, festgehalten, aber um welchen Preis! Auf solch eine Sophisterei
wollte sich Marcion nicht einlassen. Sehr beachtenswert ist es auch,
daß Ignatius in seinem Brief an die Philadelphener (c. 8) gegen
die These judaistischer Christen: „Wenn ich etwas nicht im Archiv (im
AT) finde, so glaube ich es nicht, auch wenn es im Evangelium steht“,
schreibt: „Mir ist das Archiv Jesus Christus, sein Kreuz, sein Tod,
seine Auferstehung und der von ihm gestiftete Glaube“. Das kommt einer
Abrogation des AT, weil durch das Evangelium ersetzt und daher
überflüssig, sehr nahe. M. schuf wirklich aus den
Paulusbriefen und dem Evangelium „das Archiv“, weil sie den Kreuzestod
und die Auferstehung enthalten. Auch auf den Verfasser des Diognetbrief
sei noch hingewiesen, der in seiner Apologetik ganz
204
Marcions geschichtliche Stellung usw.
vom
AT. absieht, Christus als
den e i n z i g e n Gottesgesandten
erscheinen läßt und in Gott nur die Liebe und Güte
hervorhebt ¹.
Aber die wichtigste Erscheinung auf der Linie von
Paulus zu Marcion ist das Johannesevangelium samt den Briefen. Zwar
steht der Verf. in bezug auf das Gesetz und die Propheten
theoretisch auf dem Grunde des Paulus, läßt Jesum
erklären, daß das Heil von den Juden kommt und daß das
AT ihn bezeugt. Er denkt nicht daran, zwei Götter zu unterscheiden
²; aber in seinem lebendigen religiösen Denken geht er in
bezug auf den Gottesbegriff und die verwandten Fragen über Paulus
und zwar in der Richtung auf M. hinaus. Inwiefern er mit diesem
verwandt ist in bezug auf das Unternehmen, ein neues Evangelium
vorzulegen, weil ihm die kursierenden Evangelienschriften nicht
genügten, darauf ist bereits oben S.
70 f. hingewiesen worden. Die souveräne Stellung
gegenüber der Tradition, ja gegebenenfalls ihre Nichtachtung
charakterisiert beide, und die Motive sind hier und dort sehr
ähnlich: Johannes und Marcion wollen aus dem bunten Stoff, den
jene Schriften bringen, eine durch H a u p t g e d a n k e
n
zentralisierte Darstellung schaffen; sie wollen die Neuheit der
Erscheinung Christi und seines Evangeliums scharf herausarbeiten; sie
wollen den absoluten Wert seiner Person und seines Werkes
begründen, seine schlechthinige Überweltlichkeit und mit ihr
seine volle Gottheit zu deutlicher Darstellung bringen und allein die
neue trostreiche Gotteserkenntnis, die durch ihn und an ihm
aufgeleuchtet ist, aussagen.
Im Sachlichen und Geschichtlichen zeigt sich die
Verwandtschaft. In bezug auf jenes sei darauf hingewiesen, daß
auch nach Johannes Gott (er ist „Geist“, wie bei Marcion: „spiritus
salutaris“) die L i e b e ist,
welche die F u r c h t austreibt
³, und ausschließlich als Liebe soll er vorgestellt werden —
freilich
—————
¹ B u n s e n legte deshalb
den Brief Marcion bei!
² Wie diese, so liegen auch andere
durchgreifende Unterschiede zwischen Marcion und Johannes so klar auf
der Hand, daß es unnötig ist, sie anzuführen.
³ In dieser Richtung geht der Johanneische
Gottesbegriff im ersten Brief über den Paulinischen hinaus (trotz
Röm. 8, 35; denn s. Phil. 2, 12) und ist eindeutiger; gerade dies
ist aber auch die Richtung, in der M. bis zum Ende gegangen ist.
205
Marcions geschichtliche Stellung usw.
nach
M. hat Gott nicht
die W e l t geliebt, sondern die
Menschen. Ferner erscheint der Sohn als ein solcher, der selbst Macht
hat, sein Leben zu opfern und zu nehmen (10, 18); nach M. hat er
sich selbst auferweckt, und dem Marcionitischen Modalismus entsprechen
zahlreiche Johanneische Aussagen. Die ganze Johanneische Dialektik
über das „Richten“ Gottes hat den Gedanken zur Voraussetzung,
daß der Vater nicht richtet, sondern das Gericht dem Sohn
übergeben hat; aber auch der Sohn spricht (12, 47), daß er
die Ungläubigen nicht richten werde; „denn ich bin nicht gekommen,
die Welt zu richten, sondern die Welt selig zu machen“. Auch er ist
also nur Liebe und Erlösung. Das ist ganz im Sinne Marcions. Und
wie bei ihm, steht in e i n e r
Gedankenreihe des Johannes der Kosmos als eine dunkle, fremde,
feindliche Macht Gott gegenüber; die Menschen gehören zu
diesem Kosmos, der (I Joh. 5, 19) ganz und gar ἐν τῷ πονηρῷ κεῖται, und
müssen von ihm und aus ihm erlöst werden. Auch was Johannes
von den „Juden“ sagt, nähert sich der Auffassung M.s von
ihnen; denn, unbeschadet anderer Auffassungen, die Joh. über
sie hegt, sind sie die eigentlichen Feinde Christi, die
Kosmos-Menschen, d e r e n V a t e r d e
r
T e u f e l i s t. Dies und vieles Verwandte wird
zwar bei Johannes
bekanntlich dann wiederum einer anderen Betrachtung unterworfen, nach
welcher sie nicht das letzte und abschließende Wort dieses
religiösen Denkers enthalten; aber sie sind doch da und
dürfen nicht übersehen werden. Für M. sind sie das
letzte Wort: die Juden sind ihm als das erwählte Volk des
Weltschöpfers die Feinde Christi κατεξωχήν, und ihre Patriarchen,
Propheten und Führer können nicht erlöst werden. Die
Eigenschaften aber, um derenwillen die Juden nach M.
unerlösbar sind, ihr Pochen auf Moses, ihre verblendete Verkennung
des wahrhaft Guten und ihre fleischliche Selbstgerechtigkeit, sind auch
nach Johannes, der sie in der Apokalypse „die Synagoge des Satan“
nennt, für sie charakteristisch.
Damit sind wir bereits zur g e s c h i c
h t l i c h e n Betrachtung,
welcher beide Männer gefolgt sind, übergegangen. Über
Paulus hinaus stellt Johannes in dem Gespräch Jesu mit der
Samariterin der neuen Anbetung im Geist und in der Wahrheit die
jüdische und heidnische Anbetung als gleichartig und gleichfalsch
gegenüber; wie M. kann er Jesum sagen lassen, daß alle,
die vor
206
Marcions geschichtliche Stellung usw.
ihm
gekommen, Räuber und
Mörder gewesen sind; wie M. schließt er die
Verkündigung der Gnade und der Wahrheit aus dem AT aus — nur das
Gesetz hat Moses verkündigt. Aber weiter; es liegt auf dem Wege zu
Marcion, wenn es Joh. für überflüssig hält,
obgleich Matthäus und Lukas bereits ihre Evangelien verfaßt
hatten, von der Geburt Christi zu reden, wenn er ferner die Bedeutung
der Taufe Christi auf ein Zeichen herabdrückt, das dem Täufer
gegeben werden sollte, und wenn er zwar die Botschaft: „Das Wort ward
Fleisch“, verkündet, aber das Menschliche in Christus in einer
gespenstigen Schwebe hält.
Diese Züge, die sich vermehren lassen,
mögen genügen, um zu zeigen, daß der Marcionitismus
geschichtlich nicht wie aus der Pistole geschossen in die Erscheinung
getreten ist. Gewiß — nicht Johannes hat ihn vorbereitet, wohl
aber eine Entwicklung, die sich an den Paulinismus auf
heidenchristlichem Gebiet mit innerer Notwendigkeit anschließen
mußte, und deren stärkste Elemente wir bei Johannes finden.
Er selbst allerdings als geborener Jude hat es verstanden, die letzten
Konsequenzen zugunsten der allgemeinen Tradition zu vermeiden und die
Autorität des jüdischen Gottes samt seinem Buche aufrecht zu
erhalten.
Marcion und zahlreiche Christen mit und neben ihm
vollzogen den Schnitt ¹ und trennten im Interesse der Neuheit des
Christentums, seiner Eindeutigkeit und seiner Kraft, das Evangelium vom
AT und von seinem Gott; aber nur von M. wissen wir, daß er
sich g e s c h i c h t l i c h
Rechenschaft gegeben hat, warum er es tat und wie das gewaltige
Unternehmen zu rechtfertigen sei. Während Johannes mit
pneumatischer Souveränität und Sicherheit seine
einschneidenden Korrekturen und Sublimierungen der Tradition als
geschichtliche Tatsachen vorgetragen hat, besaß M. — das
gibt ihm in der gesamten Geschichte der
—————
¹ Wie groß im Verhältnis zu den traditionstreuen
Christen die Zahl der Christen war, die im nachapostolischen Zeitalter
und bis gegen das Ende des 2. Jahrh. das AT verworfen haben, wissen wir
leider nicht. Merkwürdig ist es immerhin, daß Tert. V,
20
schreibt: „H o d i e maior pars
est omnibus in locis sententiae nostrae quam haereticae“. Es ist nicht
ganz unmöglich, daß es im 2. Jahrhundert ein Jahrzehnt
gegeben hat, in welchem die Christen, welche das AT verwarfen,
zahlreicher waren als die, welche es anerkannten.
207
Marcions geschichtliche Stellung usw.
alten
Kirche eine einzigartige
Stellung — ein klares Bewußtsein von seiner Pflicht als Kritiker,
seinen Standpunkt geschichtlich zu begründen. Es wird dabei immer
denkwürdig bleiben, daß es mit sicherem Griff den
Galaterbrief zur Unterlage wählte — wie in der Neuzeit
S e m l e r und F. Chr. B a u r —, f e r n e
r a b e r, d a ß n e b e
n d i e s e m B r i e f
u n d d e n a n d e r e n P a u l u
s b r i e f e n a l l g e m e i n a n e r k a n
n t e U r k u n d e n o d e r
z u v e r l ä s s i g e Ü b e r l i e f e r u n g
e n s c h o n d a m a l s n i c h
t m e h r
v o r h a n d e n g e w e s e n s e i
n k ö n n e n, d i e s
o ü b e r t r i e b e n e
S c h l ü s s e v e r b o t e n, w i
e e r u n d s p ä t e r
S e m l e r u n d B a u r s i
e
g e z o g e n h a b e n ¹. Aus dem Galaterbrief
schloß M.,
daß Paulus ein total anderes Evangelium verkündet habe als
die Urapostel, nämlich das echte Evangelium Christi, das jene
judaistisch verfälscht hätten, ferner, daß Paulus in
allen seinen Briefen nur e i n e
Lebensaufgabe und e i n e n Kampf
gekannt habe, den Kampf gegen die Judaisten. In seinen Auslegungen der
Paulusbriefe stellte er dies ans Licht, und nun war es ihm auch
möglich, Echtes und Unechtes in ihnen
—————
¹ Das ganze Unternehmen M.s ist ein Beweis dafür,
daß es zwei bis drei Menschenalter nach Paulus ein
maßgebendes, jede Subjektivität in der Konstruktion der
Vergangenheit zügelndes Wissen um den geschichtlichen Verlauf der
Dinge (abgesehen von den Schriften, die auch wir noch besitzen) nicht
mehr gegeben hat; sonst hätte es M. gar nicht wagen
können, mit einer so grundstürzenden Betrachtung
hervorzutreten. Der Satz R i t s c h l s
bewährt sich auch hier: „Nirgendwo ist das geschichtliche
Gedächtnis kürzer als unter der Herrschaft einer Tradition“;
die Tradition war in diesem Fall die willkürliche Bestimmung und
Schätzung des „Apostolischen“. Unter den Schutz dieses Titels
stellte man die Ausgestaltung des urchristlichen Synkretismus und aller
der religiösen Motive, die man in der Gegenwart brauchte. M.
hat ganz richtig den Unwert dieser Tradition erkannt; sein Heilmittel
aber, obgleich aus dem Grundgedanken des Paulus geboren, war
geschichtlich betrachtet noch falscher. — Die Apostelgeschichte, eine
für die Paulinische Zeit wesentlich zuverlässige Quelle, war
allerdings vorhanden und M. hat sie gekannt; aber er hat sie, die
übrigens noch nirgendwo als ein heiliges Buch galt, als eine
durchaus falsche Quelle beurteilt und verworfen, weil sie nach seiner
Auffassung den Paulusbriefen widersprach und dazu jenem Lukas
zugeschrieben wurde, dessen Namen die Judaisten dem echten Evangelium
vorgesetzt haben, als sie es verfälschten.
208
Marcions geschichtliche Stellung usw.
zu
unterscheiden und diese
Unterscheidung auf das Evangelium auszudehnen. Die Parallelen zur
Arbeit der Tübinger Schule sind hier überall so frappant,
daß sie einer Hervorhebung nicht bedürfen. Allerdings
besteht der Unterschied, daß diese Schule nicht soweit gegangen
ist, dem Paulus die Anerkennung des AT und des ATlichen Gottes
abzusprechen, und daß sie andere Mittel als M. besaß,
um das echt Paulinische vom „Deuteropaulinismus“ zu trennen; aber
dieser Unterschied ist schließlich nicht sehr groß; denn in
der „Idee“ hat Paulus auch nach B a u r
den ATlichen Gott preisgegeben und in gewissem Sinn hat er mit dieser
Behauptung recht (s. o.) ¹.
Wenn M. aber den angeblichen Befund in den
echten Briefen des Paulus mit dem gegenwärtigen Zustand der
großen Christen-
—————
¹ Die Übereinstimmung zwischen M. und den Tübingern
ist sehr groß. Beide haben darin recht, daß man die
bewegende Seele des Paulinismus, die Größe des Lebenswerks
des Apostels und das Verständnis des apostolischen Zeitalters vor
allem aus dem Kampf gegen die Judaisten zu erkennen habe — eine
geschichtliche Einsicht ersten Ranges, die in der langen Periode
zwischen M. und den Tübingern verloren ging und auch von
Luther nicht als g e s c h i c h t l i c h e
Erkenntnis für das Verständnis des Urchristentums geltend
gemacht worden ist. Aber beide haben darin unrecht, daß sie
den g a n z e n Paulus mit seinen Gedanken
und Interessen, sowie alle urchristlichen Entwicklungen aus jenem
Kampfe glaubten verstehen zu können. Bei M. hatte diese
Überzeugung den Erfolg, daß er (wie die Prologe zu den
Paulusbriefen, aber auch seine Exegesen lehren) in den Partien der
Briefe, die er für echt erkannte, in der gewaltsamsten Weise alles
auf den judaistischen Gegensatz zurückführte; aber auch bei
den Tübingern ist es nicht wesentlich anders, wenn ihr Verfahren
auch nicht ganz so grotesk ist. Da sie aber beide wirkliche Kritiker
waren und nicht Sophisten, so sahen sie sich beide genötigt, aus
ein und demselben Gesichtspunkt große Streichungen in den
Paulusbriefen vorzunehmen. Dabei verfuhren die Tübinger radikaler
als M., da sie nicht weniger als sechs von den zehn Paulusbriefen
für unecht erklärten, M. aber verwegener, da er sich
zutraute, die angeblichen höchst zahlreichen großen und
kleinen Interpolationen erkennen und ausscheiden zu können, welche
die Briefe durch die Judaisten erlitten hätten. Übrigens
haben es auch die Tübinger versucht, eine Reihe von
Schwierigkeiten durch die Annahme von tendenziösen Interpolationen
zu beseitigen, namentlich die Jüngeren unter ihnen, nachdem sie
den Radikalismus der Schule gemildert hatten (vgl. die Arbeiten
von H i l g e n f e l d und H o l t z m
a n n); sie sind also als
Kritiker Marcioniten geworden.
209
Marcions geschichtliche Stellung usw.
heit
verglich, mußte er
einsehen, daß der Apostel umsonst gearbeitet hatte, und daß
trotz seiner unsäglichen Bemühungen alles beim alten
geblieben war; alles hatte sich wieder infolge der Anerkennung des AT
in gesetzliche Formen niedergeschlagen, und mit Schmerz sah M.,
daß die Christenheit wieder eine Spielart des Judentums geworden
war. Die Energie und die Kraft der Organisation, die er nun einsetzte,
um das Werk des Paulus wieder aufzunehmen, eine reformierte und
geschlossene Christenheit zu schaffen und alle abgefallenen Brüder
zurückzurufen, ist neben seiner religiösen Konzeption das
Bewundernswerteste an ihm, und erstaunlich waren seine Erfolge. In dem VII. und VIII.
Kap. ist dargestellt worden, was er als Organisator gewollt und
durchgesetzt hat; hier muß diese Leistung noch im Zusammenhang
gesetzt werden mit der Entwicklungsgeschichte des Urchristentums zum
Katholizismus:
Die große Christenheit war „katholisch“ durch
die Fülle der religiösen Motive (den Synkretismus), die sie
umspannte, und sie war „katholisch“ durch die Universalität ihrer
Mission; aber da sie lediglich dasselbe Buch wie die Synagoge
besaß, mußte ihre Verkündigung „z w e i e
r“ Bünde, auf die sie
sich, dem Apostel folgend, stützte (s. Justins Dialog),
unvollkommen und fragwürdig bleiben; s i e
h a t t e f ü r d e n z w e i t e
n und w i c h t i g e r e n B u n
d k e i n e U r k u n d e!
Aber sie hatte auch k e i n e
z e n t r a l i s i e r t e, k a t h o l i s c h e L
e h r e; denn so wichtig es war,
daß wenigstens ein kurzes und gehaltvolles Taufbekenntnis in Rom,
vielleicht auch in Kleinasien, existierte, so besaß dasselbe doch
noch keine „katholische“ Verbreitung und Dignität, und neben ihm
erbaute, lehrte und spekulierte jeder christliche Lehrer auf eigene
Faust. Endlich entsprach dieser concordia discors der Lehre, die nur
ganz unsicher durch die Berufung auf die unformulierte „apostolische
Überlieferung“ zusammengehalten wurde, die l o c k e r
e V e r b i n d u n g d e r G e m e
i n d e n
u n t e r e i n a n d e r. Den fehlenden inneren Zusammenhang
suchten
Bischöfe und Lehrer durch persönliche Mahnschreiben und
Beschwörungen zu ersetzen; der Erfolg konnte nur ein ganz
unvollkommener sein. N u r d i e
r ö m i s c h e G e m e i n d e sprach und
handelte auch damals schon als
G e m e i n d e i n d e r R i c h t
u n g a u f d e n
A u f b a u e i n e r G e s a m t k i r c h e.
210
Marcions geschichtliche Stellung usw.
Über
diesen diffusen und für den Bestand der Christenheit
gefährlichen Zustand der Dinge brach die Reformation Marcions
herein. Die erste Notwendigkeit, die ihm aufgegangen war, da er die
alte Urkunde verwarf und nur e i n e n
Bund anerkannte, war die Herstellung einer litera scripta ebendieses
einzigen Bundes. Er und kein anderer hat sie geschaffen! Die zweite
Notwendigkeit, die sich ihm aufgedrängt hatte, weil sie auf seinem
Standpunkt selbstverständlich war, war die Verbindung des
Evangeliums mit den Paulusbriefen und damit die segensreiche, zugleich
aber verhängnisvolle Zweiteiligkeit des neuen Kanons. Er und kein
anderer hat sie konzipiert! Die dritte Notwendigkeit, die er
eingesehen, war, dem herrschenden Synkretismus der religiösen
Erkenntnisse und Motive, dazu dem Prophetismus, der Allegoristik, der
eindringenden philosophischen Spekulation, dem Rationalismus und
Gnostizismus, kurz allen subjektiven Elementen ein Ende zu machen und
an ihre Stelle nicht eine menschlich erklügelte „Lehre“, wohl aber
eine klare und eindeutige biblische Theologie zu setzen. Er hat dies
durch seine „Antithesen“ d. h. den in seiner Einförmigkeit
höchst kräftigen Bibelkommentar getan! Endlich hat er die
Notwendigkeit eingesehen, mit diesen neugeschaffenen Mitteln eine
tatsächliche E i n h e i t der
Christenheit in Form einer großen K i r c h e
herzustellen und dadurch
ebendieser Christenheit Kraft und Dauer zu geben. Er selbst ist sein
eigener Missionar gewesen und hat nach dem Zeugnis seines Zeitgenossen
Justin seine Schöpfung „im ganzen Menschengeschlecht“, d. h. im
ganzen Reiche, ausgebreitet ¹.
Die Einwendungen, daß er in allen diesen
Stücken nicht der erste gewesen sei, sondern schon Vorhandenes
nachgeahmt habe, sind sämtlich hinfällig. Vergebens hat man
sich bemüht nachzuweisen, daß die Konzeption und
Schöpfung einer zweiten heiligen Urkunde, des NT, schon vor
Marcion in der großen Christen-
—————
¹ Es ist wohl möglich, daß nicht nur eine
ursprüngliche Anlage M. zum Kirchenorganisator großen
Stils gemacht hat, sondern auch sein Aufenthalt in Rom und seine
zeitweilige Zugehörigkeit zur römischen Gemeinde. An ihrer
universalkirchlichen Sorge mag er erkannt und gelernt haben, was
für die Christenheit als ganze zu tun sei, und übertraf dann
im Anlauf seine Lehrmeisterin an Energie und Tatkraft. Wenn dem so ist,
so steckt in seinem „Katholizismus“ ein r ö m i s c h
- katholisches Element.
211
Marcions geschichtliche Stellung usw.
heit,
erfolgt sei. Der Dialog
Justins mit Trypho, von anderen negativen Zeugnissen zu schweigen,
protestiert gegen diese Behauptung ¹. Wohl wußte man in der
großen Christenheit seit Paulus von zwei Testamenten, aber in
Form der S c h r i f t besaß
man nur e i n e s, das alte, und
dachte an keine Verdoppelung. Woher hätte man auch die
Autorität für die Schöpfung eines neuen Testaments
aufbringen sollen? ² Ferner, wohl besaßen einige
führende Gemeinden zur Zeit M.s schon die vier Evangelien und
lasen sie im Gottesdienst neben dem AT, aber weder war diese Sammlung
schon allgemein verbreitet, noch galt sie als die dem AT entsprechende,
formell gleichwertige Urkunde ³. Weiter, die Konzeption, die
Briefe des Paulus dem Evangelium mit gleicher Dignität zuzuordnen,
konnte dort nicht entstehen, wo der Apostel im Schatten der Urapostel
stand; in diesem Schatten stand er aber in der großen
Christenheit, entsprechend dem eigentümlichen Inhalt der
„apostolischen Tradition“, die auf Augenzeugenschaft alles Gewicht
legte. Wenn daher die große Christenheit aus sich heraus das
Evangelium und die Paulusbriefe verbinden wollte, hätte das immer
nur durch ein urapostolisches Medium geschehen können; die
Zeugnisse für einen so gestalteten Kanon sind aber sämtlich
nachmarcionitisch . Dazu, die
Notwendigkeit, den Lehrinhalt des Christentums gegenüber allem
groben und feinen Synkretismus und Subjektivismus, woher er auch komme,
in sichere Grenzen zu fassen und ihn als biblische Theologie lediglich
aus der heiligen Urkunde zu schöpfen, diese Theologie aber nicht
kosmologisch, sondern soteriologisch Aufzubauen, hat M. zuerst
erkannt und ihr die konsequenteste
—————
¹ In der Christenheit sind also, b e v o r
es zwei v e r b u n d e n e
schriftliche Testamente gab, zwei f e i n d l i c h e
vorhanden gewesen; das geschriebene NT ist als Gegner des AT von
M. geschaffen worden, um dann erst, im Gegensatz zu ihm, in
friedlicher Verbindung mit dem AT als die O b e r s t u f e
in der katholischen
Kirche zu erscheinen; s. m e i n e
Schrift „Die Entstehung des NTs“ S. 21 ff. (Beiträge zur Einl. in
das NT, 6. Heft, 1914).
² Diese Autorität war erst dann vorhanden,
als die Konzeption gefaßt war, die gesamte echte schriftliche
Hinterlassenschaft der Apostel sei ipso facto die heilige Grundlage und
Richtschnur der Christenheit.
³ S. „Entstehung des NT.s“ S. 46 ff.
S. a. a. O. S. 39 ff.
212
Marcions geschichtliche Stellung usw.
Folge
gegeben. Endlich, die
verstreuten Gemeinden d u r c h d i e s e
s
V e r s t ä n d n i s d e s C h r i s t e
n t u m s zu einer geschlossenen
Einheit, z u e i n e r t a t s
ä c h l i c h e n
K i r c h e zusammenzuschließen und dadurch vor
Zerfließen in die Zeitströmungen und in den Judaismus zu
bewahren, hat ebenfalls M. als einzelner mit
bewunderungswürdiger Energie zuerst unternommen.
Was taten die Bischöfe und Lehrer der
großen Christenheit, als dieser „Wolf“, wie sie sagten, in die
Herde einbrach, als dieses „στόμα ἀθεότητος“ zu reden anhob und dieser
„Gigant“ wider den Schöpfergott den Kampf begann. Was taten sie,
als wie aus dem Boden gestampft sich inmitten der verstreuten
Einzelgemeinden im Reich der geschlossene Bau der Marcionitischen
katholischen Kirche erhob. Wir haben schon erzählt, daß sie
den höchsten Eifer einsetzten und daß wir die Verbreitung
der neuen Kirche in allen Provinzen des Reichs aus der Fülle der
Gegenschriften kennen, die zwischen 150 und 200 ü b e
r a l l geschrieben wurden.
Daß diese Kirche zu verdammen sei, darüber gab es keinen
Zweifel; aber u m s i c h i h r e
r z u
e r w e h r e n, h a t d i e g r o
ß e C h r i s t e n h e i t a l l e
s v o n M a r c i o n r e z i p i e r e
n
m ü s s e n u n d r e z i p i e r t,
w a s e r g e s c h a f f e
n h a t, m i t A u s n a h m
e d e s
r e l i g i ö s e n G r u n d g e d a n k e n s.
Sie selbst hat nun erst auch ein
s c h r i f t l i c h e s NT
hervorgebracht; sie hat in diesem NT „Evangelium“ und „Apostolus“ wie
M. auf e i n e r Fläche
verbunden (den „Apostolus“ nach ihrer Tradition erweiternd); sie hat
alsbald von M. gelernt, daß man die Lehre gegen ihr
Zerfließen und gegen Einflüsse von außen sicherstellen
müsse, indem man sie als T h e o l o g i e
d e s N T s zu fassen habe, und sie hat ebenfalls
von ihm zu lernen
begonnen, daß die S o t e r i o l o g i e
der Kosmologie überzuordnen sei ¹.
—————
¹ Bei der großen Gegenbewegung gegen M., die sich
entwickelte, hatte die römische Gemeinde, von der er mit seiner
Kirchenstiftung ausgegangen war, unzweifelhaft die Führung. Sie
hat zuerst von M. gelernt, was von ihm zu lernen war, und es die
anderen Gemeinden gelehrt. Sie hat dann noch Kräftigeres über
M. hinaus zum Bau und zur Sicherstellung der neuen katholischen
Kirche hervorgebracht. Die Konzeption des Gedankens der
bischöflichen Sukzession und ihre Verbindung mit dem
213
Marcions geschichtliche Stellung usw.
Nicht nur
durch die Tatsache, daß alle diese Stücke bei M.
früher auftauchen als in der großen Kirche, wird die
kausierende Priorität dieses einzigen Mannes bewiesen ¹,
sondern noch sicherer durch die Beobachtungen (s. Beilage III u. IV),
wie stark die Marcionitische Bibel a l s
s o l c h e auf die katholische eingewirkt hat. Vor allem
spricht
hier das mächtige Eindringen der Marcionitischen Prologe zu den
Paulusbriefen in die lateinische Bibel der Kirche die beredteste
Sprache ². Wie oft muß anfangs die Marcionitische
Briefsammlung in die Hände der Katholiken gekommen und
zunächst unerkannt geblieben sein!
—————
Gedanken der
Garantie für die traditio veritatis sind nicht von M., wenn
wir auch in späterer Zeit von διαδοχαὶ τῶν ἐπισκόπων in den
Marcionitischen Kirchen hören.
¹ Daß auch ohne die Marcionitische
Bewegung die innere kirchliche Entwicklung zur Schöpfung des NTs,
zu seiner Zweiteiligkeit, zur christlichen Theologie als Theologie des
neuen B u c h s und zur
(relativen) Zurückdrängung der Kosmologie geführt
hätte, ist eine These, über die sich schwer diskutieren
läßt; mir scheint sie keineswegs sicher. Wahrscheinlicher
ist mir, daß die Kirche ohne jene Bewegung sich mit den vier
Evangelien (in kanonisch unsicherer Dignität) neben dem AT
begnügt hätte, daß sie daher auch schwerlich zur
Überwindung des Diffusen in ihrer Lehre und zur Theologie des
Buchs gekommen wäre (auch so ist sie durch die z w e i
Testamente, die sie nun
anerkannte, und aus anderen Gründen nur sehr bedingt zu ihr
gekommen) und daß die Kosmologie ihre Überordnung über
der Soteriologie behauptet hätte. Wendet man aber ein, daß
doch nicht M. allein hier in Betracht komme, sondern auch der
Gnostizismus, so verkennt man die numerische und sachliche
Inferiorität des Gnostizismus a l s
k i r c h e n g e s c h i c h t l i c h e n F a k t o r
s n e b e n d e r M a r c i o n i t
i s c h e n K i r c h e.
Wohl nennt Tert. die Valentinianer — sie können allein hier
in Betracht kommen — „frequentissimum collegium“, aber eben
„collegium“. Gewiß haben Irenäus und er sie eingehend
bekämpft, aber die exotischen valentinianischen geheimen
Spekulationen reizten durch ihre Kuriositäten zur Aufdeckung und
Widerlegung und da sie in die christliche Oberschicht eindrangen,
verlangten sie eine besondere Aufmerksamkeit.
² Es sei hier nochmals (s. S. 132* f.) daran
erinnert, daß so konservative Kritiker wie die Herausgeber des
„Novum Testamentum domini nostri J. Chr., Latine sec. edit. S.
Hieronymi (W o r d s w o r t h und W h i
t e) geschrieben haben (T. II, 1,
1913, p. 41): „Marcionis ,Apostolicon‘ Latine etiam circumlatum est
et c o m m u n i usu tritum... et alias
abunde testatum est, ecclesiam nonnihil e t i a m i
n N o v i T e s t a m e n t i c o r p o
r e
c o n f o r m a n d o haereticis debere“.
214
Marcions geschichtliche Stellung usw.
Es
fehlten eben Jahrzehnte
lang in den katholischen Kirchen Exemplare der Paulusbriefe (s. o.).
Aber auch die offenbare Tatsache, daß Irenäus, der
Begründer der soteriologischen Kirchenlehre, sowie Tertullian und
Origenes ihre b i b l i s c h e n
Lehren über Güte und Gerechtigkeit, über Evangelium und
Gesetz, über den Schöpfergott und den Erlösergott usw.
im Kampf gegen M. entwickelt u n d
d a b e i v o n i h m g e l e r n t
h a b e n, ist von höchstem Belang
¹. Endlich — durch M. ist auch für die große
Kirche Paulus wiedererweckt worden, den z. B. ein Lehrer wie Justin
bereits ganz zur Seite geschoben und der römische Christ Hermas
völlig ignoriert hatte. Vor allem aber die Stellung der
großen Christenheit zum AT ist infolge der Auseinandersetzung mit
M. eine wesentlich andere geworden als früher. Vorher war die
Gefahr brennend, daß man das AT als die christliche Urkunde,
teils wörtlich, teils allegorisch erklärt, anerkannte und
sich mit ihr begnügte; jetzt wurde zwar diese Gefahr noch immer
nicht endgültig beseitigt und eine befriedigende Klarheit nicht
hergestellt, aber die Beurteilung, daß im AT „das Erz noch in den
Gruben liegt“ und daß es die legisdatio in servitutem sei
gegenüber der NTlichen legisdatio in libertatem, schaffte sich
doch Raum und Ansehen. Ja wir hören jetzt von hervorragenden
Kirchenlehrern Äußerungen über das AT, die noch
über Paulus hinausgehen. Das verdankt die Kirche Marcion.
Nimmt man hinzu, daß erst nach M. in der
großen Christenheit die zielstrebige Arbeit begonnen hat, die h.
Kirche, die Braut Christi, die geistliche Eva, den jenseitigen Äon
vom Himmel herabzuführen und auf Erden die Gemeinden zu einer
tatsächlichen Gemeinschaft und Einheit auf dem Grunde einer
festen, im NT wurzelnden Lehre zusammenzuschließen, wie er es
getan hat, s o i s t e r w i e s e
n,
d a ß M. d u r c h s e i n
e o r g a n i s a t o r i s c h e n u n
d t h e o l o g i s c h e n K o n-
—————
¹ Die beiden Hauptsätze des Irenäus: „Der
Schöpfergott ist auch der Erlösergott“ und „der Sohn Gottes
ist zum Menschensohn geworden“, auf denen die ganze weitere Entwicklung
der Kirchenlehre ruht, sind streng antimarcionitisch, und doch steckt
M. hinter ihnen, weil Irenäus sie s o t e r i o l o g
i s c h verstanden und
entwickelt hat im Unterschied von der rationalistischen
Dürftigkeit der meisten Apologeten vor ihm.
215
Marcions geschichtliche Stellung usw.
z
e p t i o n e n u n d d u r c h s e
i n
W i r k e n d e n e n t s c h e i d e n d e
n A n s t o ß z u r S c h
ö p f u n g d e r
a l t k a t h o l i s c h e n K i r c h e g e g
e b e n u n d d a s V o r b i l d
g e l i e f e r t h a t. I h m
g e b ü h r t f e r n e r d a
s V e r d i e n s t, d i e I d e
e e i n e r k a n o n i s c h e n S
a m m l u n g
c h r i s t l i c h e r S c h r i f t e n, d e
s N e u e n T e s t a m e n t s, z u e r
s t e r f a ß t u n d
z u e r s t v e r w i r k l i c h t z
u h a b e n. E n d l i c h h a
t e r a l s e r s t e r
i n d e r K i r c h e
n a c h P a u l u s d i e S o t e r
i o l o g i e z u m M i t t e l p u n k t d e
r L e h r e g e m a c h t,
w ä h r e n d d i e k i r c h l i c h e
n A p o l o g e t e n n e b e n i h
m d i e c h r i s t l i c h e L e h
r e
a u f d i e K o s m o l o g i e g r
ü n d e t e n ¹.
—————
¹ Ich habe diese Thesen, allerdings noch nicht mit der
nötigen Bestimmtheit, sowohl in meinem Lehrbuch der
Dogmengeschichte als auch in der Schrift über die Entstehung des
NT seit Jahren dargelegt und erhärtet; aber in den kirchen- und
dogmengeschichtlichen Lehrbüchern und Monographien, die seitdem
erschienen sind, sind sie noch immer nicht gebührend anerkannt
worden. Die Geschichte der Entwicklung des Urchristentums zur
katholischen Kirche muß einen anderen Aufbau erhalten als bisher;
M. und seiner Kirche muß für das 2. Jahrhundert mutatis
mutandis eine so hervorragende Stelle (und eine ähnliche, in
mancher Hinsicht noch weiter greifende Bedeutung) gegeben werden wie
der Reformation im 16. Jahrhundert. Der Gnostizismus neben M.
muß k i r c h e n g e s c h i c h t l i c h
(anders ideengeschichtlich) einen bescheidenen Platz erhalten, und die
altkatholische Kirche muß als ein (antithetisches und
synthetisches) Produkt der Einwirkung Marcions auf das nachapostolische
Christentum erscheinen. Die Christenheit (die Kirche) vor Marcion, und
nach Marcion — das ist ein noch viel größerer Unterschied
als die abendländische Kirche vor der Reformation und nach der
Reformation!
—————
Letzte
Änderung am 30. Dezember 2017