ADOLF
VON HARNACK
MARCION: DAS
EVANGELIUM VOM FREMDEN GOTT
Kapitel VII, Seite 143—152
143
VII. Die heilige Kirche der Erlösten und ihre
Lebensordnung (Kultus, Organisation und Ethik).
Die
Bedeutung der Kirche hat M. von Paulus gelernt; man darf ohne
weiteres die originelle und große Konzeption des Apostels als von
ihm anerkannt und wertgeschätzt ansehen. Der deutlichste Beweis
hierfür ist, daß er Ephes. 5, 22—32 beibehalten hat. Diese
Stelle mußte ihm an sich in hohem Grade unsympathisch, ja
anstößig sein; denn sowohl das Verhältnis von Mann und
Frau als auch das des Menschen zu seinem Fleisch mußten ihn
anwidern. Trotzdem hat er die Ausführungen (nach einer Korrektur)
nicht getilgt, weil er keine andere Stelle in den Paulinischen Briefen
fand, die die enge Zusammengehörigkeit der Kirche mit Christus so
deutlich machte: Christus das Haupt der Kirche; Christus die Kirche
innig liebend und hegend ¹; der in der Kirche Stehende
verläßt Vater und Mutter und wächst mit Christus zu
einer Einheit zusammen. Wie M. über die Kirche dachte, geht
noch aus einer zweiten Stelle hervor; Gal. 4, 26 hat er (oder ein
Schüler?) durch Änderung und Zusatz so gefaßt,
daß er gegenüber der Veranstaltung des Weltschöpfers,
die auf die Synagoge abzweckt, die überschwenglich große
Veranstaltung des guten Gottes εἰς ἣν ἐπηγγειλάμεθα ἁ γ ί α
ν ἐ κ κ λ η σ ί α ν,
ἥτις ἐστιν μήτηρ
ἡμῶν, abzwecken läßt. Die Kirche ist also die durch das
Erlösungswerk hervorgebrachte Schöpfung Gottes, sie ist
heilig (gewiß im Sinne des Paulus), und sie ist die Mutter der
Erlösten. Widerwillig haben auch die Gegner anerkannt, daß
M. „Kirchen“ hat und nicht nur Schulen oder formlose
Gemeinschaften ².
—————
¹ Nach Ephraem nannten die Marcioniten die Kirche die Braut
Christi.
² Tert. IV, 5: „Habet plane et evangelium Marcionis
ecclesias, sed
suas, tam posteras quam adulteras, quarum si censum requiras, facilius
apostaticum invenias quam apostolicum, Marcione scilicet conditore vel
aliquo de Marcionis examine. faciunt favos et vespae, faciunt ecclesias
et Marcionitae“.
144
Die
heilige Kirche der Erlösten und ihre Lebensordnung
In dieser
Kirche wurde getauft und das Abendmahl gehalten wie bei den anderen
Christen. Der Taufritus war auch kein anderer; sonst hätte die
Marcionitische Taufe in Rom nicht als gültig angesehen werden
können (vgl. Cypr., ep. 73, 4; 74, 7; übrigens bestätigt
die Gleichartigkeit des Vollzugs ausdrücklich Augustin, De bapt.
c. Donat. III, 15) ¹. Auch das Abendmahl vollzog,
sich in der überlieferten Weise, jedoch mit Wasser neben dem Brot;
aber das findet sich auch sonst häufiger in jener Zeit ².
Auch andere Ritualien fehlten nicht; s. Tert. I, 14: „Ille quidem
(der
Christus M.s) usque nunc nec aquam reprobavit creatoris, qua suos
abluit ³, nec oleum, quo suos unguit ,
nec mellis et lactis societatem, qua suos infantat, nec panem, quo
ipsum corpus suum repraesentat, etiam in sacramentis propriis egens
mendicitatibus creatoris“ . Dazu I, 23:
„Non putem impudentiorem quam qui in aliena aqua alii deo tingitur, ad
alienum caelum alii deo expanditur, in aliena terra alii deo
—————
¹ Über die Taufe Verstorbener und über die Wiederholung
der Taufe s. im nächsten Kapitel.
²
Vgl. m e i n e Abhandlung
über Brot und Wasser beim Abendmahl in den „Texten u.
Untersuch.“ Bd. VII, H. 2 (1891). Der Ersatz des Weins durch Wasser
wird für M. von Epiphanius und Timotheus ausdrücklich
bezeugt, s. S. 365*, 381*. Die Worte zum biblischen Text („hoc est
corpus meum“): „i d e s t f i g u r
a
c o r p o r i s m e i“ (Tert. IV, 40), die oft als
Tertullianische
angeführt werden, gehören M. an; denn Tert.
fährt fort: „figura autem non fuisset, nisi veritatis esset
corpus; ceterum vacua res, quod est phantasma, figuram capere non
posset“. M. hat also das Einsetzungswort figürlich
verstanden. Die weiteren Worte aber: „aut si propterea panem corpus
sibi finxit quia corporis carebat veritate, ergo panem debuit tradere
pro nobis“ richten sich schwerlich gegen eine Behauptung M.s. Sehr
beachtenswert ist, daß M. im Vater-Unser τὸν ἄρτον ἡμῶν in
τὸν ἄρτον σου verwandelt hat. Also wollte er die Bitte auf das Brot im
Abendmahl bezogen wissen (ebenso viele Kirchenväter nach ihm ohne
Textänderung); denn die Bitte um die Leibesnahrung erschien ihm
als „frivola“.
³
Vgl. I, 24: „Et caro tingitur apud Marcionem“. I, 28: „Cui rei baptisma
quoque apud Marcionem exigitur?“
B o u s s e t, Hauptprobleme der
Gnosis S. 297, bemerkt lediglich auf Grund dieser Worte: „Eine
Öltaufe kennen die Marcioniten“; allein dann kennen auch die
Katholiken eine „Öltaufe“.
Man beachte daß „Wein“ fehlt.
145
Die
heilige Kirche der Erlösten und ihre Lebensordnung
sternitur
¹, super
alienum panem alii deo gratiarum actionibus fungitur, de alienis bonis
ob alium deum nomine eleemosynae et dilectionis operatur“. Generell
heißt es III, 22: „Gloriae relatio et benedictio et laus et hymni
et signaculum frontium et ecclesiarum sacramenta et munditiae
sacrificiorum in te (scil. in deinen Kirchen) quoque deprehenduntur“.
Hiernach können sich die Marcionitischen Gottesdienste und h.
Handlungen nicht wesentlich von denen der großen Kirche
unterschieden haben ². „Korinthisch“ kann es in ihnen nicht
zugegangen sein; denn wenn auch Marcion behauptet haben mag, das
Zungenreden sei eine dem neuen Gott eigentümliche charismatische
Form (zu I Kor. 12, 10 bei Tert. V, 8; ganz sicher ist das nicht),
so
beweisen doch mehrere Stellen bei Tert., daß von
enthusiastischen Vorgängen in den Gottesdiensten M.s und
sonst in seinen Gemeinden nichts bekannt war. L. c. schreibt
Tert.: „Exhibeat M. dei sui dona, aliquos prophetas ... edat
aliquem psalmum, aliquam visionem, aliquam orationem, dumtaxat
spiritalem, in ecstasi ... probet etiam mihi mulierem apud se
prophetasse“ etc., und V, 15 zu I Thess. 5, 19 f: „Incumbit Marcioni
exhibere hodie apud ecclesiam suam exinde spiritum dei sui qui non sit
extinguendus, et prophetias quae non sint nihil habendae. et si
exhibuit quod putat, sciat nos quodcunque illud ad formam spiritalis et
propheticae gratiae atque virtutis provocaturos, ... cum nihil tale
protulerit et probarit, nos proferemus et spiritum et prophetias
creatoris secundum ipsum praedicantes“. — Die Marcionitischen Gemeinden
waren also, den Enthusiasmus anlangend, keine Rivalinnen der
Montanistischen, und schon M. selbst lebte nicht mehr in der
urchristlichen enthusiastischen Stimmung. Sehr
—————
¹ Lob- und Bußgebete sind gemeint. Sündenbekenntnis bei
den Marcioniten nach Aphraates III, 6.
² M.s Textfassung von Gal. 4, 26: εἰς ἣν ἐπηγγειλάμεθα ἁγίαν
ἐκκλησίαν, macht es gewiß, daß auch er bei der Taufe ein
verpflichtendes Bekenntnis ablegen ließ und daß in ihm die
Kirche erwähnt war. Das ist für die Geschichte des
apostolischen Symbols von Wichtigkeit. Doch folgt daraus nicht,
daß er auch hier der großen Kirche in Rom vorangegangen ist
(s. S. 316* über das Apostolische Symbol und M. und vgl.
unten die Mitteilungen zu Apelles). Nach Esnik (S. 379*) wurden die
Marcioniten „von der Taufe an verlobt zur Enthaltung vom Fleischessen
und von der Ehe“. Es wurde also ein Gelübde abgelegt.
146
Die
heilige Kirche der Erlösten und ihre Lebensordnung
zu
bedauern ist es, daß
uns keine Gebete M.s erhalten sind; erst dann würde das Bild
seiner Frömmigkeit vollständig sein, wenn wir solche
besäßen; sie müssen ganz eigenartig gewesen sein, da
Hauptstücke der allgemeinen christlichen Gebete ihnen gefehlt
haben, der Lobpreis des Schöpfers, der Dank für seine Gaben
und die Zuversicht zu seiner Vorsehung und Weltleitung.
Was
die Organisation der Gemeinden betrifft, so fand M. in den
paulinischen Briefen „Bischöfe“ und „Diakonen“ und in der
Überlieferung „Presbyter“. Diese Ämter sind in den
Marcionitischen Gemeinden rezipiert worden und damit auch der
Unterschied von Klerus und Laien ¹, zu welchem der andere
Unterschied zwischen Getauften und Katechumenen trat. Fehlen uns auch
Zeugnisse, daß M. selbst schon diese Organisation hat gelten
lassen, bzw. eingeführt, so ist es doch sehr wahrscheinlich; denn
die Zeugnisse für sie beginnen so frühe, als wir irgend
erwarten können (s. das nächste
Kapitel). Allein andrerseits
scheinen alle Unterschiede, die hier wie in den großkirchlichen
Gemeinden bestanden, in den Marcionitischen nicht so fest gewesen, bzw.
freier behandelt worden zu sein als dort. Hierfür besitzen wir ein
urkundliches Zeugnis aus M.s Antithesen (Auslegung von Gal. 6. 6:
Κοινωνείτω ὁ κατηχούμενος τὸν λόγον τῷ κατηχοῦντι ἐν πᾶσιν ἀγαθοῖς) bei
Origenes (in dem Plagiat des Hieronymus) „M. hunc locum ita
interpretatus est, ut putaret fideles et catechumenos simul orare
debere et magistrum communicare in oratione discipulis, illo vel maxime
elatus, quod sequatur ,in omnibus bonis‘ “. Diese Mitteilung trifft
zusammen mit der Bemerkung Tert.s de praescr. 41 in seiner
allgemeinen Schilderung der „conversatio haeretica“: „Imprimis quis
catechumenus, quis fidelis incertum est; pariter adeunt, pariter
audiunt, pariter o r a n t, etiam ethnici, si
supervenerint; sanctum
canibus et porcis margaritas, licet non veras, iactabunt. s
i m p l i c i t a t e m
volunt esse prostrationem disciplinae, cuius penes nos curam lenocinium
vocant“. M. s t r e b t e a l s
o n a c h E i n f a c h h e i t i
n d e n O r d n u n g e n,
v e r w a r f i m G o t t e s d i e n s
t j e d e G e h e i m n i s t u e r e i
(d. h.
—————
¹ Beispiele für „Bischöfe“ usw. in den Marcionitischen
Kirchen s. im nächsten Kapitel.
147
Die
heilige Kirche der Erlösten und ihre Lebensordnung
die
Anfänge der
Arkandisziplin) ¹ und richtete sich gegen hierarchisches
Kastenwesen und heilige Weltlichkeit. Ist es nun gewiß, daß
die eben angeführten Sätze Tert.s sich auf die
Marcioniten beziehen, so kann man schwerlich zweifeln, daß sein
weiterer, zwar wohl übertriebener, aber nicht erfundener Bericht
ebenfalls auf sie geht, zumal da dieser Bericht wirkliche Gemeinden
voraussetzt und nicht Schulen wie die Valentinianischen (l. c.):
„Ordinationes eorum temerariae, leves, inconstantes, nunc neophytos
collocant, nunc saeculo obstrictos, nunc apostatas nostros .... itaque
alius hodie episcopus, cras alius; hodie diaconus, qui cras lector,
hodie presbyter, qui cras laicus; nam et laicis sacerdotalia munera
iniungunt“ ². Sicher würde man irren, wenn man diese
Schilderung wörtlich nimmt; aber zuverlässig wird sein,
daß die Funktionen der einzelnen Stände und Ämter nicht
scharf geschieden waren, daß M. von jener Amtsgnade nichts
wissen wollte, die in verschiedener Art und Stärke jedem einzelnen
Amte angeblich anhaftet, und daß gegebenenfalls auch Laien
vorübergehend geistliche Funktionen in den Gemeinden
übernehmen konnten. Was sonst noch aus der Schilderung Tert.s
auf die Marcioniten geht, ist nicht leicht zu ermitteln —
wahrscheinlich die Bemerkung: „Ipsae mulieres haereticae quam procaces!
quae audeant docere, contendere, exorcismos agere, curationes
repromittere, forsitan et tingere“; denn Epiphanius (Haer. 42, 3. 4)
berichtet, daß in der Marcionitischen Kirche die Frauen taufen
dürfen. Da die Geschlechtlichkeit bei den Erlösten keine
Rolle mehr spielen durfte (s. u.), so kann man sich nur wundern,
daß M. nicht auch alle Ämter und Funktionen den Frauen
zugänglich gemacht hat. Welche Bewandtnis es mit einer dunklen
Andeutung Tert.s („sanctiores feminae“ M.s) hat, wissen wir
nicht, wie uns ja auch die abgerissene Nachricht, M. habe eine
Frau als Wegbereiterin nach Rom vorangeschickt (Hieron., ep. 131),
dunkel ist.
Nicht auf M. allein, sondern auf alle
Häretiker bezieht sich die gewiß berechtigte Klage
Tert.s (l. c. 42), sie gewönnen ihren
—————
¹ Auch Epiphanius (haer. 42, 3. 4) berichtet, daß bei den
Marcioniten die Mysterien unter den Augen der Katechumenen vollzogen
werden.
² S. auch c. 42: „Nec suis praesidibus
reverentiam noverunt“.
148
Die
heilige Kirche der Erlösten und ihre Lebensordnung
Anhang
nicht aus der
Heidenbekehrung, sondern aus der Christenverführung.
Ohne Bedenken wäre die Charakteristik
Tert.s (l. c. 43), die Häretiker verkehrten besonders
häufig „cum magis, circulatoribus, astrologis, philosophis,
curiositati scilicet deditis“ ganz von den Marcioniten abzuwälzen,
führe er nicht fort: „Negant deum timendum; itaque libera sunt
illis omnia et soluta“, und behauptete er nicht (I, 18): „Et
mathematici plurimum Marcionitae, nec hoc erubescentes, de ipsis etiam
stellis vivere creatoris“. Man wird daher annehmen müssen,
daß sich wirklich einige Marcioniten mit der astronomischen (also
wohl auch mit der astrologischen) Wissenschaft beschäftigt haben,
und daß sie Tert. deshalb leichtfertig mit den
weltförmigen Häretikern zusammengeworfen hat. Daß
M. von der Philosophie als einem „leeren Betrug“ nichts wissen
wollte, ist bekannt; und ein Freund der Astrologie war er gewiß
nicht.
Auch die E t h i k
M.s legt hier Protest ein; denn eine weltflüchtigere und
schwerere Lebensordnung und -führung hat keine christliche
Gemeinschaft vorgeschrieben als die Marcionitische. M. verbot
seinen Gläubigen die Ehe ¹ und jeglichen Geschlechtsverkehr
ganz und taufte daher nur solche Katechumenen und ließ nur solche
zum Abendmahl zu, die das Gelübde der Ehelosigkeit leisteten, bzw.
solche Eheleute, die eine vollständige Trennung fortan gelobten
². E r s t e l l t e a l s
o L e b e n u n d
W a c h s t u m s e i n e r G e m e i n d e
n a u s s c h l i e ß l i c h a u
f d i e G e w i n n u n g n e u e
r
M i t g l i e d e r; d e n n d i e G l
ä u b i g e n d u r f t e n s i c
h n i c h t f o r t-
—————
¹ War die Ehe einmal geschlossen, so respektierte sie M. und
hat das Gebot Christi, ihre Unauflöslichkeit betreffend,
respektiert; das Verbot des Ehebruchs des Weltschöpfers hat er
gelten lassen wie die anderen Hauptstücke der Moral (s. o. S. 111); es blieb ja auch für die
Marcionitischen Katechumenen von Wichtigkeit.
² S. die Zeugnisse oben S. 277*; vor allem
Tert. I, 39: „Non tingitur apud illum caro, nisi virgo, nisi
vidua,
caelebs, nisi divortio baptisma mercata ... sine dubio ex damnatione
coniugis institutio ista constabit ... coniugium accusatur spurcitiae
nomine ad destructionem creatoris“. IV, 34: „Quomodo tu nuptias dirimis
nec coniungens marem et feminam nec alibi coniunctos ad sacramentum
baptismatis et eucharistiae admittens nisi inter se coniuraverint
adversus fructum nuptiarum?“
149
Die
heilige Kirche der Erlösten und ihre Lebensordnung
p f l a n z e n ¹. Die Ehe ist
nicht
nur eine schmutzige Schändlichkeit (πορνεία), sondern gebiert auch
den Tod (φθορά) ².
Das
Motiv dieser Vorschrift war zunächst das übliche, die
Befreiung vom sündigen Fleisch; aber nicht nur trat diese
Forderung hier mit einer sonst unerhörten Kräftigkeit des
Ekels auf (s. S. 273*. 103
f.), sondern es kam
noch ein zweites Motiv dazu: man soll den Bereich des
Weltschöpfers nicht vergrößern helfen, sondern man soll
ihn einschränken, soweit es in Menschenmöglichkeit liegt; man
soll diesen üblen Gott ärgern, ihn reizen, ihm trotzen und
ihm dadurch zeigen, daß man nicht mehr in seinem Dienste steht,
sondern einem andern Herrn gehört ³. Der entschlossene
Verzicht auf die Geschlechtlichkeit ist also bei M. nicht nur ein
Protest gegen die Materie und das Fleisch ,
sondern auch ein Protest gegen den Gott der Welt und des
Gesetzes. E r b e z e i c h n e t d
e n g e w o l l t e n A b f a l l u
n d
A u s t r i t t.
Aber
nicht nur durch die vollkommene geschlechtliche Enthaltung soll man dem
Schöpfer trotzen, sondern ebenso durch die strengste Enthaltung in
Speise und Trank und durch die Bereitwilligkeit zum Martyrium. „Escarum
usum quasi inhonestum criminant“; daher waren nicht nur Fleisch und
wahrscheinlich auch Wein verboten (Fische
erlaubt, s. Tert. I, 14;
—————
¹ Freilich wissen wir nicht, wie groß die Zahl der
Katechumenen im Verhältnis zu den Gläubigen in den
Marcionitischen Gemeinden gewesen ist; man darf vermuten, daß sie
stets sehr groß war. Sie durften heiraten, bzw. in der Ehe leben;
aber „viderint catechumeni“ sagt Tert. V, 7 im Sinne Marcions.
²
Die Ehe als φθορά Iren. I, 28, 1: φθορὰ καὶ πορνεία, (Hippol.,
Refut.
X, 19) ist der stärkste Ausdruck der Verachtung für die sich
fortzeugende Menschheit, die ohne die Erlösung überhaupt kein
Existenzrecht hat.
³
Die Zeugnisse für dieses Motiv S. 277*.
Wo M. es irgend vermochte, hat er in seinen Exegesen die Ermahnung
zu vollkommener Keuschheit angebracht.
Die Marcioniten, welche Esnik (s. S. 379*)
kannte, erlaubten den Weingenuß, worüber er sich wundert; im
Fihrist heißt es (S. 384*), daß die Marcioniten ihn
vermeiden. Da sie das Abendmahl ohne Wein feierten, wird er auch wohl
sonst in der Regel vermieden worden sein. — Von ununterbrochenem Fasten
bei den Marcioniten spricht der Fihrist (a. a. O.).
150
Die
heilige Kirche der Erlösten und ihre Lebensordnung
Esnik)
¹, daher wurde
nicht nur eine besonders strenge Fastenordnung eingeführt, die
sich auch zum Trotz des Gesetzgebers auf den Sabbat bezog (Epiph.,
Haer. 42, 3), sondern Essen und Trinken überhaupt sowie jede
Berührung mit dem Geschaffenen sollten „ad destruenda et
contemnenda et abominanda opera creatoris“ auf das
geringstmögliche Maß eingeschränkt werden — das ist die
„plenior disciplinarum ratio“, die M. zu befolgen vorschrieb, eine
Entweltlichung und Entkörperung des Lebens bis zum
Äußersten.
Die so leben, s i n d
Ü b e r m e n s c h e n g e w o r d e n; denn
sie betrachten den Menschen in
sich als Feind ²; aber irdisch angesehen, stehen sie im
äußersten Elend. Sie sollen sich als „Elende und
Gehaßte“, ja als „Auswurf“ zusammenschließen ³ und —
das Martyrium nicht fliehen, sondern es auf sich nehmen. Sicher ist es
nicht zufällig, daß wir von der Zeit des Irenäus ab
immer wieder von Marcionitischen Märtyrern hören ;
sie müssen in besonders großer Zahl vorhanden gewesen sein,
und den Gegnern war es augenscheinlich peinlich, daß sie das
nicht übersehen und vertuschen konnten.
Nur von M.s Askese (Tert., De
praescr. 30
höhnisch: „Marcion sanctissimus magister“) berichten seine Gegner
;
mit welcher Stärke er das positive Gebot der Liebe verkündet
hat, sagen sie uns nicht; aber gewiß hat er es in seinen
Gemeinden in Kraft gesetzt, wenn doch die Gottesliebe der Mittelpunkt
seiner Frömmig-
—————
¹ Nach Esnik (s. S. 378*) beriefen sich die Marcioniten für
die Erlaubnis, Fische zu essen, auf die Erzählung, daß Jesus
nach der Auferstehung Fische gegessen habe.
²
Carmen Pseudotert. adv. Marc. V, 90: „Vetus homo, quem
dicitis hostem“.
³
M. redete die Seinigen als συνταλαίπωροι und συμμισούμενοι an (IV,
9. 36); daß sie das seien, daran sollten sie ihre
Jüngerschaft Christi erkennen: sie s o l l e n
sich das Elend und den
Haß der Welt zuziehen.
S. Iren. IV, 33, 9; Tert. I, 24; I, 27. Clemens, Strom.
IV, 4,
17;
der Antimontanist bei Euseb., h. e. V, 16, 21; die
Märtyrerakte des Pionius usw., vgl. auch das nächste Kapitel.
Es ist wahrscheinlich, daß jene Häretiker, die sich nach
Clemens Alex. (Strom. IV, 4, 17) wie die indischen Gymnosophisten in
den Tod
stürzen, um dem verhaßten Schöpfer zu entgehen,
Marcioniten waren. Der Antimontanist sagt, daß sie von allen
Häretikern die meisten Märtyrer haben.
Marcioniten-Cyniker bei Hippolyt, Refut.
VII, 29.
151
Die
heilige Kirche der Erlösten und ihre Lebensordnung
keit
war. Ein Zeugnis de
silentio besitzen wir in bezug auf die von ihm geübte
Feindesliebe: seine Gegner haben kein schmähendes Wort M.s
gegen die Kirche, der er einst angehört hat und die er als falsch
beurteilte, ihm aufzurücken vermocht, so scharf er den
Weltschöpfer und die Pseudoapostel auch bekämpft hat.
Von Kommunismus in den Marcionitischen Gemeinden
hören wir nichts; aber da die Seligpreisungen nach Tert. die
„ordinariae sententiae“ M.s waren, „per quas proprietatem
doctrinae suae inducit“, und Esnik (s. S. 378*) bestätigt,
daß M. den Finger darauf gelegt hat, daß nach M.
der Weltschöpfer den Reichen Glück verheiße, Christus
aber den Armen, so muß er den Reichtum noch ungünstiger
beurteilt und in seinen Gemeinden behandelt haben, als dies in der
großen Kirche geschah. Vielleicht ist auch das große
Geldgeschenk, welches er der römischen Kirche schon vor dem Bruche
darbrachte, von hier aus zu verstehen.
—————
Marcions Organisation seiner Kirche ist durch diese
Darlegungen noch nicht erschöpft, ja der entscheidende Punkt ist
noch nicht getroffen. M. begann mit einer geschichtlichen Kritik
aller christlichen Überlieferung; man darf sagen, er machte
zunächst vollständig tabula rasa, indem er sowohl das AT als
auch die gesamte vulgäre apostolische Tradition verwarf. Dann
begann er einen neuen Bau aufzuführen und führte ihn
wirklich, freilich mit den größten Gewaltsamkeiten, durch.
Erstlich, er fand den Zustand unerträglich, daß die
Christenheit als littera scripta nur ein Buch besaß, das ihr
größter Apostel selbst als tötenden Buchstaben
bezeichnet hatte, und neben ihm nur mündliche Traditionen und
Bücher von noch ganz unsicherer Autorität; er schuf daher
eine Urkunde von absoluter Autorität aus elf Schriften und
gründete auf sie die Christenheit. Diese Urkunde ist als solche
ganz und gar sein Werk; e r i s t d
e r
S c h ö p f e r d e r c h r i s t l i c h
e n h e i l i g e n S c h r i f t.
Zweitens, an
die Stelle des AT setzte er ein kritisches Werk, welches den Gegensatz
der neuen Urkunde und dieses Judenbuches zum Ausdruck brachte (die
Antithesen) und neben jener „in summo instrumento“ gehalten und von
allen Gläubigen beherzigt werden sollte; im Schatten der
Antithesen das AT noch zu lesen, verbot er nicht; denn es enthält
wahre, also lehrreiche, freilich trübselige
152
Die
heilige Kirche der Erlösten und ihre Lebensordnung
Geschichte.
Bevor sich also
die große Christenheit in Nachfolge Marcions das Neue Testament
schuf und so zwei angeblich h a r m o n i s c h e
Testamente besaß, kannte die Marcionitische Kirche bereits
zwei f e i n d l i c h e schriftliche Testamente.
Drittens, eine formulierte Lehre hat M. seiner Kirche nicht
gegeben — alle philosophische Dogmatik und alles Schulwesen waren ihm
augenscheinlich verdächtig —, noch weniger hat er Propheten und
Enthusiasten in ihr erweckt, deren Gedanken die Kirche leiten sollten,
sondern er hat in den „Antithesen“ l e d i g l i c
h
d u r c h E x e g e s e n d e s B i b e
l w o r t s den Inhalt der Urkunde zu
verdeutlichen gesucht; die christliche Lehre soll nichts anderes sein
als biblische Theologie, und er zweifelte nicht, daß diese in
allen Hauptpunkten nur e i n e
Auffassung zulasse und vor jedem Irrtum behüte. Viertens, durch
den Glauben an den in Christus erschienenen fremden Gott als den
Erlöser, durch den Abscheu gegen den Schöpfer, durch die
Unterwerfung unter die neue Urkunde, durch eine einfache, aber
bestimmte lokale Organisation und Gottesdienstesordnung und durch die
strengste Lebensführung band er die Gläubigen aufs engste
zusammen und konnte gewiß sein, daß diese Kräfte stark
genug seien, um ihnen inmitten der allgemeinen Konfusion und
Unsicherheit über das, was christlich ist, einen festen und
einheitlichen Charakter aufzuprägen. In allem übrigen konnte
er in seinen Gemeinden größere Freiheit walten lassen — in
Lehrfragen, in den Verfassungsordnungen und im Kultus —, als die
großkirchlichen Gemeinden zuließen.
Das ist die feste Grundlage der Organisation, die
M. seiner Kirche gegeben hat; sie erweist ihn als einen wahrhaft
genialen Organisator, der auch als solcher die große Christenheit
durch seine Konzeptionen beeinflußt hat. Er brachte eine
einheitliche, das Reich umspannende Kirche zustande durch sein
persönliches Wirken und durch einfache Organisationsmittel; die
Kirche der Bischöfe hat mehrere Menschenalter gebraucht, bis sie
soweit kam — erst die Ausbildung des Synoden-Instituts hat sie das Ziel
erreichen lassen; M. hat dieses Mittel, wie es scheint, nicht
nötig gehabt.
—————
Letzte
Änderung am 19. Dezember 2017