ADOLF VON HARNACK

MARCION: DAS EVANGELIUM VOM FREMDEN GOTT
Kapitel VII, Seite 143—152

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VII. Die heilige Kirche der Erlösten und ihre Lebensordnung (Kultus, Organisation und Ethik).

    Die Bedeutung der Kirche hat M. von Paulus gelernt; man darf ohne weiteres die originelle und große Konzeption des Apostels als von ihm anerkannt und wertgeschätzt ansehen. Der deutlichste Beweis hierfür ist, daß er Ephes. 5, 22—32 beibehalten hat. Diese Stelle mußte ihm an sich in hohem Grade unsympathisch, ja anstößig sein; denn sowohl das Verhältnis von Mann und Frau als auch das des Menschen zu seinem Fleisch mußten ihn anwidern. Trotzdem hat er die Ausführungen (nach einer Korrektur) nicht getilgt, weil er keine andere Stelle in den Paulinischen Briefen fand, die die enge Zusammengehörigkeit der Kirche mit Christus so deutlich machte: Christus das Haupt der Kirche; Christus die Kirche innig liebend und hegend ¹; der in der Kirche Stehende verläßt Vater und Mutter und wächst mit Christus zu einer Einheit zusammen. Wie M. über die Kirche dachte, geht noch aus einer zweiten Stelle hervor; Gal. 4, 26 hat er (oder ein Schüler?) durch Änderung und Zusatz so gefaßt, daß er gegenüber der Veranstaltung des Weltschöpfers, die auf die Synagoge abzweckt, die überschwenglich große Veranstaltung des guten Gottes εἰς ἣν ἐπηγγειλάμεθα   ἁ γ ί α ν   ἐ κ κ λ η σ ί α ν,   ἥτις ἐστιν μήτηρ ἡμῶν, abzwecken läßt. Die Kirche ist also die durch das Erlösungswerk hervorgebrachte Schöpfung Gottes, sie ist heilig (gewiß im Sinne des Paulus), und sie ist die Mutter der Erlösten. Widerwillig haben auch die Gegner anerkannt, daß M. „Kirchen“ hat und nicht nur Schulen oder formlose Gemeinschaften ².
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    ¹ Nach Ephraem nannten die Marcioniten die Kirche die Braut Christi.
    ² Tert. IV, 5: „Habet plane et evangelium Marcionis ecclesias, sed suas, tam posteras quam adulteras, quarum si censum requiras, facilius apostaticum invenias quam apostolicum, Marcione scilicet conditore vel aliquo de Marcionis examine. faciunt favos et vespae, faciunt ecclesias et Marcionitae“.


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    In dieser Kirche wurde getauft und das Abendmahl gehalten wie bei den anderen Christen. Der Taufritus war auch kein anderer; sonst hätte die Marcionitische Taufe in Rom nicht als gültig angesehen werden können (vgl. Cypr., ep. 73, 4; 74, 7; übrigens bestätigt die Gleichartigkeit des Vollzugs ausdrücklich Augustin, De bapt. c. Donat. III, 15) ¹. Auch das Abendmahl vollzog, sich in der überlieferten Weise, jedoch mit Wasser neben dem Brot; aber das findet sich auch sonst häufiger in jener Zeit ². Auch andere Ritualien fehlten nicht; s. Tert. I, 14: „Ille quidem (der Christus M.s) usque nunc nec aquam reprobavit creatoris, qua suos abluit ³, nec oleum, quo suos unguit , nec mellis et lactis societatem, qua suos infantat, nec panem, quo ipsum corpus suum repraesentat, etiam in sacramentis propriis egens mendicitatibus creatoris“ . Dazu I, 23: „Non putem impudentiorem quam qui in aliena aqua alii deo tingitur, ad alienum caelum alii deo expanditur, in aliena terra alii deo
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    ¹ Über die Taufe Verstorbener und über die Wiederholung der Taufe s. im nächsten Kapitel.
    ² Vgl.   m e i n e   Abhandlung über Brot und Wasser beim Abendmahl in den „Texten u. Untersuch.“ Bd. VII, H. 2 (1891). Der Ersatz des Weins durch Wasser wird für M. von Epiphanius und Timotheus ausdrücklich bezeugt, s. S. 365*, 381*. Die Worte zum biblischen Text („hoc est corpus meum“):   „i d   e s t   f i g u r a   c o r p o r i s   m e i“   (Tert. IV, 40), die oft als Tertullianische angeführt werden, gehören M. an; denn Tert. fährt fort: „figura autem non fuisset, nisi veritatis esset corpus; ceterum vacua res, quod est phantasma, figuram capere non posset“. M. hat also das Einsetzungswort figürlich verstanden. Die weiteren Worte aber: „aut si propterea panem corpus sibi finxit quia corporis carebat veritate, ergo panem debuit tradere pro nobis“ richten sich schwerlich gegen eine Behauptung M.s. Sehr beachtenswert ist, daß M. im Vater-Unser τὸν ἄρτον ἡμῶν in τὸν ἄρτον σου verwandelt hat. Also wollte er die Bitte auf das Brot im Abendmahl bezogen wissen (ebenso viele Kirchenväter nach ihm ohne Textänderung); denn die Bitte um die Leibesnahrung erschien ihm als „frivola“.
    ³ Vgl. I, 24: „Et caro tingitur apud Marcionem“. I, 28: „Cui rei baptisma quoque apud Marcionem exigitur?“
     B o u s s e t,   Hauptprobleme der Gnosis S. 297, bemerkt lediglich auf Grund dieser Worte: „Eine Öltaufe kennen die Marcioniten“; allein dann kennen auch die Katholiken eine „Öltaufe“.
     Man beachte daß „Wein“ fehlt.


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sternitur ¹, super alienum panem alii deo gratiarum actionibus fungitur, de alienis bonis ob alium deum nomine eleemosynae et dilectionis operatur“. Generell heißt es III, 22: „Gloriae relatio et benedictio et laus et hymni et signaculum frontium et ecclesiarum sacramenta et munditiae sacrificiorum in te (scil. in deinen Kirchen) quoque deprehenduntur“. Hiernach können sich die Marcionitischen Gottesdienste und h. Handlungen nicht wesentlich von denen der großen Kirche unterschieden haben ². „Korinthisch“ kann es in ihnen nicht zugegangen sein; denn wenn auch Marcion behauptet haben mag, das Zungenreden sei eine dem neuen Gott eigentümliche charismatische Form (zu I Kor. 12, 10 bei Tert. V, 8; ganz sicher ist das nicht), so beweisen doch mehrere Stellen bei Tert., daß von enthusiastischen Vorgängen in den Gottesdiensten M.s und sonst in seinen Gemeinden nichts bekannt war. L. c. schreibt Tert.: „Exhibeat M. dei sui dona, aliquos prophetas ... edat aliquem psalmum, aliquam visionem, aliquam orationem, dumtaxat spiritalem, in ecstasi ... probet etiam mihi mulierem apud se prophetasse“ etc., und V, 15 zu I Thess. 5, 19 f: „Incumbit Marcioni exhibere hodie apud ecclesiam suam exinde spiritum dei sui qui non sit extinguendus, et prophetias quae non sint nihil habendae. et si exhibuit quod putat, sciat nos quodcunque illud ad formam spiritalis et propheticae gratiae atque virtutis provocaturos, ... cum nihil tale protulerit et probarit, nos proferemus et spiritum et prophetias creatoris secundum ipsum praedicantes“. — Die Marcionitischen Gemeinden waren also, den Enthusiasmus anlangend, keine Rivalinnen der Montanistischen, und schon M. selbst lebte nicht mehr in der urchristlichen enthusiastischen Stimmung. Sehr
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    ¹ Lob- und Bußgebete sind gemeint. Sündenbekenntnis bei den Marcioniten nach Aphraates III, 6.
    ² M.s Textfassung von Gal. 4, 26: εἰς ἣν ἐπηγγειλάμεθα ἁγίαν ἐκκλησίαν, macht es gewiß, daß auch er bei der Taufe ein verpflichtendes Bekenntnis ablegen ließ und daß in ihm die Kirche erwähnt war. Das ist für die Geschichte des apostolischen Symbols von Wichtigkeit. Doch folgt daraus nicht, daß er auch hier der großen Kirche in Rom vorangegangen ist (s. S. 316* über das Apostolische Symbol und M. und vgl. unten die Mitteilungen zu Apelles). Nach Esnik (S. 379*) wurden die Marcioniten „von der Taufe an verlobt zur Enthaltung vom Fleischessen und von der Ehe“. Es wurde also ein Gelübde abgelegt.


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zu bedauern ist es, daß uns keine Gebete M.s erhalten sind; erst dann würde das Bild seiner Frömmigkeit vollständig sein, wenn wir solche besäßen; sie müssen ganz eigenartig gewesen sein, da Hauptstücke der allgemeinen christlichen Gebete ihnen gefehlt haben, der Lobpreis des Schöpfers, der Dank für seine Gaben und die Zuversicht zu seiner Vorsehung und Weltleitung.
    Was die Organisation der Gemeinden betrifft, so fand M. in den paulinischen Briefen „Bischöfe“ und „Diakonen“ und in der Überlieferung „Presbyter“. Diese Ämter sind in den Marcionitischen Gemeinden rezipiert worden und damit auch der Unterschied von Klerus und Laien ¹, zu welchem der andere Unterschied zwischen Getauften und Katechumenen trat. Fehlen uns auch Zeugnisse, daß M. selbst schon diese Organisation hat gelten lassen, bzw. eingeführt, so ist es doch sehr wahrscheinlich; denn die Zeugnisse für sie beginnen so frühe, als wir irgend erwarten können (s. das nächste Kapitel). Allein andrerseits scheinen alle Unterschiede, die hier wie in den großkirchlichen Gemeinden bestanden, in den Marcionitischen nicht so fest gewesen, bzw. freier behandelt worden zu sein als dort. Hierfür besitzen wir ein urkundliches Zeugnis aus M.s Antithesen (Auslegung von Gal. 6. 6: Κοινωνείτω ὁ κατηχούμενος τὸν λόγον τῷ κατηχοῦντι ἐν πᾶσιν ἀγαθοῖς) bei Origenes (in dem Plagiat des Hieronymus) „M. hunc locum ita interpretatus est, ut putaret fideles et catechumenos simul orare debere et magistrum communicare in oratione discipulis, illo vel maxime elatus, quod sequatur ,in omnibus bonis‘ “. Diese Mitteilung trifft zusammen mit der Bemerkung Tert.s de praescr. 41 in seiner allgemeinen Schilderung der „conversatio haeretica“: „Imprimis quis catechumenus, quis fidelis incertum est; pariter adeunt, pariter audiunt, pariter   o r a n t,   etiam ethnici, si supervenerint; sanctum canibus et porcis margaritas, licet non veras, iactabunt.   s i m p l i c i t a t e m   volunt esse prostrationem disciplinae, cuius penes nos curam lenocinium vocant“.   M.   s t r e b t e   a l s o   n a c h   E i n f a c h h e i t   i n   d e n   O r d n u n g e n,   v e r w a r f   i m   G o t t e s d i e n s t   j e d e   G e h e i m n i s t u e r e i   (d. h.
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    ¹ Beispiele für „Bischöfe“ usw. in den Marcionitischen Kirchen s. im nächsten Kapitel.


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die Anfänge der Arkandisziplin) ¹ und richtete sich gegen hierarchisches Kastenwesen und heilige Weltlichkeit. Ist es nun gewiß, daß die eben angeführten Sätze Tert.s sich auf die Marcioniten beziehen, so kann man schwerlich zweifeln, daß sein weiterer, zwar wohl übertriebener, aber nicht erfundener Bericht ebenfalls auf sie geht, zumal da dieser Bericht wirkliche Gemeinden voraussetzt und nicht Schulen wie die Valentinianischen (l. c.): „Ordinationes eorum temerariae, leves, inconstantes, nunc neophytos collocant, nunc saeculo obstrictos, nunc apostatas nostros .... itaque alius hodie episcopus, cras alius; hodie diaconus, qui cras lector, hodie presbyter, qui cras laicus; nam et laicis sacerdotalia munera iniungunt“ ². Sicher würde man irren, wenn man diese Schilderung wörtlich nimmt; aber zuverlässig wird sein, daß die Funktionen der einzelnen Stände und Ämter nicht scharf geschieden waren, daß M. von jener Amtsgnade nichts wissen wollte, die in verschiedener Art und Stärke jedem einzelnen Amte angeblich anhaftet, und daß gegebenenfalls auch Laien vorübergehend geistliche Funktionen in den Gemeinden übernehmen konnten. Was sonst noch aus der Schilderung Tert.s auf die Marcioniten geht, ist nicht leicht zu ermitteln — wahrscheinlich die Bemerkung: „Ipsae mulieres haereticae quam procaces! quae audeant docere, contendere, exorcismos agere, curationes repromittere, forsitan et tingere“; denn Epiphanius (Haer. 42, 3. 4) berichtet, daß in der Marcionitischen Kirche die Frauen taufen dürfen. Da die Geschlechtlichkeit bei den Erlösten keine Rolle mehr spielen durfte (s. u.), so kann man sich nur wundern, daß M. nicht auch alle Ämter und Funktionen den Frauen zugänglich gemacht hat. Welche Bewandtnis es mit einer dunklen Andeutung Tert.s („sanctiores feminae“ M.s) hat, wissen wir nicht, wie uns ja auch die abgerissene Nachricht, M. habe eine Frau als Wegbereiterin nach Rom vorangeschickt (Hieron., ep. 131), dunkel ist.
    Nicht auf M. allein, sondern auf alle Häretiker bezieht sich die gewiß berechtigte Klage Tert.s (l. c. 42), sie gewönnen ihren
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    ¹ Auch Epiphanius (haer. 42, 3. 4) berichtet, daß bei den Marcioniten die Mysterien unter den Augen der Katechumenen vollzogen werden.
    ² S. auch c. 42: „Nec suis praesidibus reverentiam noverunt“.


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Anhang nicht aus der Heidenbekehrung, sondern aus der Christenverführung.
    Ohne Bedenken wäre die Charakteristik Tert.s (l. c. 43), die Häretiker verkehrten besonders häufig „cum magis, circulatoribus, astrologis, philosophis, curiositati scilicet deditis“ ganz von den Marcioniten abzuwälzen, führe er nicht fort: „Negant deum timendum; itaque libera sunt illis omnia et soluta“, und behauptete er nicht (I, 18): „Et mathematici plurimum Marcionitae, nec hoc erubescentes, de ipsis etiam stellis vivere creatoris“. Man wird daher annehmen müssen, daß sich wirklich einige Marcioniten mit der astronomischen (also wohl auch mit der astrologischen) Wissenschaft beschäftigt haben, und daß sie Tert. deshalb leichtfertig mit den weltförmigen Häretikern zusammengeworfen hat. Daß M. von der Philosophie als einem „leeren Betrug“ nichts wissen wollte, ist bekannt; und ein Freund der Astrologie war er gewiß nicht.
    Auch die   E t h i k   M.s legt hier Protest ein; denn eine weltflüchtigere und schwerere Lebensordnung und -führung hat keine christliche Gemeinschaft vorgeschrieben als die Marcionitische. M. verbot seinen Gläubigen die Ehe ¹ und jeglichen Geschlechtsverkehr ganz und taufte daher nur solche Katechumenen und ließ nur solche zum Abendmahl zu, die das Gelübde der Ehelosigkeit leisteten, bzw. solche Eheleute, die eine vollständige Trennung fortan gelobten ².   E r   s t e l l t e   a l s o   L e b e n   u n d   W a c h s t u m   s e i n e r   G e m e i n d e n   a u s s c h l i e ß l i c h   a u f   d i e   G e w i n n u n g   n e u e r   M i t g l i e d e r;   d e n n   d i e   G l ä u b i g e n   d u r f t e n   s i c h   n i c h t   f o r t-
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    ¹ War die Ehe einmal geschlossen, so respektierte sie M. und hat das Gebot Christi, ihre Unauflöslichkeit betreffend, respektiert; das Verbot des Ehebruchs des Weltschöpfers hat er gelten lassen wie die anderen Hauptstücke der Moral (s. o. S. 111); es blieb ja auch für die Marcionitischen Katechumenen von Wichtigkeit.
    ² S. die Zeugnisse oben S. 277*; vor allem Tert. I, 39: „Non tingitur apud illum caro, nisi virgo, nisi vidua, caelebs, nisi divortio baptisma mercata ... sine dubio ex damnatione coniugis institutio ista constabit ... coniugium accusatur spurcitiae nomine ad destructionem creatoris“. IV, 34: „Quomodo tu nuptias dirimis nec coniungens marem et feminam nec alibi coniunctos ad sacramentum baptismatis et eucharistiae admittens nisi inter se coniuraverint adversus fructum nuptiarum?“


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p f l a n z e n ¹.   Die Ehe ist nicht nur eine schmutzige Schändlichkeit (πορνεία), sondern gebiert auch den Tod (φθορά) ².
    Das Motiv dieser Vorschrift war zunächst das übliche, die Befreiung vom sündigen Fleisch; aber nicht nur trat diese Forderung hier mit einer sonst unerhörten Kräftigkeit des Ekels auf (s. S. 273*. 103 f.), sondern es kam noch ein zweites Motiv dazu: man soll den Bereich des Weltschöpfers nicht vergrößern helfen, sondern man soll ihn einschränken, soweit es in Menschenmöglichkeit liegt; man soll diesen üblen Gott ärgern, ihn reizen, ihm trotzen und ihm dadurch zeigen, daß man nicht mehr in seinem Dienste steht, sondern einem andern Herrn gehört ³. Der entschlossene Verzicht auf die Geschlechtlichkeit ist also bei M. nicht nur ein Protest gegen die Materie und das Fleisch , sondern auch ein Protest gegen den Gott der Welt und des Gesetzes.   E r   b e z e i c h n e t   d e n   g e w o l l t e n   A b f a l l   u n d   A u s t r i t t.
    Aber nicht nur durch die vollkommene geschlechtliche Enthaltung soll man dem Schöpfer trotzen, sondern ebenso durch die strengste Enthaltung in Speise und Trank und durch die Bereitwilligkeit zum Martyrium. „Escarum usum quasi inhonestum criminant“; daher waren nicht nur Fleisch und wahrscheinlich auch Wein  verboten (Fische erlaubt, s. Tert. I, 14;
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    ¹ Freilich wissen wir nicht, wie groß die Zahl der Katechumenen im Verhältnis zu den Gläubigen in den Marcionitischen Gemeinden gewesen ist; man darf vermuten, daß sie stets sehr groß war. Sie durften heiraten, bzw. in der Ehe leben; aber „viderint catechumeni“ sagt Tert. V, 7 im Sinne Marcions.
    ² Die Ehe als φθορά Iren. I, 28, 1: φθορὰ καὶ πορνεία, (Hippol., Refut. X, 19) ist der stärkste Ausdruck der Verachtung für die sich fortzeugende Menschheit, die ohne die Erlösung überhaupt kein Existenzrecht hat.
    ³ Die Zeugnisse für dieses Motiv S. 277*.
     Wo M. es irgend vermochte, hat er in seinen Exegesen die Ermahnung zu vollkommener Keuschheit angebracht.
     Die Marcioniten, welche Esnik (s. S. 379*) kannte, erlaubten den Weingenuß, worüber er sich wundert; im Fihrist heißt es (S. 384*), daß die Marcioniten ihn vermeiden. Da sie das Abendmahl ohne Wein feierten, wird er auch wohl sonst in der Regel vermieden worden sein. — Von ununterbrochenem Fasten bei den Marcioniten spricht der Fihrist (a. a. O.).


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Esnik) ¹, daher wurde nicht nur eine besonders strenge Fastenordnung eingeführt, die sich auch zum Trotz des Gesetzgebers auf den Sabbat bezog (Epiph., Haer. 42, 3), sondern Essen und Trinken überhaupt sowie jede Berührung mit dem Geschaffenen sollten „ad destruenda et contemnenda et abominanda opera creatoris“ auf das geringstmögliche Maß eingeschränkt werden — das ist die „plenior disciplinarum ratio“, die M. zu befolgen vorschrieb, eine Entweltlichung und Entkörperung des Lebens bis zum Äußersten.
    Die so leben,   s i n d   Ü b e r m e n s c h e n   g e w o r d e n;   denn sie betrachten den Menschen in sich als Feind ²; aber irdisch angesehen, stehen sie im äußersten Elend. Sie sollen sich als „Elende und Gehaßte“, ja als „Auswurf“ zusammenschließen ³ und — das Martyrium nicht fliehen, sondern es auf sich nehmen. Sicher ist es nicht zufällig, daß wir von der Zeit des Irenäus ab immer wieder von Marcionitischen Märtyrern hören ; sie müssen in besonders großer Zahl vorhanden gewesen sein, und den Gegnern war es augenscheinlich peinlich, daß sie das nicht übersehen und vertuschen konnten.
    Nur von M.s Askese (Tert., De praescr. 30 höhnisch: „Marcion sanctissimus magister“) berichten seine Gegner ; mit welcher Stärke er das positive Gebot der Liebe verkündet hat, sagen sie uns nicht; aber gewiß hat er es in seinen Gemeinden in Kraft gesetzt, wenn doch die Gottesliebe der Mittelpunkt seiner Frömmig-
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    ¹ Nach Esnik (s. S. 378*) beriefen sich die Marcioniten für die Erlaubnis, Fische zu essen, auf die Erzählung, daß Jesus nach der Auferstehung Fische gegessen habe.
    ² Carmen Pseudotert. adv. Marc. V, 90: „Vetus homo, quem dicitis hostem“.
    ³ M. redete die Seinigen als συνταλαίπωροι und συμμισούμενοι an (IV, 9. 36); daß sie das seien, daran sollten sie ihre Jüngerschaft Christi erkennen: sie   s o l l e n   sich das Elend und den Haß der Welt zuziehen.
     S. Iren. IV, 33, 9; Tert. I, 24; I, 27. Clemens, Strom. IV, 4, 17; der Antimontanist bei Euseb., h. e. V, 16, 21; die Märtyrerakte des Pionius usw., vgl. auch das nächste Kapitel. Es ist wahrscheinlich, daß jene Häretiker, die sich nach Clemens Alex. (Strom. IV, 4, 17) wie die indischen Gymnosophisten in den Tod stürzen, um dem verhaßten Schöpfer zu entgehen, Marcioniten waren. Der Antimontanist sagt, daß sie von allen Häretikern die meisten Märtyrer haben.
     Marcioniten-Cyniker bei Hippolyt, Refut. VII, 29.


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keit war. Ein Zeugnis de silentio besitzen wir in bezug auf die von ihm geübte Feindesliebe: seine Gegner haben kein schmähendes Wort M.s gegen die Kirche, der er einst angehört hat und die er als falsch beurteilte, ihm aufzurücken vermocht, so scharf er den Weltschöpfer und die Pseudoapostel auch bekämpft hat.
    Von Kommunismus in den Marcionitischen Gemeinden hören wir nichts; aber da die Seligpreisungen nach Tert. die „ordinariae sententiae“ M.s waren, „per quas proprietatem doctrinae suae inducit“, und Esnik (s. S. 378*) bestätigt, daß M. den Finger darauf gelegt hat, daß nach M. der Weltschöpfer den Reichen Glück verheiße, Christus aber den Armen, so muß er den Reichtum noch ungünstiger beurteilt und in seinen Gemeinden behandelt haben, als dies in der großen Kirche geschah. Vielleicht ist auch das große Geldgeschenk, welches er der römischen Kirche schon vor dem Bruche darbrachte, von hier aus zu verstehen.

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    Marcions Organisation seiner Kirche ist durch diese Darlegungen noch nicht erschöpft, ja der entscheidende Punkt ist noch nicht getroffen. M. begann mit einer geschichtlichen Kritik aller christlichen Überlieferung; man darf sagen, er machte zunächst vollständig tabula rasa, indem er sowohl das AT als auch die gesamte vulgäre apostolische Tradition verwarf. Dann begann er einen neuen Bau aufzuführen und führte ihn wirklich, freilich mit den größten Gewaltsamkeiten, durch. Erstlich, er fand den Zustand unerträglich, daß die Christenheit als littera scripta nur ein Buch besaß, das ihr größter Apostel selbst als tötenden Buchstaben bezeichnet hatte, und neben ihm nur mündliche Traditionen und Bücher von noch ganz unsicherer Autorität; er schuf daher eine Urkunde von absoluter Autorität aus elf Schriften und gründete auf sie die Christenheit. Diese Urkunde ist als solche ganz und gar sein Werk;   e r   i s t   d e r   S c h ö p f e r   d e r   c h r i s t l i c h e n   h e i l i g e n   S c h r i f t.   Zweitens, an die Stelle des AT setzte er ein kritisches Werk, welches den Gegensatz der neuen Urkunde und dieses Judenbuches zum Ausdruck brachte (die Antithesen) und neben jener „in summo instrumento“ gehalten und von allen Gläubigen beherzigt werden sollte; im Schatten der Antithesen das AT noch zu lesen, verbot er nicht; denn es enthält wahre, also lehrreiche, freilich trübselige


152 Die heilige Kirche der Erlösten und ihre Lebensordnung

Geschichte. Bevor sich also die große Christenheit in Nachfolge Marcions das Neue Testament schuf und so zwei angeblich   h a r m o n i s c h e   Testamente besaß, kannte die Marcionitische Kirche bereits zwei   f e i n d l i c h e   schriftliche Testamente. Drittens, eine formulierte Lehre hat M. seiner Kirche nicht gegeben — alle philosophische Dogmatik und alles Schulwesen waren ihm augenscheinlich verdächtig —, noch weniger hat er Propheten und Enthusiasten in ihr erweckt, deren Gedanken die Kirche leiten sollten, sondern er hat in den „Antithesen“   l e d i g l i c h   d u r c h   E x e g e s e n   d e s   B i b e l w o r t s   den Inhalt der Urkunde zu verdeutlichen gesucht; die christliche Lehre soll nichts anderes sein als biblische Theologie, und er zweifelte nicht, daß diese in allen Hauptpunkten nur   e i n e   Auffassung zulasse und vor jedem Irrtum behüte. Viertens, durch den Glauben an den in Christus erschienenen fremden Gott als den Erlöser, durch den Abscheu gegen den Schöpfer, durch die Unterwerfung unter die neue Urkunde, durch eine einfache, aber bestimmte lokale Organisation und Gottesdienstesordnung und durch die strengste Lebensführung band er die Gläubigen aufs engste zusammen und konnte gewiß sein, daß diese Kräfte stark genug seien, um ihnen inmitten der allgemeinen Konfusion und Unsicherheit über das, was christlich ist, einen festen und einheitlichen Charakter aufzuprägen. In allem übrigen konnte er in seinen Gemeinden größere Freiheit walten lassen — in Lehrfragen, in den Verfassungsordnungen und im Kultus —, als die großkirchlichen Gemeinden zuließen.
    Das ist die feste Grundlage der Organisation, die M. seiner Kirche gegeben hat; sie erweist ihn als einen wahrhaft genialen Organisator, der auch als solcher die große Christenheit durch seine Konzeptionen beeinflußt hat. Er brachte eine einheitliche, das Reich umspannende Kirche zustande durch sein persönliches Wirken und durch einfache Organisationsmittel; die Kirche der Bischöfe hat mehrere Menschenalter gebraucht, bis sie soweit kam — erst die Ausbildung des Synoden-Instituts hat sie das Ziel erreichen lassen; M. hat dieses Mittel, wie es scheint, nicht nötig gehabt.

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Letzte Änderung am 19. Dezember 2017