ADOLF VON HARNACK

MARCION: DAS EVANGELIUM VOM FREMDEN GOTT
Kapitel VI, Seite 93—143

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VI. Das Christentum Marcions und seine Verkündigung.

    Wer zu lesen versteht, der kann aus den Resten der Antithesen und des Kanons alles ablesen, was M. gewollt und verkündigt hat; allein es ist doch geboten, das Überlieferte zu ordnen und zu durchleuchten ¹. Für die Darstellung der Verkündigung Marcions sind folgende vorläufige Beobachtungen von Wichtigkeit: (1) daß von einem Lehrsystem oder etwas dem Ähnlichen, was er aufgestellt und veröffentlicht hat, nichts bekannt ist, daß sich seine Schüler auf Lehrsätze von ihm in begrifflicher Form niemals berufen haben und daß alles, was er schriftlich hinterlassen hat, in den „Antithesen“, bzw. in den hier gegebenen Exegesen von Bibelstellen niedergelegt war, (2) daß er sich niemals auf den „Geist“ oder eine besondere, ihm zuteil gewordene Offenbarung berufen hat, (3) daß er, die Quellen seiner Lehre anlangend, alles „Apokryphe“ abgelehnt und sich mit strenger Ausschließlichkeit an das Evangelium und den Apostolos, dazu auch an das AT gehalten hat ², (4) daß er die Herbeiziehung irgendwelcher Mysterienweisheit und jeglicher „Philosophie“ abgelehnt hat da er sie als „leeren Betrug“ beurteilte, (5) daß er die allegorische und typologische Erklärung der Texte grundsätzlich verworfen hat ³, (6) daß sich in seiner Kirche sofort verschiedene Prinzipienlehren entwickelt haben, ohne daß diese Differenzierung — Apelles ausgenommen — zu Spaltungen der Kirche führten.
    Marcions Verkündigung des Christentums will also nichts anderes sein als   b i b l i s c h e   T h e o l o g i e,   d. h. als Religionslehre, die sich positiv ausschließlich auf das   B u c h   gründet, welches das Evangelium und die Paulusbriefe umfaßt, negativ auf das andere, auch   t a t s ä c h l i c h   richtige   B u c h,   das AT. Beide Bücher wollen als ψιλαὶ γραφαί verstanden sein,
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    ¹ Es ist dabei nicht beabsichtigt, auf alle Einzelheiten einzugehen; in bezug auf zahlreiche Details genügt es, sie in den „Antithesen“ gelesen zu haben.
    ² Ob letzterem gegenüber   r e i n   antithetisch, wird zu untersuchen sein.
    ³ Einige notgedrungene Ausnahmen wird man im folgenden finden.


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d. h. ihr Inhalt liegt vollständig in ihrem Buchstaben beschlossen.   M a r c i o n s   C h r i s t e n t u m — die ξένη γνῶσις, wie Clemens sie nennt — s t e l l t   s i c h   a l s   e x k l u s i v e   B u c h r e l i g i o n   d a r.   Als erster in der Christenheit stützt er sich auf   z w e i   große Buchsammlungen; aber sie gehören nicht zusammen, sondern die zweite stößt die erste ab.

1. Die Grundlegung.

    Die Darstellung der christlichen Verkündigung M.s hat an das oben im III. Kapitel Ausgeführte anzuknüpfen. Daß die Lehre von den beiden Göttern, d. h. die Unterscheidung des Gesetzes und des Evangeliums, angeschlossen an „den schlechten und guten Baum“ — „famosissima quaestio Marcionitarum“ —, das Grundschema der Predigt bildete, unterliegt keinem Zweifel; aber wie M.   r e l i g i ö s   e m p f u n d e n   und wie er das Wesentliche bestimmt hat, ist zunächst nicht deutlich und doch die oberste Frage. Hier aber kommen uns zum Glück vier Zeugnisse entgegen, die uns über seine christliche Grundempfindung in ausgezeichneter Weise aufklären: (1) Das Antithesenwerk hat (s. o. S. 87) mit den Worten begonnen: „O Wunder über Wunder, Verzückung, Macht und Staunen ist, daß man gar nichts über das Evangelium sagen, noch über dasselbe denken, noch es mit irgend etwas vergleichen kann.“ Dem entspricht es, daß das Evangelium wiederholt und in allen Stücken als etwas ganz Neues bezeichnet wird, sowohl seinem Inhalt nach (von der plötzlichen und neuen Erscheinung Christi, der   „n o v a   et hospita dispositio“ (Tert. I, 2), an bis zu der   „n o v a   patientia“, (IV, 16), als auch in seiner Form (IV, 11: „forma sermonis nova“). (2) Tertullian überliefert uns (I, 17) das Marcionitische Wort: „Sufficit unum hoc opus deo nostro, quod hominem liberavit summa et praecipua bonitate sua et omnibus locustis anteponenda.“ (3) Tertullian und andere Zeugen berichten, der Grundgedanke des Galater- und Römerbriefs sei für M. der maßgebende gewesen, daß der Gerechte durch den Glauben an den Gekreuzigten eine „Umbildung“ (μεταβολή) erlebe und in diesem Glauben „ex dilectione dei“ die Erlösung und das ewige Leben empfange; M.s Schüler Apelles bestätigt das präzis und klar. (4) Tertullian (IV, 14) teilt uns mit, daß M. die Seligpreisungen als die „ordinariae


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(die eigentlichen) sententiae Christi“ bezeichnet habe, „per quas proprietatem doctrinae suae inducit“; er nennt sie daher im Sinne M.s das „edictum Christi“ und berichtet weiter (IV, 9 36), daß M. seine Glaubensgenossen als συνταλαίπωροι καὶ συμμισούμενοι bezeichnet und angeredet habe.
    Aus diesen Zeugnissen bricht die Art der christlichen Erfahrung und Frömmigkeit M.s mit leuchtender Klarheit hervor. Das erste ist vielleicht das wichtigste; denn es lehrt uns, daß M. die ganze Macht und Gewalt des „Numinosen“, um mit   O t t o   zu reden, am Evangelium empfunden hat. Dies zu wissen ist aber von höchster Bedeutung; denn zunächst liegt der Verdacht sehr nahe, daß ein religiöser Denker, der nicht nur den Zorn und die Strafgerechtigkeit von der Gottheit ausschließt, sondern ihr auch die Schöpfung der Welt und diese selbst entzieht, einer schwächlichen Religion huldigt. Wenn es Gott gegenüber schlechthin keine Furcht und kein Zittern geben darf und wenn alle erhabenen Gefühle, welche die Anschauung der Welt und der große Gang des Weltgeschehens erzeugen, für apokryph, ja für irreligiös erklärt werden, so steigt die Vermutung auf, daß sich hier eine seltsam eingeschränkte und laue Frömmigkeit an die Stelle der Kraft gesetzt habe. Allein das gewaltige Brausen der Worte: „O Wunder über Wunder, Verzückung, Macht und Staunen“ usw. zerstreut hier jeden Verdacht: Marcion hat das   E v a n g e l i u m — aber ausschließlich nur   d a s   E v a n g e l i u m — als kündlich großes mysterium tremendum et fascinosum empfunden; es ist ihm licht und dunkel zugleich, und er steht vor ihm, dem Neuen, ja dem einzig Neuen in Welt und Geschichte, in schauernder und schweigender Andacht ¹. Also hat die „Religion“ hier nichts eingebüßt.
    Das zweite Zeugnis begründet die   A u s s c h l i e ß l i c h k e i t   des Evangeliums als Objekt der Religion: es bringt   E r l ö s u n g,   und an diese durch eine unermeßliche und unvergleichliche Güte herbeigeführte Erlösung reicht kein anderes Werk heran, darf darum auch kein anderes angeknüpft werden ².
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    ¹ Daß die Offenbarung des Erlösergottes als „des Fremden“ bzw. des fremden Gastes ein Mysterium einschließt, das Distanz und beseligende Nähe zugleich enthält, darüber s. unten.
    ² S. bei Tert., De resurr. 2: „Humana salus urgentior causa ante omnia requirenda“.


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Der Gott, der dieses Werk vollbracht hat, kann kein anderes geschaffen haben, also auch nicht diese Welt, deren Wesen und Wert durch das ekle Ungeziefer charakterisiert ist, das sie anfüllt, und durch die widerliche Sexualität und Fortpflanzung. Mit größerer Verachtung kann die Welt nicht zurückgestoßen werden als durch die Worte: „et omnibus locustis anteponenda“. Die Erlösung erlöst so vollkommen, daß von dem gegebenen Alten schlechthin   n i c h t s   übrig bleibt;   s i e   m a c h t   b i s   z u m   l e t z t e n   G r u n d   d e r   D i n g e   h i n   a l l e s   n e u;   also ist alles, was bisher bestanden hat, verderblich und nichtig;   d e n n   d i e   E r l ö s u n g   i s t   E r l ö s u n g   n i c h t   n u r   v o n   d e r   W e l t,   s o n d e r n   a u c h   v o n   i h r e m   S c h ö p f e r   u n d   H e r r n.
    Das dritte Zeugnis bestimmt   d i e   g e s c h i c h t l i c h e   T a t s ä c h l i c h k e i t   u n d   d i e   A n e i g n u n g   der im Evangelium gegebenen Erlösung: Jesus Christus, seinen Tod und seine Auferstehung, im Glauben, der eine innere Umschaffung bedeutet, zu ergreifen. Christus ist innerhalb der Erlösung und in dem neuen Leben, welches zugleich das ewige ist, alles in allem und daher auch der Anfänger und Vollender des Glaubens. Vor ihm waren nur Pseudopropheten, und nach ihm bedarf es keiner Offenbarung mehr, sondern nur einer restituierenden Reformation.
    Das vierte Zeugnis endlich besagt im Zusammenhang mit dem vorigen, daß zwar die Erlösung schon vollzogen ist, daß die Gläubigen sie aber erst als gewisse Hoffnung mit dem Unterpfand des h. Geistes besitzen. Sie sollen daher wissen, daß sie, solange sie noch in dieser abscheulichen Welt unter dem harten und verächtlichen Weltschöpfer leben, Arme, Trauernde, Weinende und Verfolgte sein müssen.   S i e   d ü r f e n   s i c h   m i t   d e r   W e l t   s c h l e c h t h i n   n i c h t   e i n l a s s e n;   daraus ergibt sich von selbst, daß sie die Gehaßten sind und daß sie die   ü b e r s c h w e n g l i c h e   S e l i g k e i t   d e r   E r l ö s u n g   h i e r   a u f   E r d e n   n u r   i m   G l a u b e n   b e s i t z e n   k ö n n e n;   a b e r   s c h o n   d i e s e r   G l a u b e   i s t   S e l i g k e i t.
    Ein größerer Kontrast als der, in welchem der Marcionitische Gläubige lebte, ist nicht denkbar: einerseits wußte er sich erlöst nicht nur von Sünde und Schuld, nicht nur von Tod und


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Teufel, nicht nur von dem ganzen Weltwesen, sondern auch von dem Gott und Vater, dem er früher entweder in Furcht und Zittern gedient oder den er in sträflichem Leichtsinn mit bösem Gewissen geflohen hatte; andrerseits lebte er noch als der Gehaßte und Verfolgte dieses Gottes auf der Erde! Wer ist dieser Gott?

2. Der Weltschöpfer, die Welt und der Mensch.

    Man hätte sich viele Unsicherheiten in bezug auf M.s Prinzipienlehre erspart, wenn man stets festgehalten hätte, daß M. als exklusiver biblischer Theologe den Gott, von dem Christus die Gläubigen erlöst, in den Zügen gesehen hat, welche das AT der Gottheit verleiht, und die im Evangelium und den Briefen in bezug auf den ATlichen Gott erkennbar sind. Der Gott, den nach Marcion Christus ins Unrecht gesetzt hat, ist also nicht der persische Ahriman, nicht das böse Prinzip schlechthin — M. ließ den Teufel, wie die Testamente lehren, neben ihm bestehen und dachte über den Teufel nicht anders als die große Christenheit —, nicht der Schöpfer der Finsternis im Gegensatz zum Licht (er hat beide geschaffen, s. S. 263* f.), noch weniger die Materie, sondern einfach der jüdische Schöpfergott, wie ihn das Gesetz und die Propheten verkündigt haben.
    Jedoch unterliegt diese Erkenntnis einer Einschränkung bzw. Modifikation. Zwar ist sie noch nicht damit gegeben, daß nach M. Gott die Welt aus einer Materie geschaffen hat, die gleich ursprünglich ist wie er; denn so haben in jener Zeit unbefangen auch hellenistische Juden und Großchristen gelehrt; allein sie dachten an eine qualitätslose Materie; M. aber hat nach sicheren Zeugnissen (s. o. S. 276*: Tertullian, Clemens, Ephraem, Theodoret, Esnik; die Zeugnisse der beiden letzteren allein würden nicht genügen) die Materie ¹ für   s c h l e c h t   gehalten und den präzisen Satz gebildet, daß die Welt-Physis schlecht ist, weil sie aus einem Zusammenwirken der schlechten Materie und des gerechten Demiurgs stamme (Clemens) ². Das Auffallende aber
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    ¹ „Die Materie nennen sie die Kraft der Erde“ (Esnik).
    ² Vgl. Tert. I, 15: „Creator mundum es aliqua materia subiacente molitus est, innata et infecta et contemporali deo ... amplius et malum materiae deputat“.


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hier ist dies, daß M. von dieser Annahme, die er nicht weiter ausgeführt hat ¹, weder bei seinen Exegesen noch bei seinen sonstigen Aussagen irgendwelchen Gebrauch gemacht, ja daß er u. W. außer bei der Schöpfung ² sonst die Materie nirgendwo auch nur genannt hat. Dazu kommt, daß er, abgesehen von den malignitates creatoris, den Teufel als den Urheber des Bösen kennt.   I m m e r   a b e r   h a t   e r   e s   n u r   m i t   d e n   z w e i   G ö t t e r n   z u   t u n.   Scheint daher „die schlechte Materie“ als ein Fremdkörper innerhalb seiner Glaubensanschauung gelten zu müssen, so liegt es nahe, hier den Einfluß zu erkennen, den er nach der Überlieferung von der syrischen Gnosis durch Vermittelung des Cerdo erlitten hat, und wenn wir im Fortgang der Darstellung einen zweiten Fremdkörper bemerken, nämlich die besondere Verurteilung des Fleisches und die Einschränkung der Erlösung auf Seele und Geist (während diese doch dem „fremden Gott“ ebenso fremd sind wie das Fleisch), so verstärkt sich die Vermutung, daß diese beiden nahe zusammenhängenden Lehren (die von der schlechten Materie und die von dem erlösungsunfähigen Fleisch) der ursprünglichen Konzeption M.s nicht angehören. Indessen darf das mindestens in bezug auf den ersten Punkt nicht für sicher gelten. Da ihm nämlich der Weltschöpfer nicht „schlecht“ war, so bedurfte er auf alle Fälle neben ihm   u n d   z u   s e i n e r   E n t l a s t u n g   eines schlechten Prinzips, und zwar gerade für den Anfang der Dinge, an dem der Teufel doch noch nicht auftreten konnte, da er nach biblischer Überlieferung selbst eine Kreatur Gottes ist. Von hier aus war ihm die Materie, die er, sobald der Teufel da war, unberücksichtigt lassen konnte und in der Tat nun fallen ließ, doch notwendig.
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    ¹ Bei Esnik ist sie ausgeführt (s. S. 374* ff.); aber es ist sehr unwahrscheinlich, daß die mythologische Schöpfungsgeschichte, wie er sie erzählt, von M. selbst herrührt, da er in der „Geschichte“ über das Biblische niemals hinausgeschritten ist. Dazu: hätte sie Tert. in den Antithesen gelesen, also dort u. a. gelesen, daß der Weltschöpfer die Menschen seiner Genossin, der Materie, gestohlen habe, so hätte er die grimmigste Strafpredigt seinem Gegner gehalten.
    ² Bei der Schöpfung hat M. die Hinzuziehung der Materie auch deshalb begrüßt, weil sie lehrt, daß der Weltschöpfer ohne einen Stoff nicht schaffen kann (anders der andere Gott). Das führt auf ein Interesse, welches mit der Schlechtigkeit der Materie nichts zu tun hat.


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Die Unklarheit, die hier besteht (Materie und Teufel), ist für das „Mitten im Denken stehenbleiben“ M.s, ja für seine Flucht vor dem philosophischen Denken charakteristisch ¹.
    Kehren wir zum Weltschöpfer zurück. Wie M. ihn sich vorgestellt hat, das geht aus den Resten der Antithesen, wie sie S. 260* ff. mitgeteilt worden sind, deutlich hervor, und alles einzelne braucht hier nicht wiederholt zu werden. Am schnellsten überschaut man die beschränkten und widerspruchsvollen Eigenschaften und die anstößigen Aktionen und Liebhabereien des kleinlichen und unbeständigen, ungeduldigen und eifernden, kriegerischen und wilden Schöpfergottes in der übersichtlichen Zusammenstellung, welche die pseudoklementinischen Homilien gegeben haben (S. 278* f.). Man darf sich aber durch ihre Inferioritäten und ihre disparate Fülle in der Anerkennung nicht beirren lassen, daß nach M. die iustitia im Sinne der formalen Gerechtigkeit („Auge um Auge, Zahn um Zahn“) und in der richterlichen Ausübung sowie die schlimme Lästigkeit die Grundeigenschaften des Schöpfergottes sind, nicht aber die Schlechtigkeit.
    Dies scheint freilich durch zahlreiche Stellen widerlegt zu werden, an denen eine unverhüllte Schlimmheit hervortritt, und durch jene Hauptstelle, an welcher M. den Schöpfergott einfach „den schlechten Baum“ genannt hat. Allein wenn man die S. 271* f. zusammengefaßten Zeugnisse prüft, kommt man doch zu einem anderen Ergebnis, das übrigens schon deshalb gefordert ist, weil darüber kein Zweifel bestehen kann, daß M. als die  w e s e n t l i c h e   Eigenschaft des Schöpfergottes die   G e r e c h t i g k e i t   bezeichnet hat. Auch hätte er es nicht nötig gehabt, auf solche Stellen wie die: „Ego sum qui condo mala“, und ähnliche triumphierend den Finger zu legen, wenn er das Böse für das   E l e m e n t   des Schöpfers gehalten hätte.
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    ¹ Nichts ist sicherer, als daß M. mindestens in der Regel nicht von „Prinzipien“ (ἀρχαί) gesprochen hat, sondern von θεοί, weil er ein biblischer Denker war. Wenn seit Rhodon (bei Euseb., h. e. V, 13) in der Überlieferung auch jenes Wort (spärlich) auftaucht, so liegt die Annahme nahe, daß, weil Apelles   e i n e   „ἀρχή“ gelehrt hat, man ihm gegenüber die zwei θεοί des Meisters als zwei „ἀρχαί“ bezeichnet hat. Die Materie ist von M. selbst, soweit wir zu urteilen vermögen, niemals „θεός“ und auch nicht „ἀρχή“ genannt worden, obschon er sie so hätte nennen müssen.


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    Worin zeigt sich seine malitia?
    (1) In der Menschenschöpfung, indem er den Menschen schwach, hilflos und sterblich geschaffen und seine Verführung zugelassen hat, und auch darin zeigt sie sich, daß er überhaupt Sünde, Tod und den Teufel, der doch sein Geschöpf ist, sowie jegliches Schlechte duldet,
    (2) in den zahlreichen Strafübeln, die er verhängt, in dem Unverhältnismäßigen der Strafe gegenüber der Schuld und in der Sendung von Übeln überhaupt,
    (3) in zahlreichen Härten, Grausamkeiten, kriegerischem Wüten, Blutgier usw.,
    (4) in seiner Praxis, die Sünden der Väter an den Kindern zu strafen und Unschuldige für Schuldige leiden zu lassen.
    (5) in den Verstockungen im Bösen, die er über die Widerspenstigen verhängt,
    (6) in dem Neide, mit welchem er die ersten Menschen vom Baum des Lebens abgehalten hat,
    (7) in der Parteilichkeit, mit welcher er seine Verehrer, auch wenn sie schlecht sind, begünstigt, ja ihnen Ungerechtigkeit, Betrug und Raub und Gewalttat aller Art gegen seine Widersacher erlaubt, ja befiehlt.
    Fast alle diese Züge sind mit der „Gerechtigkeit“ dann verträglich, wenn man den Schöpfergott als den   D e s p o t e n   im antiken Sinn und im Sinn zahlreicher ATlicher Stellen faßt, der nach dem Grundsatz: „Voluntas regis suprema lex“ verfährt, der vor allem seine Ehre sucht, bei seinen Untertanen die Unterwürfigkeit und den Gehorsam als die höchsten Tugenden schätzt und seine Widersacher als Frevler für rechtlos erklärt und zerschmettert. Unter Voraussetzung dieser Obersätze kann der Despot ein höchst gerechter Mann sein. Allerdings ist dabei in bezug auf den Schöpfergott M.s noch eine negative Voraussetzung hinzuzufügen, die aber auch bei den Despoten zuzutreffen pflegt: er sollte allwissend, vollkommen überlegt, sicher voraussehend, widerspruchslos, in sich geschlossen, zuverlässig und allmächtig sein, um bei seiner Machtfülle nicht in Torheiten, Fehler und Widersprüche zu geraten; aber er ist es nicht. So ist auch die Gerechtigkeit des Marcionitischen Weltschöpfers durch diese Mängel, die ihm anhaften, übel entstellt; — um z. B. bessere Menschen zu schaffen und das Böse ganz abzuschaffen, dazu ist


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er einfach zu schwach —; dennoch aber will dieser Gott gerecht sein und ist es auch, solange seine Ehre nicht im Spiele ist und seine Beschränktheit sich nicht geltend macht. Also ist nicht das Schlechte sein Element, sondern seine iustitia ist ihrer Aufgabe nicht gewachsen und wird durch Eifern und Schwäche unter Umständen zur iniquitas, pusillitas und malitia ¹.
    Dazu: man darf nicht übersehen, daß M. auch alle die herrlichen und erhebenden Aussagen vom Schöpfergott gelten lassen mußte, welche die Propheten und namentlich die Psalmen über ihn enthalten. Dieser Gott ist es, der gesprochen hat: „Fürchte dich nicht, Ich habe dich erlöset, Ich habe dich bei deinem Namen gerufen, du bist mein“, und wiederum der Gläubige des Schöpfergottes ist es, der zu ihm spricht: „Wenn ich nur dich habe, frage ich nicht nach Himmel und Erde“. Daß in den uns erhaltenen Resten der Antithesen diese Seite des Schöpfergottes nicht hervortritt, ist wohl verständlich, da uns diese Reste aus den Händen der Gegner M.s zugekommen sind; aber auch M. selbst wird schwerlich lange bei ihnen verweilt haben, da sie ihn in Verlegenheit setzen mußten. Wie er diese Verlegenheit, wo es möglich war, bemeistert hat, wissen wir: er deutete alles, was das AT an Trost, Verheißung und Erlösung enthält, auf eine irdische Erlösung, die ihren Inhalt an einem langen gesättigten Leben und an der Aussicht auf ein zeitliches und irdisches Reich der Freude und Herrlichkeit hat. „Ewigkeit“ im intensiven Sinn des Worts gibt es bei dem Weltschöpfer nicht — M. strich im NT das Wort, wo man es auf das Leben, welches der Weltschöpfer gewährt, beziehen muß, und depotenzierte es im AT —; alles ist auf das Diesseits und auf eine zukünftige herrliche Steigerung des Weltlebens abgezweckt, in der sich die Erlösung erschöpft. Daß M. mit solcher Deutung die tiefsten Stellen des AT mißhandelt und entleert hat und weit hinter dem Verständnis zurückbleibt, welches sich damals auch bei frommen und geistlich geförderten Juden fand, braucht nicht erst gesagt zu werden; aber da in dem für inspiriert geltenden, kanonischen
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    ¹ Mit dem Mammon, so scheint es, hat M. den Weltschöpfer nicht identifiziert, da dieser das Prädikat „ungerecht“ führt; doch kann man hier nicht zu voller Klarheit kommen; vgl. Tert. IV, 33 zu Luk. 16, 13 und Iren. III, 8, 1.


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Buch alles auf   e i n e r   Fläche stand, ist es verständlich, daß einmal einer auftrat, der das Buch nicht von rechts nach links, sondern von links nach rechts las und nach dem Primitiven das Hochentwickelte und Wundervolle erklärte.
    Um die Eigenart des Schöpfergottes nach M. richtig zu erfassen, sind aber noch folgende Züge hervorzuheben: seine   U n w i s s e n h e i t   i n   b e z u g   a u f   d i e   E x i s t e n z   d e s   a n d e r e n   G o t t e s,   seine   p r o f a n e   O f f e n b a r h e i t,   d i e   I d e n t i t ä t   s e i n e s   W e s e n s   m i t   d e m   W e s e n   d e r   W e l t,   sei es auch dem höheren, und   d i e   g e m e i n e   u n d   h ä ß l i c h e   F o r t p f l a n z u n g s m e t h o d e,   d i e   e r   e i n g e r i c h t e t   h a t   o d e r   d u l d e t.
    Die totale Unwissenheit des Weltschöpfers in bezug auf den anderen Gott ist von allen seinen Unwissenheiten die schlimmste; sie erweist ihn als im höchsten Maße inferior. Da ihm aber, weil er den anderen Gott nicht kennt, auch die Sphäre und Art desselben unfaßlich ist, so ist ihm auch das wahrhaft Gute völlig verschlossen. Zwar hat auch er „Gutes“, ja ist selbst „gut“ (s. unten über das „Gesetz“); aber das ist eine Art von Güte, die, gemessen an dem wahrhaft Guten, diesen Namen doch eigentlich nicht verdient.
    Der Weltschöpfer ist absolut „bekannt“ und daher auch kündbar (κατονόμαστος); von seiner Schöpfung und Offenbarung läßt sich sein Wesen vollkommen restlos ablesen. Diese profane Offenbarheit, die kein Mysterium übrig läßt, erweist ihn als einen inferioren Gott. Die entsetzlichen Halbheiten, Schwankungen, Widersprüche und Unzuverlässigkeiten aber, die dieser Gott aufweist, sind nach M. nichts weniger als ein Mysterium, sondern genau wie bei den Menschen ein Zeichen haltloser Schwäche und charakterloser Leidenschaftlichkeit ¹.
    Diese Welt, ein Produkt des gerechten Weltschöpfers und der schlechten Materie, ist eine φύσις κακή. „Die Mar-
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    ¹ In dem Wort (Deut. 32, 39): Ἐγὼ ἀποκτενῶ καὶ ζῆν ποιήσω, das M. für die Charakteristik des Weltschöpfers bevorzugt hat, stellt sich der große innere Widerspruch dieses Gottes dar, der alle anderen Widersprüche bestimmt. Das Leben kann nach M. kein wirkliches, ewiges sein, dessen Spender auch tötet. So werden beim Weltschöpfer auch Liebe, Gnade, Leben usw. wertlos, da sie den Zorn und den Tod nicht ausschließen.


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cioniten“, sagt Tertullian (I, 13), „rümpfen die Nase und sagen höhnisch: Nicht wahr, die Welt ist eine große und eines Gottes würdige Schöpfung?“ „Haec paupertina elementa“, „haec cellula creatoris“ (I, 14), so titulieren sie die Welt, für die sie nur Verachtung haben. Mit Empörung mußte das jeden Hellenen, aber auch die Juden und Christen erfüllen. War aber für M. diese von Ungeziefer wimmelnde, stupide und schlechte Welt, dieses armselige Loch nur ein Gegenstand der Verachtung ¹, so bedeutet es die abschätzigste Kritik M.s an dem Weltschöpfer, wenn er ihn wiederholt mit der Welt identifiziert, bzw. in seinen Exegesen der Welt substituiert. Wenn Paulus sagt, ihm sei durch Christus die Welt gekreuzigt und er der Welt, so ist nach M. hier der Weltschöpfer zu verstehen. Dasselbe gilt von dem Satze, Gott habe die Weisheit dieser Welt töricht gemacht, sowie von dem anderen, die Apostel seien ein Schauspiel für die Welt geworden. II Kor. 3, 14 las M. ἐπωρώθη τὰ νοήματα τοῦ κόσμου für τ. ν. αὐτῶν, und deutete dann die Welt als den Weltschöpfer, und Ephes. 2, 2 verstand er unter dem αἰὼν τοῦ κόσμου τούτου den Äon des Weltschöpfers (s. S. 311*). Diese Identifizierungen sind von hoher Wichtigkeit für die vollständige Erfassung des Marcionitischen Weltschöpfers; denn sie lehren, daß M. das Bild, welches das AT von dem jüdischen Schöpfergott bot, dadurch geschwärzt hat, daß er nach Gutdünken an verschiedenen Stellen den Charakter des Weltschöpfers nach dem der Welt bestimmte: die Weisheit des Weltschöpfers deckt sich mit der Weisheit der Welt! Wie verächtlich also ist die Weisheit des Weltschöpfers! Gott ist die Welt, und die Welt ist Gott — nicht im pantheistischen Sinn, sondern im ethischen; jedes ist ein Spiegel des anderen.
    Endlich — der Weltschöpfer ist verantwortlich für den abscheulichen Apparat der Fortpflanzung und für all das Ekelhafte, was das Fleisch von seiner Entstehung bis zu seiner Fäulnis aufweist. Überschaut man alles, was uns von M. erhalten ist, so gewahrt man, daß der durch Überlegung und Ruhe sich auszeichnende Mann doch auch tief erregt werden konnte; aber nur an zwei Stellen ist uns das überliefert, nämlich dort, wo er sich
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    ¹ Es scheint bei dieser Empfindung auch eine gewisse hysterische Gereiztheit gegenüber den eklen Plagen des Lebens bei M. im Spiele gewesen zu sein.


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die Neuheit und die überschwengliche und unsägliche Herrlichkeit des Evangeliums vor Augen stellt (in seinem Einleitungswort zu den Antithesen), und im Gegensatz dazu hier, wo er über das Fleisch und vor allem seine Zeugung und Geburt urteilt. Dort bricht er in einen Jubel aus, der keine Worte mehr finden kann, hier hat er (s. die Zeugnisse Tertullians oben S. 273*) sich in den bittersten „perorationes“ ergangen, in Schmähungen über das Fleisch, seinen Ursprung, seine Bestandteile, seine Zufälle, „seinen ganzen Ausgang, daß es von Anfang an unrein sei als die Faeces der Erde, daß es in der Folge noch mehr verunreinigt worden durch den Unflat seines eigenen Samens, daß es nichtswürdig, schwach, verbrecherisch, beschwert, überlästig sei und zuletzt, als Schluß der ganzen Litanei seiner niedrigen Gemeinheit, daß es in die Erde, aus der es gekommen, als Kadaver zurücksinke, aber auch noch diesen Namen verliere und in ein Nichts zergehe — nicht einmal ein Name mehr, sondern ein jeglicher Benennung entbehrendes Nichts“. Diese „caro stercoribus infersa“, welche aus dem ehelichen „negotium impudicitiae“ entsteht, im Mutterleibe aus den abscheulichen Zeugungsstoffen zusammenrinnt, durch denselben Unrat neun Monate ernährt wird, vermittels der Schamteile ans Licht kommt und unter Possen großgefüttert wird! Die „sanctissima et reverenda opera naturae“ (so Tertullian!) sind ihm eine Fabrik des Unflats und eine quellende Masse des Gemeinen und Abscheulichen! Die „blasphemia creatoris“, welche die Kirchenväter Marcion vorwerfen, kommt hier auf ihren Höhepunkt; aber es wurde oben (bei der „Materie“ S. 98) darauf hingewiesen, daß durch diese Beurteilung des Fleisches ein Element in M.s religiöses Denken gekommen ist, das in dem leitenden Gegensatz von „gut“ und „gerecht“ nicht enthalten ist, sondern auf eine andere Quelle weist ¹.
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    ¹ Ebendeshalb darf man diesen Gott nur insofern zum Schöpfer des Fleisches und seiner häßlichen Fortpflanzung machen, als er bei seiner Schwäche die Materie bei der Schöpfung hat zu Hilfe nehmen müssen und es nun dulden mußte, daß aus diesem Beisatz das Abscheuliche hervorquoll. Nimmt man hier einen Einfluß der syrischen Gnosis durch Cerdo an, so ist doch andrerseits zu bemerken, daß die grimme Wut gegen das „Fleisch“ den Eindruck eines Ressentiments eigenster Art macht. Auch hier läßt sich also ein sicheres Urteil nicht gewinnen.


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    Auch M. hat nach dem Bericht der Genesis den Menschen als den Zweck der Schöpfung anerkannt; aber in der Beurteilung dieser „Krone der Schöpfung“ kommt er zu einem völlig anderen Ergebnis als die Juden und die Großchristen — d i e   S c h ö p f u n g   d e s   M e n s c h e n   i s t   e i n e   j ä m m e r l i c h e   T r a g ö d i e,   an der der Schöpfer allein schuld ist; denn
    (1) Gott hat dem Menschen zwar durch die Einblasung der Seele   s e i n e   e i g e n e   S u b s t a n z   mitgeteilt und ihm damit noch mehr gegeben als sein Gleichnis und Ebenbild ¹, aber nicht nur ist diese göttliche Substanz selbst unvollkommen und labil, sondern ihr ist auch von Gott durch die Beigabe des Fleisches die schlechte Materie beigemengt worden; so entstand, sei es aus mangelnder Güte oder aus mangelnder Voraussicht oder aus mangelnder Kraft des Schöpfers — Marcion hat dies offen gelassen, aber nahm wohl alle diese Mängel zugleich an (s. S. 271* f. 273) — ein hilfloses, schwaches Gebilde, das nicht einmal unsterblich war, sondern dem Tode ausgesetzt.
    (2) Kaum war es geschaffen, so regte sich, wie immer bei Despoten, in dem Schöpfer die eifersüchtige Sorge, er könne in seiner Ehre beeinträchtigt werden; er zeigte sich daher dem Menschen mißgünstig und sperrte ihn von dem Erkenntnis- und Lebensbaum ab; außerdem vermochte er es in seiner Schwäche nicht zu hindern, daß einer seiner Engel von ihm abfiel, schlecht wurde und es darauf absah, auch den Menschen von seinem Schöpfer abwendig zu machen.
    (3) So trat die Katastrophe ein: der Mensch ließ sich vom Teufel verführen und wurde seinem Schöpfer ungehorsam. Diese Katastrophe überraschte den Weltschöpfer vollkommen, und es   r e u t e   i h n,   d a ß   e r   d e n   M e n s c h e n   g e s c h a f f e n   h a b e;   er trieb ihn aus dem Paradies, um ihn außerhalb desselben mit allen Mitteln wieder zurückzugewinnen. A u c h   i m   S i n n e   s e i n e s   U r h e b e r s   i s t   d e r   M e n s c h   e i n e   v e r f e h l t e   S c h ö p f u n g,   a l s o   e i n e   M i ß g e b u r t.
    Aus dieser Auffassung der Schöpfungsgeschichte ergibt sich, daß der gute Gott an dem Menschen schlechterdings keinen Anteil hat, auch nicht an seinem Geiste oder seiner Seele, und
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    ¹ Also kann man, wie von der Welt, so auch von den Menschen die Eigenart des Weltschöpfers ablesen.


106 Das Christentum Marcions

daß die Menschheit auf Grund Ihrer Konstitution und durch die Verführung des Teufels ¹ in einen jämmerlichen, ja unsäglich traurigen und hoffnungslosen Zustand geraten ist: von Hause aus ekelhaft konstituiert, schwach und hilflos, durch den Sündenfall noch weiter geschwächt und in ihrer mangelhaften Erkenntnis noch mehr verdunkelt, ist sie aus dem Paradiese verwiesen, in die greuliche und kummervolle Welt gestoßen und steht hier ihrem gerechten, eifrigen und zürnenden „Vater“ gegenüber, der jede Hinneigung des Menschen zum Materiellen hart bestraft, strenge Gesetze gibt und sein Recht der Vergeltung grausam geltend macht.

3. Der Weltschöpfer als der Judengott; die Gerechtigkeit als das Moralische; Gesetz, Propheten, Messias und h. Schrift des Judengottes.

    Erst wenn man von M.s Gedanken über Gott als den Weltschöpfer zu seinen Gedanken über Gott als den Gesetzgeber übergeht, kommt man zu dem ihn leitenden und entscheidenden Interesse; denn für M. ist es, wie für Paulus, das Wichtigste, daß die, welche Christus nicht erlöst hat,   u n t e r   d e m   G e s e t z   stehen, und die Bedeutung des Gesetzes ist so groß, daß er den Weltschöpfer (zu Röm. 7, 7) dem Gesetz ebenso substituiert hat wie der Welt.
    Der Gesetzgeber aber ist der Judengott ². M. folgte auch hier ohne jede Kritik dem AT. Nach dem Sündenfall vergaßen die Menschen Gottes vollständig, Gott aber erwählte sich Abraham und sein Geschlecht, um die Menschen zurückzurufen, und nachdem er durch Moses den Nachkommen Abrahams das Gesetz gegeben hatte, brauchte er ebendieses Gesetz, um das jüdische Volk bei sich zu erhalten und bei den anderen Völkern, die,
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    ¹ Daß nach M. Gott selbst der Urheber der Sünde ist, ist eine Konsequenzmacherei Tertullians; M. hat ausdrücklich, neben der schlechten Konstitution des Menschen, den Teufel als Urheber gezeichnet; s. oben S. 271* f.
    ² Das Judenvolk ist das schlimmste Volk; aber dennoch hat M. Luk. 7, 9 stehengelassen („Solchen Glauben habe ich in Israel nicht gefunden“); „cur non licuerit illi“, sagte M., „alienae fidei exemplo uti?“ (Tert. IV, 18).


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dem Teufel folgend, in der Nacht der Gottlosigkeit und des Polytheismus wandelten, für sich zu missionieren. Nicht anders also können die Heiden — obgleich eine natürliche Gesetzeskenntnis nach Röm. 2 zugestanden wird — zum Schöpfergott zurückkehren, als indem sie Juden, d. h. Proselyten werden; denn alle Verheißungen irdischen Glücks und eines zukünftigen Herrlichkeitsreiches auf Erden gelten dem erwählten Volke. Der Schöpfergott sorgt als Vater nur für sein Volk, die Juden, für die übrigen Menschen aber nur durch Vermittelung dieses Volkes.
    Das Gesetz (von seinen Kleinlichkeiten, dem ganzen Opferdienst und dem Zeremoniellen, die freilich untrennbar mit ihm verbunden sind, abgesehen) ist, weil das Gerechte, das   M o r a l i s c h e,   und M. ist, wie Paulus, von allem Antinomismus zu Gunsten einer libertinistischen Lebensführung weit entfernt. Zwar unterstreicht er, was Paulus über das Gesetz als zur Sünde verführend usw. gesagt hat; aber er ist mit ihm der Überzeugung, daß die gerechten, d. h. die sittlichen Forderungen des Gesetzes unter allen Umständen zu beobachten sind: niemand soll töten, ehebrechen, stehlen und betrügen ¹. Wenn, wie wir sehen werden, dennoch nicht die Gesetzestreuen vom guten Gott gerettet werden, sondern die groben Sünder sich retten lassen und gerettet werden, so bedeutet das keine Umwertung der Werte in dem Sinne, daß das Moralische für das Unmoralische zu halten sei, vielmehr kreuzen sich hier bei M. zwei grundverschiedene Gesichtspunkte, nämlich der moralische und der religiöse. Nach jenem ist das Moralische gerecht, ja man kann es selbst gut nennen, und das Unmoralische ist schlecht; nach diesem, dem übergeordneten,
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    ¹ M. bezog die in Röm. 2, 21 f, gegen die Juden erhobenen Vorwürfe, soweit möglich, auch auf den Judengott selbst, so den Vorwurf des Diebstahls (wegen der ägyptischen goldenen und silbernen Gefäße); aber das erwählte Volk ist von seinem Gott autorisiert, die Heiden zu bestehlen, zu betrügen und auszurotten. Dadurch werden die Sittengebote nicht verletzt. Übrigens erscheint Moses dem unbarmherzigen Weltschöpfer gegenüber sogar als der bessere (Tert. II, 25—28): „Pusillus deus in ipsa ferocia sua, cum ob vituli consecrationem efferatus in populum de famulo suo postulat Moyse: ,Sine me, ut indignatus ira disperdam illos et faciam te in nationem magnam.‘ unde meliorem   s o l e t i s   affirmare Moysen deo suo, deprecatorem, immo et prohibitorem irae; ,non facies enim‘, inquit, ,istud aut et me una cum eis impende‘ “.


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ist nur gut, was aus dem Glauben an Christus, den Erlöser, kommt, und das moralisch Gute, d. h. das Gerechte, das sich von selbst versteht, wird zum schwersten Hemmnis der Erlösung, wenn man sich bei ihm beruhigt. Deshalb mußte der Erlöser als „aemulus legis“ auftreten (Tert. IV. 9), obgleich er, wie der Weltschöpfer, das Schlechte, welches das Gesetz verbietet, auch als Schlechtes von sich stößt.
    M.s Stellung zum Gesetz unterscheidet sich also nicht stark von der des Paulus, wenn man die letzte Voraussetzung der beiden Götter wegläßt. Er hat folgende Stellen aus dem Römerbrief in bezug auf das Gesetz ruhig stehengelassen (nicht nur 5, 20; 7, 4. 5. 8. 23) ¹:
    Röm. 2, 12: ὅσοι ἀνόμως ἥμαρτον, ἀνόμως καὶ ἀπολοῦνται, καὶ ὅσοι ἐν νόμῳ ἥμαρτον, διὰ νόμου κριθήσονται — über diese Stelle wird noch bei Christus zu reden sein.
    Röm. 2, 13: οὐ γὰρ οἱ ἀκροαταὶ τοῦ νόμου δίκαιοι παρὰ τῷ θεῷ, ἀλλ’ οἱ ποιηταὶ τοῦ νόμου δικαιωθήσονται.
    Röm. 2, 14: τὰ μὴ νόμον ἔχοντα φύσει τὰ τοῦ νόμου ποιοῦσιν.
    Röm. 2, 20: ἔχοντα τὴν μόρφωσιν τῆς γνώσεως καὶ τῆς ἀληθείας ἐν τῷ νόμῳ — also auch das wird von M. zugestanden.
    Röm. 2, 25: περιτομὴ μὲν γὰρ ὠφελεῖ, ἐὰν νόμον πράσσῃς˙ ἐὰν δὲ παραβάτης νόμου ᾖς, ἡ περιτομή σου ἀκροβυστία γέγονεν.
    Röm. 7, 7: τί οὖν ἐροῦμεν; ὅτι νόμος ἁμαρτία; μὴ γένοιτο˙ ἀλλ’ ἐγὼ τὴν ἁμαρτίαν οὐ γινώσκω εἰ μὴ διὰ νόμου.
    Röm. 7, 12: ὁ νόμος ἅγιος καὶ ἡ ἐντολὴ ἁγία καὶ δικαία καὶ ἀγαθή — man staunt mit Tertullian, daß M. das stehen gelassen hat, s. auch 7, 13: ἡ ἁμαρτία, ἵνα φανῇ ἁμαρτία, διὰ τοῦ ἀγαθοῦ (!) μοι κατεργαζομένη θάνατον.
    Röm. 7, 14: ὁ νόμος πνευματικός — das ist das frappierendste Zugeständnis.
    Röm. 7, 25: ἄρα γἀρ αὐτὸς ἐγὼ τῷ μὲν νοῒ δουλεύω τῷ νόμῳ τοῦ θεοῦ.
    Nach diesen Stellen wird man bei dem oberflächlichen
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    ¹ Man darf, um M.s merkwürdige Haltung hier zu erklären, nicht mit der Hypothese kommen, M. sei mit seiner Kritik des Textes des Römerbriefs nicht fertig geworden und könne manche weitere Korrekturen sich vorbehalten haben; denn gerade den Römerbrief hat er augenscheinlich besonders sorgfältig durchforscht und die Hälfte seines Textes gestrichen.

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Urteil, M. habe das Gesetz als die Kundgebung des gerechten Gottes einfach verworfen und sei daher Antinomist im vollen Sinn des Worts, nicht stehen bleiben dürfen, da die Sachlage komplizierter ist: M. hat das Gesetz, d. h. gewisse Teile desselben (das Moralgesetz), für   h e i l i g,   g u t   und sogar für   g e i s t l i c h   erklärt und damit für eine unverbrüchliche Norm; aber er hat es trotzdem nicht vom guten Gott abgeleitet, weil es zum Sündenstande gehört und die Sünde mehrt.  D a n n   a b e r   i s t   d i e   A n n a h m e   u n v e r m e i d l i c h,   d a ß   e r   z w i s c h e n   „g u t“   u n d   g u t,   „h e i l i g“   u n d   h e i l i g,   „g e i s t l i c h“   u n d   g e i s t l i c h   u n t e r s c h i e d e n   h a t.   Die „Güte“, „Heiligkeit“ und „Geistlichkeit“ des Gesetzes folgt lediglich aus seinem Kontraste gegenüber dem Bösen und der Sünde; in Hinsicht aber auf die Güte, die sich in der Barmherzigkeit und Erlösung ausspricht, ist es weder gut noch heilig noch geistlich. Die Dialektik M.s ist hier also andersartig als die des Apostels, dem er folgt; denn der Apostel kennt keine Gutheit und Heiligkeit erster und zweiter Ordnung; für M. aber ist nur der Begriff „Schlecht“ eindeutig; dagegen unterscheidet er zwischen einer moralischen Gutheit, die nur irdischen Charakter hat, und einer religiösen ¹. Paulus verlegt die Spannung der eindeutig erfaßten Begriffe „Gerecht“ und „Gut“ in die Gottheit selbst; Marcion befreit die Gottheit von dieser Spannung, kennt aber eine doppelte Gerechtigkeit und doppelte Gutheit, verteilt sie auf zwei Götter und nennt in der Regel die niedere Gerechtigkeit, also auch den Weltschöpfer, nicht gut, sondern nur gerecht und die höhere Gutheit nicht gerecht, sondern nur gut. Nimmt man aber seinen Standort bei dem Schlechten (der Sünde), so kann man auch den Schöpfer und sein Gesetz der Sinnlichkeit und Sünde gegenüber „geistlich“ und „gut“ nennen ².
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    ¹ Ebenso wie er zwischen „Leben“ und „Leben“ (nämlich ewigem) und zwischen Paradies und wirklicher Seligkeit unterscheidet.
    ² Von den zahlreichen paulinischen Stellen, an denen das Gesetz erwähnt wird und die M. beibehalten hat (daß Jesus unter das Gesetz getan war, hat er natürlich gestrichen, Gal. 4, 4), seien noch folgende erwähnt, die des weiteren belegen, daß M.s Stellung zum Gesetz nur in der Hauptsache eindeutig und klar, sonst aber kompliziert war. Erstlich hat er einige Berufungen des Paulus auf das AT beibehalten, s. I Kor. 9, 8 f. (hier ist κατὰ νόμον dem κατὰ ἄνθρωπον entgegengesetzt!), 14, 19 (hier


110 Das Christentum Marcions

    Dies bestätigt sich, wenn man den Begriff νόμος im Evangelium M.s untersucht und weiter die Stellen vergleicht, an denen δικαιοσύνη und δίκαιος steht. Natürlich hat M. den νόμος in dem Spruch Luk. 16. 16 stehen gelassen (ὁ νόμος καὶ οἱ προφῆται ἕως Ἰωάννου), und ebenso verständlich hat er ihn in dem Spruch Luk. 16. 17 getilgt und dafür τῶν λόγων μου eingesetzt; denn nicht das Gesetz, sondern die Worte des Erlösers sind dauernder als Himmel und Erde. Dagegen ist es sehr bemerkenswert, daß er die Perikope 10. 25 ff. nicht nur nicht getilgt, sondern beibehalten und so korrigiert hat ¹, daß Jesus es ist, der da sagt, daß im Gesetz geschrieben steht, man solle Gott
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ist M.s Text nicht sicher und nicht durchsichtig), 14, 21 (hier ist eine Verheißung des Gesetzes auf die neue Zeit übernommen, wenn sie auch von M. gewiß anders gedeutet wurde), 14, 34 (hier wird das Verbot des Auftretens von Frauen in den Versammlungen durch das analoge im AT verstärkt). Zweitens ist Röm. 8, 4 beibehalten, daß sich τὸ δικαίωμα τοῦ νόμου in den Erlösten erfüllt habe. Drittens wird νόμος mehrmals als Gesetz des guten Gottes beibehalten; s. Röm. 8, 2 (ὁ νόμος τοῦ πνεύματσς τῆς ζωῆς), 8, 7 (τὸ φρόνημα τῆς σαρκός > ὁ νόμος τοῦ θεοῦ), 13, 9 f. (hier werden — das ist von besonderer Wichtigkeit — erst die Gebote der zweiten Gesetzestafel aufgezählt, und dann wird gesagt, daß sie in dem Liebesgebot zusammengefaßt seien und daß   d e s h a l b   d i e   L i e b e   d e s   G e s e t z e s   E r f ü l l u n g   s e i;   es steckt also im Gesetz des Schöpfergottes doch etwas, was unverwerflich ist, so daß es vom guten Gott als sein Gesetz anerkannt werden kann; s. auch den beibehaltenen Vers Gal. 5, 14, daß sich das ganze Gesetz in dem Liebesgebot erfülle) und Gal. 6, 2 (ὁ νόμος τοῦ Χριστοῦ, der inhaltlich sich mit der tätigen Nächstenliebe deckt, die auch im Gesetz des Weltschöpfers enthalten ist). Andrerseits aber hat M. Ephes. 6, 2 bei den Worten: τίμα τὸν πατέρα σου καὶ τὴν μητέρα σου, den paulinischen Zusatz: ἥτις ἐστιν ἐντολὴ πρώτη ἐν ἐπαγγελίᾳ, getilgt; denn diese Verheißung eines langen Lebens war ihm anstößig; auch war es ihm gewiß willkommen, die ausdrückliche Erinnerung an das Gesetz, ein einzelnes Gebot betreffend, zu vermeiden. — Von hier aus (d. h. von der Erkenntnis aus, daß M. eine doppelte Gutheit unterscheidet, da er auch im νόμος etwas Gutes anerkennt) versteht man es erst, daß er vom Erlösergott sagt, er habe die Menschen erlöst — nicht „bonitate“, sondern vielmehr   „s u m m a   e t   p r a e c i p u a   bonitate“ (Tert. I, 17; vgl. I, 23:   „p e r f e c t a   e t   p r i n c i p a l i s   bonitas“).
    ¹ So nach Tert.; nach Epiphanius lasen die Marcioniten hier den kanonischen Text.   Z a h n   (s. S. 206* f.) bestreitet, daß Tert. hier anders als Epiphanius gelesen hat.


111 Das Christentum Marcions

den Herrn von ganzem Herzen lieben usw. Jesus selbst zitiert hier also das Gesetz, und zwar beifällig; M. muß also der Meinung gewesen sein, daß die „Hauptsumme“ des Gesetzes richtig ist; freilich hat hier Jesus im stillen den wichtigen Vorbehalt gemacht, daß der   E r l ö s e r g o t t   der Gegenstand der Liebe sei; indessen hat er sich doch an das Wort des Gesetzes angeschlossen ¹. Noch wichtiger ist Luk. 16, 29 f.: Jesus sagt hier dem reichen Mann in bezug auf seine noch lebenden und prassenden Brüder, sie sollen Moses und die Propheten hören; denn selbst ein Auferstandener würde bei ihnen nichts ausrichten können, wenn sie die Predigt jener in bezug auf die Barmherzigkeit gegen den Nächsten in den Wind schlügen.   D a s   b e d e u t e t   d o c h   e i n e   o  f f e n b a r e   A n e r k e n n u n g   d e s   W e r t e s   d e s   G e s e t z e s    g e g e n ü b e r   d e m   S c h l e c h t e n   u n d   d e r   S ü n d e,   die weit über die langmütige Akkommodation an das Gesetz herausgeht, die Jesus nach M. auch geübt hat, indem er (Luk. 5, 14) dem Aussätzigen befahl, sich dem Priester zu zeigen.   E s   m u ß   d a h e r   k o n s t a t i e r t   w e r d e n,   d a ß   n a c h   M.   d i e   b e i d e n    G ö t t e r   d a r i n   ü b e r e i n s t i m m e n,   d a ß   s i e   b e i d e   d a s   S c h l e c h t e   f ü r   s c h l e c h t   u n d   d i e   G o t t e s-   u n d   N ä c h s t e n l i e b e   f ü r   g u t   e r k l ä r e n ².
    Ähnlich wie mit νόμος steht es mit δίκαιος, δικαιοσύνη, δικαιοῦν.   D i e   G e r e c h t i g k e i t   i s t   n u r   i n   d e r   A r t,   w i e   s i e   d e r   W e l t s c h ö p f e r   a u s ü b t,   v e r w e r f l i c h;   aber an und für sich ist sie es nicht. Daher liest man bei M. nicht nur δίκαιον παρὰ θεῷ (I Thess. 1, 6),
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    ¹ Das entspricht der Beibehaltung der paulinischen Stellen Gal. 5, 14 und Röm. 13, 9, daß die Liebe die Erfüllung des Gesetzes sei (s. o.). Die obige Stelle erklärte M. so, daß er Christus die Frage so beantworten ließ, wie sie von dem Fragenden gestellt war, der nur das rechte Mittel wissen wollte, um ein langes irdisches Leben zu erwerben; aber Christus legte für die, die ihn verstehen, den Gedanken hinein: „Ex dei dilectione consequimur vitam aeternam“.
    ² Lehrreich ist in diesem Zusammenhang M.s Antithese in bezug auf die Ehe, die er doch für die Christen ganz verwirft: Christus verbietet die Ehescheidung; Moses aber wird deshalb von M. getadelt, weil er sie zuläßt (s. Tert. IV. 34 zu Luk. 16, 18 und V, 7 zu I Kor. 7, 1 ff.). Nach M. soll also die Ehe untrennbar sein, wenn sie geschlossen ist, d. h. er erkennt ein bedingtes Recht der Ehe an.


112 Das Christentum Marcions

sondern auch δικαιοσύνη θεοῦ ἐν εὐαγγελίῳ ἀποκαλύπτεται (Röm. 1, 17) οὐχ οἱ ἀκροαταὶ τοῦ νόμου δίκαιοι παρὰ τῷ θεῷ ... ἀλλ’ οἱ ποιηταὶ δικαιωθήσονται (Röm. 2, 13), δικαιωθέντες ἐκ πίστεως (Röm. 5, 1), οὐ δικαιοῦται ἄνθρωπος ἐξ ἔργων νόμου ... ἀλλ’ ἐκ πίστεως (Gal. 2, 16; cf. 3, 11), τὸ δικαίωμα τοῦ νόμου πληρωθῇ (Röm. 8, 4), εἰς δικαιοσύνην παντὶ τῷ πιστεύοντι (Röm. 10; 4), τί δὲ καὶ ἀφ’ ἑαυτῶν οὐ κρίνετε τὸ δίκαιον (Luk. 12, 57), ἐκδίκησις vom guten Gott (Luk. 18, 7), δεδικαιωμένος vom Zöllner (Luk. 18, 14). Am lehrreichsten ist hier aber, daß M. Luk. 13, 28 die Erzväter getilgt (denn sie sind nicht im Reiche Gottes zu erblicken), aber dafür unbefangen „οἱ δίκαιοι“ eingesetzt hat. Hieraus ist evident, daß er die Bezeichnung „die Gerechten“ für die, welche der gute Gott annimmt, so wenig gescheut hat, wie die Gerechtigkeit als Eigenschaft und Forderung ebendieses guten Gottes. Dieser ist gut und deshalb auch gerecht ¹, dem Weltschöpfer aber fehlt die barmherzige Güte, und daher muß seine Gerechtigkeit notwendig zur Härte, Grausamkeit und bei seiner exklusiven Vorliebe für sein erwähltes Volk zur Ungerechtigkeit werden ². Daneben ist diese „Ge-
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    ¹ Besonders willkommen ist, daß durch den Bericht des Esnik (S. 376*) noch ausdrücklich bestätigt wird, daß die wahre Gerechtigkeit beim „fremden“ Gott ist. Jesus spricht zum „gerechten“ Gott: „Ich bin mit Recht gerechter als du und habe große Wohltaten getan an deinen Geschöpfen“.
    ² I Kor. 1, 30 (Christus zur Gerechtigkeit gemacht) scheint bei M. trotz Adamantius gefehlt zu haben; in Luk. 14, 14 hat M. τῶν δικαίων nach τῇ ἀναστάσει wahrscheinlich ausgelassen. In Röm. 1, 17 hat er καθὼς γέγραπται˙ Ὁ δὲ δίκαιος ἐκ πίστεως ζήσεται getilgt, aber nur, weil der Spruch als Schriftwort eingeführt war; Gal. 3, 11 hat er unbefangen den Apostel schreiben lassen: Μάθετε ὅτι ὁ δίκαιος ἐκ πίστεως ζήσεται. Röm. 10, 3 hat er zwar θεὸν ὰγνοοῦντες für ὰγνοοῦντες τὴν τοῦ θεοῦ δικαιοσύνην eingesetzt, aber dann τῇ δικαιοσύνῃ τοῦ θεοῦ οὐχ ὑπετάγησαν ruhig beibehalten. — Wer diese Marcionitische Dialektik in bezug auf die ethischen Hauptbegriffe („gerecht“, „gut“ usw. ) als für jene Zeit unglaubwürdig beanstandet, der hat die Ausführungen des Valentinianers Ptolemäus (Ep. ad Floram c. 5 bei Epiph. haer. 31, 7) vergessen, die gerade dieselbe Dialektik enthalten (Ob unabhängig von M.? Schwerlich.): „Wenn der vollkommene Gott gut ist gemäß seiner Naturbeschaffenheit, wie er es denn auch ist — denn unser Heiland hat von seinem Vater, den er offenbart hat, gesagt,   d a ß   e r   e i n z i g   u n d   a l l e i n   d e r   g u t e   G o t t   s e i —, wenn aber ferner der mit der Natur des Widersachers behaftete Schlechte und Schlimme   d u r c h   d i e   U n g e r e c h t i g k e i t


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rechtigkeit“ durch die „pusillitates“ und die anstößigen Liebhabereien übel entstellt; für M. war die Forderung der Beschneidung das widerlichste Stück unter ihnen; Origenes berichtet uns, M. habe sie wiederholt verhöhnt, und hat uns eine interessante Kritik M.s an ihr aufbewahrt (s. S. 309* f.), aus der hervorgeht, daß der Kritiker nicht nur die Geschmacklosigkeit des Weltschöpfers getadelt hat, sein Bundeszeichen an die obszöne Stelle zu setzen, auch nicht nur den Widerspruch, einen Körperteil zu schaffen und ihn alsbald entfernen zu lassen, sondern auch das Blutvergießen. Andrerseits hat er eine Einrichtung wie die des Passah nicht so detestiert, daß er von ihr nicht mehr geredet wissen wollte; vielmehr hat er I Kor. 5, 7 den Satz stehen gelassen: Τὸ πάσχα ἡμῶν ἐτύθη Χριστός.
    Die Prophetie als solche hat M. so wenig verworfen (s. I Thess. 5, 20; I Kor. 11, 5; 12, 10) wie die Gerechtigkeit und das Gesetz (im Sinne des Liebesgebots); aber von den ATlichen Propheten wollte er nichts wissen. Das zeigen zahlreiche Stellen, an denen er ihre Erwähnung getilgt hat. In seinem Apostolos lassen sie sich nur I Thess. 2, 15 nachweisen („die auch den Herrn Christus getötet haben und ihre eigenen Propheten“). Daß die Juden ihre eigenen Propheten getötet haben, hat er auch im Evangelium tadelnd stehen gelassen (Luk. 6, 23; 11, 47), um ihre Schlechtigkeit zu erweisen; denn er hielt Moses und die Propheten, obgleich sie ausschließlich dem Schöpfergott anhingen ¹, doch für moralisch besser als die sich wider sie auflehnende und
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charakterisiert wird, so durfte der, der als Mittlerer zwischen ihnen steht und weder gut noch schlecht noch ungerecht ist,   i m   e i g e n t ü m l i c h e n   S i n n   „g e r e c h t“   heißen, indem er der Leitende   i n   d e r   G e r e c h t i g k e i t   i s t,   w i e   e r   s i e   v e r s t e h t.   Dieser Gott nun wird niedriger sein als der vollkommene Gott und geringer als die   G e r e c h t i g k e i t   j e n e s“.   Der höchste Gott ist also gut und gerecht, und der Weltschöpfer hat eine Gerechtigkeit, wie er sie versteht.
    ¹ Daher konnte M. (Luk. 10, 24) nicht stehen lassen, daß „die Propheten das sehen   w o l l t e n,   was ihr sehet“; er schrieb daher: „sie haben nicht gesehen, was ihr sehet“. Ebenso mußte er die Stellen tilgen, an denen zu lesen stand, daß der Vater Jesu Christi die Propheten gesandt habe (Luk. 11, 49 usw.), daß sich alles erfüllen werde, was von den Propheten geschrieben worden (Luk. 18, 31), und daß es eine Herzenshärtigkeit sei, dem Prophetenwort den Glauben zu verweigern (Luk. 24, 25; er setzte dafür das Herrenwort ein).


114 Das Christentum Marcions

in heidnisches Leben zurückfallende Masse des mörderischen jüdischen Volks. Wie das Gesetz, so haben auch die Propheten Anweisungen und Lehren gegeben, die die Zuchtlosen und Unbarmherzigen hören sollten (s. S. 111: „sie haben Moses und die Propheten“); der Name „Prophet“ ist ein Ehrenname, und der Täufer wird von Jesus dadurch hoch gewertet, daß er ihn als den größten Propheten bezeichnet (7, 28), bei dem Gesetz und Propheten ihren Abschluß gefunden haben (Luk. 16, 16). Freilich soll man gerade an diesem größten Propheten erkennen, wie blind sie alle waren; denn er kannte den guten Gott nicht, nahm an Christus ein schweres Ärgernis und lehrte seine Jünger zum Weltschöpfer beten, weshalb im Kreise der Christusjünger dieses Gebet unmöglich war und sie sich ein eigenes Gebet von Christus erbitten mußten (M. zu Luk. 11, 1). Hier aber entsteht nun eine schwere Aporie: wenn Johannes ganz und gar zum Weltschöpfer gehört, wie durfte M. den Vers 7, 27 stehen lassen ¹, in welchem sich Jesus mit γέγραπται auf Mal. 3, 1 beruft und den Täufer als seinen Wegbereiter bezeichnet? Beides scheint doch im Sinne M.s unerträglich, sowohl die Berufung auf das AT (eine echte Weissagung bietend), als auch die Verkündigung, der Täufer sei der Wegbereiter Jesu!
    Die zweite Schwierigkeit läßt sich durch die Erwägung beseitigen, daß der Täufer als großer Asket von M. als Vorläufer Jesu in diesem Stück anerkannt werden konnte; in dieser Hinsicht ist es wichtig, daß M. 7. 33. 34 (den Gegensatz des Asketen Johannes und des essenden und trinkenden Jesus) wahrscheinlich getilgt hat. Um die erste Schwierigkeit aber zu heben, müssen die Stellen ins Auge gefaßt werden, an denen M. γέγραπται stehen gelassen hat ² oder sich ohne diese Formel auf das AT beruft.
    In Lukas 6, 1 ff. beruft sich Jesus für das Verhalten seiner Jünger auf David und die Schaubrote gegenüber den Vorwürfen der Juden,
    in Luk. 10, 26 (s. o. S. 110 f.) erkennt Jesus das ATliche Gebot der Gottesliebe an,
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    ¹ Daß er den Vers stehen gelassen hat, ist sicher.
    ² Die Ausdrücke ἡ γραφή, αἱ γραφαί finden sich im NT M.s nirgendwo. — Getilgt hat er γέγραπται an mehreren Stellen, s. Röm. 1, 17; 12, 19; II Kor. 4, 13, wohl auch 2, 24 und I Kor. 15, 45, usw.


115 Das Christentum Marcions

    (in Gal. 3, 11 [s. o. S. 112] wird die Habakukstelle angeführt, aber nicht gesagt, daß sie dem AT entstamme),
    in Gal. 3. 13 bot M.: γέγραπται˙ Ἐπικατάρατος πᾶς ὁ κρεμάμενος ἐπὶ ξύλου, und sah diese Stelle als in Christus erfüllt an,
    Gal. 4, 22 ist es zwar nicht ganz sicher, daß γέγραπται von M. stehen gelassen worden ist, ganz sicher aber ist, daß er die beiden Söhne Abrahams ausgedeutet hat,
    Eph. 5, 31 hat M. das Zitat Gen. 2, 24 stehen gelassen; es ist allerdings nicht ausdrücklich als solches bezeichnet,
    Eph. 6, 2 (s. o. S. 110) hat Marcion die dem AT entnommenen Worte τίμα τὸν πατέρα σου beibehalten; sie waren nicht als Zitat bezeichnet; v. 2 b hat er getilgt,
    I Kor. 1, 19 hat M. stehen gelassen: γέγραπται γάρ˙ Ἀπολῶ τὴν σοφίαν κτλ.,
    I Kor. 1, 31 ist καθὼς γέγραπται˙ Ὁ καυχώμενοσ κτλ. stehen gelassen,
    I Kor. 3, 19 ebenso: γέγραπται γάρ˙ Ὁ δρασσόμενος τοὺς σοφοὺς ἐν τῇ πανουργίᾳ αὐτῶν, und ebenso v. 20: Κύριος γινώσκει τοὺς διαλογισμοὺς κτλ. Das sind doch klare Aussagen über den guten Gott.
    I Kor. 5, 7 (s. o.) ist Christus als unser Passah bezeichnet,
    I Kor. 9, 9 liest man bei M.: ἐν γὰρ τῷ Μωσέως νόμῳ γέγραπται˙ Οὐ φιμώσεις κτλ., ja noch mehr: es ist auch das Folgende stehen geblieben ¹: ἢ δι’ ἡμᾶς πάντως λέγει; δι’ ἡμᾶς γὰρ ἐγράφη κτλ.,
    I Kor. 10, 1—6. Dieser ganze Abschnitt ist beibehalten, also auch daß Christus die Speise und der Trank und der mit wandernde Fels gewesen ist; beibehalten ist auch. v. 11, aber wahrscheinlich in folgender Fassung: ταῦτ’ ἀτύπως συνέβαινεν ἐκείνοις, ἐγράφη δὲ πρὸς νουθεσίαν ἡμῶν (oder: ταῦτ’ καθὼς συνέβαινεν ἐκείνοις, ἐγράφη πρὸς νουθεσίαν ἡμῶν),
    I Kor. 14, 21 beibehalten: ἐν τῷ νόμῳ γέγραπται, ὅτι Ἐν ἑτερογλώσσοις κτλ.,
    I Kor. 15, 54 beibehalten: τότε γενήσεται ὁ λόγος ὁ γεγραμμένος˙ Κατεπόθη κτλ.,
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    ¹ Z a h n   ist zweifelhaft; aber nach Tert. V, 7 (s. auch III, 5) kann man nicht zweifeln.


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    Ephes. 5, 31 ist das allerdings als solches nicht bezeichnete Zitat Gen. 2, 24 beibehalten ¹.
    Da man nicht annehmen kann, daß M. alle diese Stellen „übersehen“ hat oder erst später korrigieren wollte — eine Annahme, die bei einigen von ihnen schon deshalb ausgeschlossen ist, weil er an ihnen korrigiert hat —, so folgt, daß die Beobachtung die wir schon bei dem „Gesetz“ gemacht haben, erweitert werden muß. Folgendes ist festzustellen:
    M. hat das AT zwar als Buch des Weltschöpfers verworfen, aber gelehrt, daß (wie es ja auch kein Lügenbuch ist, und wie es in seinem Gesetz dem Schlechten und der Sünde gegenüber Richtiges enthält)   m a n c h e s   i n   i h m   π ρ ὸ ς   ν ο υ θ ε σ α ί ν   f ü r   u n s   g e s c h r i e b e n   ist; deshalb enthält es auch Geschichten, aus denen wir, so wie sie geschehen sind, lernen können ², ferner andere, die der   A p o s t e l   typisch auslegen durfte (wir dagegen sind zu allegorischen Auslegungen nicht berechtigt), endlich sogar solche, die Jesus Christus erfüllt hat; denn in seiner Geschichte hat es sich erfüllt, daß ein Wegbereiter vorangegangen ist; er ist das Passahlamm, und durch seine Auferstehung ist das Wort wahr geworden: „Der Tod ist verschlungen in den Sieg“. Wenn es nun aber sicher ist, daß der Schöpfergott von dem guten Gott schlechterdings nichts gewußt hat, also auch nicht auf ihn hin weissagen konnte, so bleibt nur die Annahme übrig, entweder daß der gute Gott schon vor seiner Erscheinung in Christus in verborgener Weise die Hand im Spiele der ATlichen Urkunde gehabt und in das Buch leise eingegriffen hat — aber diese Auskunft ist sehr mißlich — oder daß der Weltschöpfer unwissentlich oder vermessen Dinge gesagt und Aussagen gemacht hat, die ihm nicht zukommen und die ihre Wahrheit erst beim guten Gott erhalten haben. Auch diese Annahme ist unbequem; denn sie stört die einfachen Linien, in denen sonst die Anschauung M.s vor uns liegt; allein sie ist m. E. unvermeidlich, und sie hat ihre Analogie an der Auffassung der Antike, daß auch böse Dämonen in einigen Fällen imstande sind, Richtiges zu weissagen.
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    ¹ Dies und die Konservierung der ganzen Stelle Ephes. 5, 22—32, die M. größtenteils sehr unsympatisch sein mußte, ist sehr auffallend. Über das wahrscheinliche Motiv der Beibehaltung s. Cap. VII.
    ² Man vgl. auch Stellen wie Luk. 12, 27 (Salomo), 13, 16 (Tochter Abrahams) usw.


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    Dagegen war M.s Anschauung vom jüdischen Messias im Unterschied von Jesus Christus ganz eindeutig: dieser wird noch kommen (nicht unter dem Namen Jesus, der im AT nicht geweissagt ist, Tert. III, 15), daher haben die Juden vollkommen recht, ihn noch zu erwarten; er wird ein kriegerischer Held sein — schon deshalb war er dem M. verwerflich, der ein ausgesprochener Gegner von Blutvergießen und Krieg war — und das sichtbare Herrlichkeitsreich der Juden aufrichten. Doch kann seine Wirksamkeit nur eine zeitlich begrenzte sein; denn den zu erhoffenden Abschluß wird Jesus Christus bringen ¹.
    Dies sind die Grundzüge der Anschauungen M.s vom Weltschöpfer als Gesetzgeber und Geschichtslenker. Vermißt man eine straffe Einheitlichkeit, so ist zu bedenken, daß der Weltschöpfer ja ein widerspruchsvolles Wesen sein soll ²; dazu erinnere man sich, daß M. kein Lehrsystem aufgestellt, sondern
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    ¹ Das Nähere s. S. 290*. Nach M. sind zahlreiche „messianische“ Weissagungen nicht messianisch, sondern haben sich bereits in David, Salomo, Ezechias usw. erfüllt. Die messianischen Hauptpunkte sind folgende: (1) Der Messias wird ein purer Mensch sein aus dem Stamme Davids, (2) er ist lediglich für das Judenvolk bestimmt, um es aus der Zerstreuung zurückzuführen; nur solchen Heiden, die Proselyten werden, kommt seine Erscheinung zugut. (3) Wenn er erscheint, werden sich die Reiche und Völker gegen ihn auflehnen; er aber wird sie besiegen und die Völker mit eiserner Rute weiden; denn er wird ein „militaris et armatus bellator“ sein. (4) Daß er noch nicht erschienen ist, zeigen die Details der jesajanischen Weissagung auf ihn, die sich noch nicht erfüllt haben, sowie die Reiche der Welt, die zur Zeit noch bestehen. — Der Christus des guten Gottes hat ausdrücklich vor ihm gewarnt (Tert. IV, 38 zu Luk. 21, 8).
    ² Abgesehen von den großen Widersprüchen im Wesen des Weltschöpfers, die ihn zu widersprechenden Anordnungen und Gesetzen führten, sind es ganz deutlich die „pusillitates“ in seinem Wesen (also auch im Wesen der Welt), die M. zu besonderem Anstoß gereichten. Er muß eine großzügige Natur gewesen sein, dabei aber, wie bereits bemerkt, außerordentlich nervös in bezug auf die Widerwärtigkeiten und Kleinlichkeiten der Welt und des Lebens. Hierzu kam sein starker Abscheu vor Blutvergießen und Krieg; er war, so würde man heute sagen, Pazifist, und das AT war ihm vor allem auch um seines kriegerischen Geistes willen ein fatales Buch. Endlich war ihm die Juden-Vorliebe dieses Gottes unbegreiflich und widerwärtig, da dieses Volk doch nach seinem eigenen heiligen Buch ein besonders schlechtes ist.


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als streng biblischer Theologe lediglich gegebene Texte teils korrigiert, teils aufklärende Auslegungen zu ihnen gestellt hat, endlich ist nicht zu vergessen, daß er eine reformatorische Revisionsarbeit unternommen hat, die ihrer Natur nach eine Vollendung nicht zuließ.

4. Der Erlösergott als der fremde und als der obere Gott.

    Die Erfahrung, die M. am Evangelium gemacht hatte: „O Wunder über Wunder, Verzückung, Macht und Staunen ist, daß man gar nichts über das Evangelium sagen, noch über dasselbe denken, noch es mit irgend etwas vergleichen kann“, gab ihm die Gewißheit, daß es etwas schlechthin Neues sei, und er wußte sich in dieser überschwenglichen Erfahrung mit dem Apostel Paulus aufs engste verbunden. Ist dieses Evangelium aber in seiner Botschaft und in seinen Wirkungen („Neue Kreatur“) vollkommen neu, so muß auch sein Urheber ein bisher   u n b e k a n n t e r   Gott sein („novus utique agnitione“, Tert. I, 9): „Ein neuer Gott ..., in der alten Welt und in der alten Weltzeit und unter dem alten Gott unbekannt, den Jesus Christus — auch er ein neuer unter dem alten Namen — offenbart hat und keiner vorher“ (I, 8). Aber nicht nur unbekannt war dieser neue Gott, sondern auch   f r e m d,   ja er ist   „d e r   Fremde“; denn Welt und Geschichte lehren, daß er sich vor Christus niemals offenbart hat, und die Erfahrung lehrt, daß kein Mensch von Natur etwas von ihm weiß (V, 16: „Deus Marcionis   n a t u r a l i t e r   ignotus nec usquam nisi in evangelio revelatus“) und daß ihn kein naturhaftes Band mit den Menschen verbindet. Dies wird durch den Offenbarer dieses neuen Gottes ausdrücklich bestätigt; denn in feierlicher Rede hat Er verkündet, daß niemand Seinen Vater kenne als Er, der Sohn, und wem Er es offenbaren wolle (Luk. 10, 22), und Er hat ferner gesagt, man solle seine Feinde lieben, d. h, den Gott nachahmen, der durch seine Erlösung („nova et hospita dispositio“ I, 2) „extraneos et hostes“ erkauft und befreit hat — „suos et amicos“ aber erkauft man nicht: „Christus magis adamavit hominem, quando alienum redemit“ (Tert., De carne 4) ¹. Durch die Jahrhunderte hindurch, solange die Marcioni-
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    ¹ Tert. I, 23: „Deus processit in salutem hominis alieni ... haec est principalis et perfecta bonitas, cum   s i n e   u l l o   d e b i t o   f a m i l i a r i


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tische Kirche bestanden hat und in allen Sprachen, welche die Marcioniten sprachen, blieb „der   F r e m d e“   bzw. „der gute Fremde“ der eigentliche Name für ihren Gott. Umgekehrt hießen vom Standpunkt Gottes auch die Menschen „die Fremden“. Daß sie dennoch zusammengekommen waren und die Fremden zu Kindern Gottes geworden sind, das war das kündlich große Geheimnis dieser Religion.
    Da aber dieser unbekannte Gott als ein fremder Gast in die ihm fremde Welt durch eine fremde, weil neue und unerhörte „dispositio“ eingetreten ist, so mußte der Gott dieser Welt sein schärfster Widersacher werden; denn der Fremde entführte ihm ja seine Kinder und störte seine Vorsehung und Weltleitung. Von seinem Erscheinen ebenso überrascht wie das Judenvolk und die Menschheit, mußte er ihn mit allen Mitteln bekämpfen.
    Obschon jeder von den beiden „deus“ und „pater“ ist und heißt (auch „der Fremde“, der das   U n s i c h t b a r e   geschaffen hat, besitzt seinen Himmel und seine Welt, die ihrer Substanz nach dem Auge und Ohr unzugänglich sind), ist doch der Kampf zwischen ihnen ein sehr ungleicher; denn „der Fremde“ ist, weil er das Größere geschaffen, auch „der Größere“ und der Schöpfergott ist der   G e r i n g e r e.   Jener ist der deus superior (sublimior) und residiert in seinem dritten Himmel hoch über dem Weltschöpfer, von dem er durch eine infinite Distanz geschieden ist. „Der Fremde“ ist von all den Beschränkungen frei, welche der Weltschöpfer aufweist; er kannte den Weltschöpfer von Anfang an, und er brauchte keinen Stoff, um schaffen zu können; nur er ist wirklich „super omnia“; der Weltschöpfer ist „deus saeculi huius“, aber „der Fremde“ ist „deus, qui est super omnem principatum et initium (ἀρχή) et potestatem“ ¹. Also ist jener
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in extraneos voluntaria et libera effundatur, secundum quam inimicos quoque nostros et hoc nomine iam extraneos diligere iubeamur“. Iren. III, 11, 2: „Christus non in sua venit, sed in aliena“.
    ¹ „Deus, qui est super omnem principatum et initium (ἀρχήν) et potestatem“ muß eine solenne Bezeichnung M.s für diesen Gott gewesen sein; denn Irenäus berichtet so (III, 7, 1), Und nach Tertullian hat M. in Gal. 4, 26 die Worte eingeschoben: ἄλλη (scil. göttliche Veranstaltung) δὲ ὑπεράνω πάσης ἀρχῆς γεννῶσα καὶ δυνάμεως καὶ ἐξουσίας. Wahrscheinlich hat Iren. diesen Marcionitischen Text gekannt. — Aus der vollen Gottheit dieses Gottes ergibt sich auch, daß er „tranquillus“, nicht


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diesem gegenüber „in deminutione“, d. h. es stehen sich keineswegs zwei   g l e i c h e   Gottheiten gegenüber, sondern eine stärkere und eine schwächere („nomine magnitudinis et nomine benignitatis praelatior deus ignotus creatore“, Tert. I, 8), und dieser schwächere Gott ist so sehr an seinen Himmel und an seine Erde gebunden, daß, wenn sie zergehen, auch er notwendig vergehen muß ¹.
    Der Tatbeweis seiner Schwäche aber ist, daß „der Fremde“, ungehindert von seinem Himmel durch den des Weltschöpfers zur Erde niedersteigt und dem Weltschöpfer alsbald die Herrschaft streitig macht und ihm seine Kinder entzieht. „Den Teufel hat er besiegt und die Lehren des Weltschöpfers abgetan“ (Adamant., Dial. I, 4); er ist der Stärkere, der den Starken überwindet (Tert. IV, 26); er gebietet auch den Elementen des Weltschöpfers, dem Meere und den Winden (IV, 20); er steigt selbst in die Unterwelt seines Gegners nieder und bringt seine Erlösung auch dorthin. Am Ende der Dinge wird sich seine Superiorität definitiv offenbaren, während sie zur Zeit noch gehemmt ist (s. den nächsten Abschnitt). In dem Glauben an   G o t t   als den   F r e m d e n,   als den   O b e r e n   und als den   E r l ö s e r   empfand M. die Distanz und die hilfreiche Kraft der Gottheit zugleich — das trostvolle Wesen der neuen Religion; denn der Fremde ist zu uns gekommen, und er ist größer als die Welt mitsamt ihrem Gott und als unser Herz.
    In der „Fremdheit“, die zwischen   d e r   Gottheit, die es allein in Wahrheit ist, und der Welt besteht (also auch zwischen   d e r   Religion und allem menschlichen Sein und Tun), kombiniert mit der Gutheit, liegt die Eigenart der Religions- und Weltanschauung M.s. Ich weiß keine Belege dafür, daß vor ihm in der gesamten Religionsgeschichte irgend jemand etwas Ähnliches gelehrt hat ².
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affizierbar usw. ist, weshalb Gegner M. den stoischen Gottesbegriff zugeschrieben haben. Auch die „Geduld“ dieses Gottes hat M. hervorgehoben und u. a. aus ihr erklärt, daß er den Weltschöpfer so lange habe walten lassen (Tert. IV, 38; Celsus bei Origenes, VI, 52). Dagegen wird es diesem als Schwäche vorgerückt, daß er den Teufel usw. habe bestehen lassen.
    ¹ Die Belege für diese Ausführungen s. S. 274* f.
    ² Wenn sich in den Ausführungen des Porphyrius gegen Joh. 12, 31 (Fragm. 72 S. 90   m e i n e r   Ausgabe) u. a. auch der Satz findet: τίς δὲ ἡ αἰτία τοῦ βληθῆναι τὸν ἄρχοντα ἔξω ὡς ξένον τοῦ κόσμου; καὶ πῶς ξένος ὢν ἦρξε; — so hat das mit dem Gedanken M.s nichts gemein.


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5. Der Erlösergott als der gute Gott, seine Erscheinung in Jesus Christus und das Werk der Erlösung. Die Berufung des Apostels Paulus.

    Der obere Gott ist seinem inneren Wesen nach   g u t   („optimus et ultro bonus“ Tert. IV, 36) und nichts anderes als gut, ja die   G u t h e i t   selbst (Tert. I, 2 „sola et pura benignitas“, I, 26 „solitaria bonitas“, I, 23 „principalis et perfecta bonitas“, Orig., De princ. II, 5, 4: „proprium vocabulum patris Christi“, I, 25 „sola bonitas negatis ceteris adpendicibus sensibus et adfectibus“, „bonus et optimus“ usw.); diese Gutheit aber, durch welche dieser Gott „die Seligkeit und das Unvergängliche“ ist, „das weder sich noch irgend jemandem anderen Mühsal bereitet“ ¹ (Tert. I, 25), ist   e r b a r m e n d e   L i e b e.   So ganz und gar ist dieser Gott aber nur Gutheit, d. h. Liebe (I, 24: „Deus tantummodo et perfecte bonus“; I, 6: „tantummodo bonus atque optimus“; Esnik S. 179: „der Guttäter“), daß keine anderen Eigenschaften von ihm ausgesagt werden sollen, bzw. daß die, welche er noch hat, mit der Liebe eine Einheit bilden: er ist „spiritus“, aber „spiritus salutaris“ (I, 19); er ist „tranquillus“, „mitis“, „placidus“, er zürnt, richtet und verdammt schlechterdings nicht; er ist auch „iustus“, aber die Gerechtigkeit ist bei ihm die Gerechtigkeit der Liebe; er ist „sapiens“ usw., aber er ist das alles, weil er die Liebe ist, die als solche diese Eigenschaften einschließt ². Ebendeshalb kann es aber für diesen Gott kein anderes   W e r k   geben als   S e l b s t o f f e n b a r u n g,   und diese wiederum kann nichts anderes sein als   E r l ö s u n g ³   (Tert. I, 19: „Deus noster, etsi non ab initio,
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    ¹ Hier sieht man deutlich, in welchem Sinne der Weltschöpfer πονηρός ist.
    ² Die Eigenschaft der   W e i s h e i t   des Erlösergottes muß M. gern betont haben; Irenäus und Chrysostomus bezeugen es, und in I Kor. 1, 18 hat M. σοφία eingeschoben; aber die Weisheit war ihm die Weisheit der Liebe, die den Zweck erreicht, den der törichte und wilde Eifer des Weltschöpfers verfehlt.
    ³ Man könnte annehmen, daß M. lediglich aus der Not (weil er für seinen Gott keine sichtbare Schöpfung nachzuweisen vermochte) eine Tugend gemacht hat, indem er lehrte, daß die   E r l ö s u n g   die einzig würdige Art der Offenbarung des wahren Gottes sei; aber man würde ihm mit dieser Erklärung unrecht tun. Er hat klar erkannt, daß physische Schöpfungen nicht Beweise der Gutheit und Liebe sein können, sondern daß


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etsi non per conditionem, sed per semetipsum revelatus est in Christo Jesu“; I, 17: „Sufficit unum hoc opus deo nostro, quod hominem liberavit summa et praecipua bonitate sua“; I, 14: „Hominem, hoc opus dei creatoris, ille deus melior adamavit, propter quem in haec paupertina elementa de tertio caelo descendere laboravit, cuius causa in hac cellula creatoris etiam crucifixus est“; Adamant. I, 3: Συνεπάθησεν ὁ ἀγαθὸς ἀλλοτρίοις ὡς ἁμαρτωλοῖς˙ οὔτε ὡς ἀγαθῶν οὔτε ὡς κακῶν ἐπεθύμησεν αὐτῶν, ἀλλὰ σπλαγχνισθεὶς ἠλέησεν). An dieser Erlösung eben erkennt man, daß er der „Vater der Barmherzigkeit und Gott alles Trostes“ ist und genannt werden muß (Tert. V, 11).
    Weil der gute Gott aber die Sünder erlösen wollte, so brachte er seine Erlösung   d e r   g a n z e n   M e n s c h h e i t;   denn sie sind allzumal Sünder. Die Parteilichkeit für   e i n   Volk kennt er nicht, sondern er bringt eine universale Erlösung. Er erkannte aber auch, daß es mit der Welt und ihrem Schöpfer das   G e s e t z   ist, von welchem die Menschheit erlöst werden muß; weil es aber das Gesetz ist, so ist es auch der Gesetzgeber; denn beide fallen zusammen. Das Gesetz ist die Kraft der Sünde; das Gesetz hat den trostlosen Zustand der Menschheit verstärkt; das Gesetz ist eine furchtbare Last; das Gesetz hat die „Gerechten“ knechtisch, furchtsam und zum wahrhaft Guten unfähig gemacht, also muß es aufgehoben werden mitsamt dem ganzen Buch, in welchem es steht ¹.   D e r   g u t e   G o t t   k a m,   u m   d a s   G e s e t z   u n d   d i e   P r o p h e t e n   a u f z u l ö s e n,   nicht um sie zu erfüllen; er tut das durch das   E v a n g e l i u m,   um die Seelen zu erlösen.
    Wie aber das Gesetz der Gesetzgeber selbst ist, so ist das Evangelium Jesus Christus (V, 19: „M. segregat alii deo   l e g e m   et alii deo   C h r i s t u m“).   Wer ist dieser Jesus Christus? Marcion antwortet:

„Der Sohn des Vaters, Gott von Art,
Ein Gast auf der Welt hier ward,
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diese sich nur in erlösendem, liebevollem Wirken auszusprechen vermögen. Paul von Samosata hat dasselbe erkannt, aber nicht dieselbe Konsequenz gezogen.
    ¹ Tert. I, 19: „Separatio legis evangelii proprium et principale opus est Marcionis“.


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Er führt uns aus dem Jammertal
Und macht uns Erben in seinem Saal.“

    Wie der Weltschöpfer einen Sohn hat, den er demnächst auf die Erde schicken wird, so hat auch der gute Gott einen Sohn, der jenem Sohn zuvorgekommen ist; aber mit diesem „Sohn“ hat es eine andere Bewandtnis als mit jenem. Jener heißt nur uneigentlich Sohn, denn er wird ein Mensch aus Davids Stamm sein, der mit dem Geist seines Gottes gesalbt werden wird; auch dieser heißt nur uneigentlich Sohn; aber   e r   u n t e r s c h e i d e t   s i c h   v o n   s e i n e m   V a t e r   n u r   d u r c h   d e n   N a m e n;   denn „in Christo deus per semetipsum revelatus est“. Der Vater und der Sohn bilden ebenso eine Gleichung, wie der Sohn und das Evangelium.
    M. war Modalist wie andere urchristliche Lehrer, aber wahrscheinlich bewußter wie sie; er legte Gewicht darauf (wie der  Verf. des 4. Evangeliums), daß Christus sich selbst erweckt habe, und korrigierte das in die Texte (jedoch nicht konsequent) hinein. Als nachmals die modalistische Frage in der Kirche brennend wurde, stellten die Gegner des modalistischen Monarchianismus seinen sonst orthodoxen Vertretern die Marcioniten zur Seite, um jene dadurch zu diskreditieren (s. Beilage S. 391*.) ¹.
    Daß der Erlöser (Tert. I, 19: „spiritus salutaris“; Orig., Fragm. in Gal., T. V p. 266: „spiritalis natura“) sich Christus nannte, wie der vom Weltschöpfer Verheißene, war für M. unstreitig eine Verlegenheit, die durch die Auskunft (Tert. III, 15), daß er nur unter diesem Namen bei den Juden Eingang finden konnte, schlecht verhüllt ist ². Um so wichtiger war es M., daß der Name Jesus im AT nicht geweissagt war (l. c.). Eine Ver-
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    ¹ Über den Jesus- und Christus-Namen s. S. 154*. Sein Modalismus veranlaßte M. und später seine Anhänger, an einigen Stellen „Gott den Vater“ neben „Christus“ wegzulassen (s. zu Gal. 1, 1 und den gefälschten Laod. Brief) oder Christus für Gott-Vater zu setzen (s. den gefälschten Laod. Brief). Der Modalismus M.s ist ihm übrigens nicht eigentümlich. Er ist derselbe, zu dem sich zahlreiche Montanisten und noch der römische Bischof Zephyrin bekannt haben.
    ² Doch ist darauf hinzuweisen, daß Marcioniten noch im Anfang des 4. Jahrh. (Inschrift von Lebaba) den Namen Χρηστός schrieben und gewiß nicht übersehen haben, wie passend dieser Name für die persönliche Manifestation des guten Gottes ist.


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legenheit für ihn war auch die Selbstbezeichnung Jesu als „der Menschensohn“; er mußte sie allegorisch verstehen (s. Megethius, Dial. I, 7 zu Luk. 6, 22) ¹. Daß er die Bezeichnung „ὁ ἐπερχόμενος“ bevorzugt hat, ist begreiflich, wie er denn auch gern von der παρουσία (ἐπιδημία) des Erlösers gesprochen hat. Wie der gute Gott selbst, so hieß auch sein Christus bei den Marcioniten „der Fremde“.
    Ist der Erlöser nicht auch der Schöpfer und ist sein Erscheinen weder durch die Schöpfung noch durch die Geschichte noch durch Weissagungen ² vorbereitet, so konnte er nur unerwartet und plötzlich erscheinen; ferner, ist „das Fleisch“, weil aus der Materie stammend, grundschlecht, so konnte es der Erlöser, da er doch rein bleiben mußte, nicht annehmen und sich auch nicht der schmählichen Fortpflanzungsordnung unterwerfen ³; endlich die unsichtbare Substanz des oberen Gottes vermag sich in dieser unserer Welt nicht zu manifestieren . Hieraus folgt mit Notwendigkeit, daß die Geschichte Christi auf Erden erst mit seinem Auftreten als Erlöser anhebt, d. h. im 15. Jahr des Kaisers Tiberius, und daß er in einem Scheinleib erschienen ist .
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    ¹ Auch sonst sah sich M. an einigen wenigen Stellen des Evangeliums genötigt, sie allegorisch zu verstehen; so bemerkte er zum „Großen Abendmahl“: „Caeleste convivium spiritalis saturitatis et iocunditatis“ (IV, 31 zu Luk 14, 16 ff.), und „hoc est corpus meum“ deutete er in „figura corporis mei“ um (IV, 40).
    ² Man könnte wiederum vermuten, daß M. aus der Not eine Tugend gemacht habe (weil er Weissagungen — die nach der damaligen Auffassung den Wert autoritativer Zeugnisse besitzen — auf seinen Christus nicht nachzuweisen vermochte); aber man würde ihm auch hier unrecht tun. Nach der S. 285* mitgeteilten prägnanten Stelle bei Origenes unterliegt es keinem Zweifel, daß M. nur die Beweise des Geistes und der Kraft anerkannte und von autoritativen Zeugnissen nichts gehalten hat.
    ³ Auch die Kirche hat sie durch das Theologumenon von der Parthenogenesis zurückgestoßen, aber ursprünglich den Geburtsakt hingenommen, ihn jedoch später als natürlichen nicht mehr gelten lassen („perpetua virginitas Mariae“).
     Es scheint auch, daß M. oder seine Schüler bereits die Erwägung angestellt haben, daß der göttliche Erlöser nur durch eine „Konversion“ hätte Mensch werden können; wer sich aber konvertiert, hört auf, das zu sein, was er war; da nun das Unendliche nicht aufhören kann, kann es auch nicht konvertibel sein.
     „Non vere, sed visu sub specie quasi amplioris gloriae“ (Orig. T. V


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    „Doketismus“ bedeutete im antiken Zeitalter etwas anderes als heute, weil man die Konsequenzen nicht zog, die wir ziehen zu müssen glauben ¹. Verglichen mit den natürlichen Menschenleibern war der Leib Christi ein φάντασμα; aber wie die Engel, die zu Abraham kamen, nicht Gespenster waren, sondern als leibhaftige und wirkliche Menschen handelten und aßen ², so war auch Christus kein Gespenst ³, sondern der Gott trat in menschlicher Erscheinung auf und setzte sich selbst in den Stand, wie ein Mensch zu empfinden, zu handeln und   z u   l e i d e n,   obgleich die Identität mit einem natürlich erzeugten Fleischesleib nur scheinbar war, da die Substanz des Fleisches fehlte. Es ist also durchaus unrichtig, zu meinen, nach M. habe Christus nur scheinbar gelitten, sei nur scheinbar gestorben usw. So urteilten die Gegner; er selbst aber bezog hier den Schein nur auf die Fleischessubstanz . Natürlich nahm er nicht an, daß die Gottheit gelitten habe; aber daraus zu schließen, Leiden und Tod Christi seien ihm ein bloßes Schattenspiel gewesen, ist unrichtig. Zwar kann man es den Gegnern nicht verübeln, wenn sie mit Origenes in bezug auf M.s Lehre erklärten: Κατὰ φαντασίαν ἐδραματούργει ὁ Ἰησοῦς τὴν ἔνσαρκον αὐτοῦ παρουσίαν, ja es ist auch möglich, daß M. wörtlich gesagt hat: δοκήσει ὁ
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p. 283 f.). Beweise für den Doketismus fand M. zahlreich in dem Evangelium; s. seine Bemerkung zu Luk. 4, 30 usw.
    ¹ Der Doketismus war in jener Zeit auch ein Ausdruck dafür, daß Christus nicht Produkt seiner Zeit ist und daß das Geniale und Göttliche sich nicht aus der Natur heraus entwickelt.
    ² S. Tert. III, 9; De carne 3; Ephraem, Ev. Conc. Expos. p. 255. Man sieht auch hier, daß das AT, trotz seiner Ungültigkeit, nach M. uns zur Lehre dienen soll. Wenn er oder seine Schüler sich außerdem gegenüber den Einwürfen der Katholiken auf den h. Geist mit dem Taubenleib berufen haben, obwohl sie selbst die ganze Taufgeschichte nicht anerkannten, so war dies eine argumentatio ad hominem.
    ³ Nach dem Evangelium, wie M. es las, sind es die Jünger, die ihn nach der Auferstehung für ein φάντασμα hielten; Jesus will das aber sogar als Auferstandener nicht sein.
     Ebendeshalb traf ihn auch der Vorwurf der Gegner nicht, daß alles hier Täuschung und Betrug sei; vielmehr lediglich bei   d e m   Irrtum mußte Christus („satis erat ei conscientia sua“, Tert., De carne 3) seine Gegner lassen, daß er eine Fleischessubstanz habe. Nach Hippol., Refut. X, 19 war Christus „der innere Mensch“; aber das ist nicht deutlich.


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Χριστὸς πέπονθεν, allein dann bezog er δοκεῖν ausschließlich auf den als Fleischesleib vorgestellten Leib. Als biblischer Theologe hielt er sich an die Philipperstelle: ἐν ὁμοιώματι ἀνθρώπου γέγονεν. Sie war ihm die Grundstelle für die Lösung des hier vorliegenden Problems, und er lehrte deshalb, daß Christus in und an der menschlichen Gleichgestalt, in die er sich begeben hat, wirklich gelitten hat. Zum Heil der Menschen stieg er hernieder. Kann es eine größere Liebe und ein größeres Erbarmen geben als das, welches ihn vom Himmelszelt getrieben hat?   D i e   v e r f e h l t e   S c h ö p f u n g   e i n e s   w i d e r w ä r t i g e n   G o t t e s,   d i e   j ä m m e r l i c h e   M e n s c h h e i t,   u n d   i n   i h r   d i e   E l e n d e s t e n,   w i l l   e r   a u s   p u r e r   L i e b e   r e t t e n !   (s. die ergreifenden Worte De carne 4). Das, was nach Ursprung und Entwicklung dem Tode mit Recht verfallen war, weil es nichts Lebenswürdiges in sich hatte, will er zu ewigem Leben erlösen, und den Gott will er ins Unrecht setzen, der selbst da, wo er sein Recht verfolgt, alles verschlimmert und verdirbt.
    In Reden und in Taten (nova documenta dei novi) erwies er alsbald das unerhört Neue, das er brachte (nova benignitas, nova et hospita dispositio, nova patientia, nova liberalitas, nova vita). Er predigt das Reich Gottes ¹: aber man soll auch wissen: „in evangelio est dei regnum Christus ipse“ (Tert. IV, 33). Sich selbst brachte er also, bzw. seinen Vater, was dasselbe ist. In der neuen Gotteserkenntnis, die nur der Sohn mitteilt, ist alles beschlossen ². Auch die Form seiner Rede empfand M. als neu, „wenn er Gleichnisse entgegenwirft und Fragen widerlegt“ (IV, 11. 19) ³; M. besaß also Ohr und Sinn für die Genialität der
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    ¹ „Regnum dei Christus novum atque inauditum adnuntiavit“ (Tert. IV, 24). Diese Botschaft braucht ebensowenig einen „Beweis“, wie die ganze Erscheinung Christi; denn sie beweist sich durch ihren Inhalt und ihre Kraft selbst, wie auch die Worte und Taten Christi; s. vor allem Orig., Comm. II § 199 f. in Joh. (S. 285*).
    ² Zum großen Bekenntnis Jesu (Luk. 10, 21 f.): „Ipsam magnitudinem sui deus absconderat, quam cum maxime per Christum revelabat, in destructionem rerum creatoris, uti traduceret eas“ ... „ ,Omnia mihi tradita‘, i. e. omnes nationes“.
    ³ In der Parabelform sah M. die Jesu eigentümliche Redeweise. Damit muß man vergleichen, daß er ein scharfer Gegner der allegorischen Auslegungsmethode war. Ein in den Einzelzügen vollständiges Bild Christi nach M. vermögen wir deshalb nicht zu gewinnen, weil es an so vielen Stellen


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Reden Jesu und empfand den Kontrast ihrer Güte, Weisheit und Simplizität zu den peremptorischen, starren und kleinlichen Gesetzen des Weltschöpfers — die „novitas spiritus“ (V, 1) leuchtete ihm auf. Aber obwohl nach M. Christus deutlich ausgesprochen hat, daß er gekommen sei, das Gesetz und die Propheten aufzulösen, und obwohl sich all sein Tun offenbar in dieser Richtung bewegte, so hat er nach M. doch nicht unzweideutig erklärt: „Ich verkündige einen neuen Gott“, sondern hat die Konsequenz seinen Hörern überlassen. Mit Verwunderung hat dies Tertullian konstatiert (IV, 17), und es ist in der Tat verwunderlich. Aber das überlieferte Evangelium erlaubte nicht, Christo die offene Verkündigung zweier Götter zuzuschreiben. Die Zurückhaltung erklärte M. so, daß Christus auch hier seine Geduld und Langmut habe beweisen wollen; deshalb erlaubte er auch dem Aussätzigen, sich dem Priester zu zeigen (IV, 9), korrigierte die nicht, die seiner Wunder wegen den Weltschöpfer priesen (IV, 18) und ertrug die Mißverständnisse seiner Jünger, sogar das große des Petrus bei seinem Bekenntnis (IV, 21).
    Vor allem sah M. in den Seligpreisungen die „proprietas“ der Verkündigung Christi (IV, 14) und stellte sie als Magna charta der neuen Religion in den Vordergrund. In ihnen strömte für ihn die beseligende Liebe des Erlösergottes. Den Armen, Hungernden, Weinenden, Gehaßten, Geschmähten und Ausgestoßenen, also den Parias des gerechten Gottes ¹, bringt Christus mit dem Evangelium die Seligkeit. „In den Gesetzen des Gerechten wird das Glück den Reichen gegeben und das Unglück den Armen, im Evangelium aber umgekehrt.“ Man muß dazu das Verbot der Sorge um Irdisches stellen ², sowie weiter die
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zweifelhaft bleiben muß (s. S. 44 ff.), was er getilgt und was er stehen gelassen hat. Sehr wichtig ist es, zu wissen, daß er nicht nur die Taufe durch Johannes, die Versuchungsgeschichte, den Einzug in Jerusalem und die Tempelreinigung getilgt hat, sondern auch das Gleichnis vom verlornen Sohn; denn wie kann „der fremde Gott“ der Vater sein, in dessen Haus der reuige Sohn zurückkehrt? Daß die trostreichen Sprüche von der Fürsorge Gottes für die Sperlinge und für die Haare auf dem Haupt fallen mußten, war schlechthin notwendig.
    ¹ Den Zöllnern, s. seine Bemerkung zu Luk. 5, 27 ff.
    ² S. M.s Bemerkung zu Luk. 12, 22 ff.: „Christus deprecator creatoris non vult de eiusmodi frivolis (Nahrung, Kleidung usw.) cogitari“. Sehr


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förmlichen Antithesen, die M. in bezug auf das Verfahren des Schöpfers und Christi komponiert hat, um zu erkennen, wie ausschließlich er die Liebe, Güte, Geduld und Überweltlichkeit des neuen in Christus erschienenen Gottes erkannt sehen wollte: „In lege maledictio est, in fide vero benedictio“ (Tert. V, 3). Dabei sah er auch in der Universalität das Neue: „Creator quidem fratribus dari iussit, Christus vero omnibus petentibus“: „hoc est novum et diversum“ (IV, 16), sowie in der Schrankenlosigkeit der Vergebung, die nie ermüden darf (IV; 35. 38). Über die Universalität aber und die unbeschränkte Vergebung noch hinaus ist die Feindesliebe die charakteristische Note des Marcionitischen Christentums, weil sie allein mit der Liebesgroßtat des Gottes korrespondiert, der die „extranei et inimici“ erlöst, der noch dazu der Vater solcher zu werden begehrt, die der Auswurf der ihm fremden und armseligen Menschheit sind, der für seine Peiniger gebetet und seine Hände ausgestreckt hat — nicht um wie Moses viele zu töten, sondern viele zu retten.
    Freilich — die „Gerechten“ lassen sich nicht retten; denn sie sind ganz versunken in den Dienst des inferioren Gottes und in den Grundsatz „Auge um Auge, Zahn um Zahn“; wer diesem Grundsatz unbarmherzig folgt ¹, der ist verhärtet und erlösungsunfähig.
    Die Reden und Taten des Erlösers ² waren aber auch von den deutlichsten Beweisen seiner Macht begleitet: er heilt Un-
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merkwürdig ist daher, daß er Luk. 12, 30 f. stehen gelassen hat (οἶδεν ὁ πατήρ, ὅτι χρήξετε τούτων˙ ξητεῖτε δὲ τὴν βασιλείαν τοῦ θεοῦ καὶ ταῦτα [πάντα?] προστεθήσεται ὑμῖν). Wie mag M. die letzten Worte verstanden haben? Nach dem klaren Sinn, in welchem sie zu verstehen sind, gewiß nicht, und sicher würde man mit Unrecht aus ihnen folgern, daß M. eine spendende Vorsehung des guten Gottes in bezug auf irdische Dinge für seine Gläubigen angenommen habe.
    ¹ M. hat die Lehre des Weltschöpfers, die von den Pharisäern vertreten wird, auch als Hypokrisie beurteilt, weil sie das wahre Gute nicht kennt und etwas anderes dafür hält; s. zu Luk, 12, 1 (Tert. IV, 28): „Fermentum, quod est hypocrisis i. e. praedicatio creatoris“.
    ² Da M. bei dem Unternehmen, den Lukastext seiner Theologie anzupassen, möglichst konservativ verfuhr und Streichungen augenscheinlich unterließ, wo sie nicht unumgänglich nötig erschienen, so mußte er an vielen Stellen höchst gezwungene, ja sophistische Auslegungen bieten, Jesus auf anderes antworten lassen, als was die Fragenden gefragt hatten,


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zählige, ohne einer Materie zu bedürfen, nur durch das Wort, ja, selbst ohne Wort „tacita potestate et sola voluntate“ (Tert. IV, 9. 15. 35); er gebietet Wind und Wellen ¹, er kommt als der Stärkere über den Starken ², ja er dringt selbst in die Unterwelt des Weltschöpfers ein und führt die, welche ihm folgen, heraus, nämlich Kain und seinesgleichen, die Sodomiten, die Ägypter und ihresgleichen und überhaupt alle Heiden, die in jeglicher Bosheit gewandelt sind, die aber ihm entgegenliefen, als er bei ihnen erschien.
    Hier muß man stille halten; denn hier ist der Punkt, der nicht nur den Kirchenvätern als der Gipfel der blasphemischen Bosheit M.s erschien, sondern der auch uns heute noch anstößig ist, und doch ist nach den Prinzipien M.s alles in Ordnung.
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die Antworten umdeuten oder abschwächen, Fremdes in die Erklärung einmischen, anstößige, angeblich geduldige Akkommodationen Jesu annehmen, innerhalb einer und derselben Rede das Thema ändern, in ein und derselben Aussage verschiedene Subjekte annehmen und dergleichen; s. Beispiele zu Luk. 6, 23. 24 ff. 35; 7, 9; 9, 21; 10, 25; 11, 42 ff.; 12, 46; 17, 20 f.; 20, 27 ff.; 21, 25 ff.; 22, 70. Das Anstößigste ist, daß Jesus fort und fort das Dunkel darüber bestehen läßt, daß er der Sohn eines andern Gottes ist (s. o.; zur Erklärung ist auch das noch mangelnde Verständnis der Hörer von M. herbeigezogen worden). Auch beim Verhör habe er sich noch nicht als Sohn eines anderen Gottes bekannt, „ut pati posset“ (Tert. IV, 41 zu Luk. 22, 61 f.) und nach M. bei Ephraem, Evang. Conc. Expos. p. 122 f. soll er sogar noch beim Abendmahl seinen Leib deshalb zum Essen dargeboten haben, „ut magnitudinem suam absconderet et opinionem eis inderet, se esse corporalem, quia eum nondum poterant intelligere“. Ob das zuverlässig ist, ist ungewiß.
    ¹ Zu Luk. 8, 25 bemerkte M. (Tert. IV, 20): „Iste qui ventis et mari imporat,   n o v u s   d o m i n a t o r   a t q u e   p o s s e s s o r   e s t   e l e m e n t o r u m   s u b a c t i   i a m   e t   e x c l u s i   c r e a t o r i s“;   aber nur Proben seiner Übermacht hat Jesus auf Erden geben wollen; er läßt die Herrschaft des deus saeculi doch bestehen, solange das saeculum dauert; s. u. Vgl. die Ausführung zu Luk. 8, 27 ff. (der Dämonische): „Daemones ignoraverunt quod novi et ignoti dei virtus operetur in terris“ (l. c.). Es ist sehr verständlich, daß Ephraem (Conc. Evang. Expos. p. 75) an der Stillung des Sturms Anstoß genommen hat; er sagt, M. hätte ihn nicht stehen lassen dürfen, da Christus hier   „v i s   et imperium“ habe anwenden müssen, die er als Sohn des guten Gottes doch nicht habe.
    ² Zu Luk. 11, 22 (Tert. IV, 26): „Creator ab alio deo subactus“. Aber auch das ist nur eine „Markierung“; der gute Gott handelt sogar mit dem Weltschöpfer nicht gewalttätig (s. u.).


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    Zunächst — daß Christus in die Unterwelt gehen und seine Erlösung dorthin bringen mußte, war ein selbstverständliches Stück allgemeiner urchristlicher Glaubensüberzeugung, das auch M. nicht beiseite lassen konnte. Darüber hat uns jüngst   C a r l   S c h m i d t   in seinem Werk „Gespräche Jesu mit seinen Jüngern nach der Auferstehung“ (1919) aufs neue aufklärend und umfassend belehrt. Die Universalität der Erlösung hing davon ab, daß nicht nur die Zeitgenossen Jesu und der Apostel und die Nachgeborenen das Evangelium hören, sondern die ganze Menschheit von Adam an. Was heute in den Kirchen eine vertrocknete Reliquie ist, war damals nicht nur   e i n,   sondern nahezu   d a s   Hauptstück der Verkündigung vom Erlöser ¹. In der Unterwelt befanden sich nach M. sowohl die Verworfenen als auch   d i e   G e r e c h t e n   des Schöpfers, wenn auch in verschiedenen Abteilungen und in verschiedener Lage („Utraque merces creatoris sive tormenti sive refrigerii   a p u d   i n f e r o s   est eis posita, qui legi et prophetis oboedierint“ Tert. IV, 34). Indem aber M. seinen Christus in die Unterwelt bringen mußte, mußte es sich entscheiden, welcher von den beiden Gesichtspunkten für ihn der übergeordnete war, ob der Gesichtspunkt, nach welchem die Beobachtung der Moral „gut“ ist gegenüber Sünde und Verbrechen (s. o. S. 109 f), oder der Gesichtspunkt, nach welchem diese Beobachtung, wenn sie als   „d a s   G u t e“   gilt, das schwerste Hemmnis ist, um sich von der barmherzigen Liebe finden und ergreifen zu lassen. Die Entscheidung konnte nicht zweifelhaft sein. Abel, Henoch, Abraham, Moses usw. konnten nicht gerettet werden; denn ihre Beobachtung der Moral stand im Dienste des Gottes, der mit seiner Norm „Auge um Auge“ der schlimmste Gegner des guten Gottes ist. Ihm hatten sie sich ganz ergeben in Furcht und Zittern, Glaube und Mißtrauen. Ihr Mißtrauen, daß ihr Gott, der sie immer wieder durch Versuchungen gepeinigt hatte, ihnen hier aufs neue eine Falle lege, hebt M. bei Irenäus
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    ¹ Fast die ganze Menschheit war ja bereits in der Unterwelt; was auf Erden bis zum nahen Weltende noch übrig war, war ja nur noch ein ganz kleiner Rest. Also findet der in die Unterwelt niedersteigende Erlöser erst dort die Masse der Zuerlösenden. Vgl. Apoc. Esra II, 5 (S. 38   V i o l e t):   „Ich sagte, Herr, siehe, denen verheißt du es, die am Ende sind. Aber was sollen die machen, die vor uns waren?“


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als Grund ihrer Ablehnung hervor; bei Epiphanius heißt es einfach, daß sie Christus nicht folgen wollten, weil sie aus dem Glauben an ihren Judengott nicht mehr heraus konnten. Somit mußten sie in der Unterwelt bleiben; die vom Weltschöpfer aber zur Strafe gefolterten groben Verbrecher und die gottlosen Heiden, die ja sämtlich nach dem grausamen Strafkodex des gerechten Gottes bereits Doppeltes und Dreifaches für ihre Sünde erhalten hatten, liefen sehnsüchtig herzu zu dem neuen Erlösergott. Seine barmherzige Liebe rief sie alle, und sie alle kamen, und er errettete sie alle, die gläubig in seine Arme stürzten, und führte sie heraus aus dem Ort der Qual in sein Reich der Seligen. Man kann nach dem Bericht des Irenäus nicht zweifeln, daß M. eine Apokatastasis schlechthin aller vorchristlichen Menschen gelehrt hat, die sich nicht dem Judengott im Leben ergeben hatten ¹, wie blutrot auch ihre Sünden gewesen; nur die Patriarchen, Moses, die Propheten und ihr Anhang blieben in ihrem trübseligen „Refrigerium“ zurück. Welch ein übersteigerter Paulinismus, zugleich aber — welch eine vor keiner Konsequenz zurückschaudernde Überzeugung von der Allmacht und Allgewalt der barmherzigen Liebe und von der Inferiorität der Moral, die, wo sie allein herrscht, zur Todfeindin des Guten wird.
    Kein Zweifel — nach M. hat Christus als der Superiore Macht und Gewalt genug, um alle Kinder des Weltschöpfers, d. h. die Menschheit, ihrem natürlichen Vater zu entreißen und an sich zu ziehen. Die Kirchenväter behaupten daher auch, nach Marcion habe Christus mit Gewalt das Eigentum des Schöpfers in Besitz genommen, und dieser Christus sei mithin ein Dieb und Räuber. Allein M. war weit davon entfernt, so zu lehren; denn was er bei Paulus über den Tod Christi las, mußte ihn veranlassen, den Vollzug der Erlösung an diesen anzuknüpfen, damit aber alle Gewalt auszuscheiden, deren Anwendung ja überhaupt dem guten Gott nicht ziemt.
    Christus hat allerdings schon im Laufe seines Wirkens dem Weltschöpfer gezeigt, daß er der Stärkere sei, allein das waren sozusagen nur Proben, und er beabsichtigte nicht, mit Gewalt seinen Gegner zu überwinden und ihm seine Kinder zu ent-
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    ¹ Über einen Einwurf, der hier aus den Quellen erhoben werden kann, s. u.


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reißen. Man muß sich hier erinnern, was oben über δίκαιος und δικαιοσύνη ausgeführt worden ist: M. kennt eine Gerechtigkeit, die zur Gutheit gehört und die die wahre Gerechtigkeit ist, während die „Gerechtigkeit“ des Weltschöpfers in Bosheit übergeht. Er respektiert auch, wie wir gesehen haben, das Gesetz, daß man nicht stehlen und rauben soll, als eine selbstverständliche Norm. Unter dieser Voraussetzung hat er sich einige Gedanken des Apostels Paulus über den Tod Christi nicht nur aneignen können, sondern er erfaßte insbesondere, und zwar mit Ausschließlichkeit und mit Pathos, den Gedanken,   d a ß   C h r i s t u s   d i e   M e n s c h e n   d u r c h   s e i n e n   T o d   v o m   W e l t s c h ö p f e r   e r k a u f t   h a b e.
    Ὁ θάνατος τοῦ ἀγαθοῦ σωτηρία ἀνθρώπων ἐγίνετο (Adamant. II, 9): das wurde M.s Grundbekenntnis und ebenso das seiner Schüler: „Wer auf den Gekreuzigten hofft, wird selig“, sagt Apelles, und zwar war dieser Tod ein an den Weltschöpfer gezahlter Kaufpreis: M. hat nicht nur auf Gal. 3, 13 den Finger gelegt, sondern auch 2, 20 ἀγοράσαντος für ἀγαπήσαντος eingesetzt. Daß der Tod Kreuzestod war, war M. besonders willkommen; denn über diesen hatte der Weltschöpfer den Fluch ausgesprochen und ihn daher für seinen Christus nicht in Aussicht genommen (Tert. III, 18; V, 3; I, 11) — der deutlichste Beweis, daß der erschienene Christus nicht zum Weltschöpfer gehört. Ebenso willkommen war ihm aber auch die Vorstellung eines Kaufes; denn sein Eigentum kauft man nicht; also waren die Menschen dem guten Gott fremd, und er mußte sie   e r w e r b e n   (s. S. 288* f) ¹; zugleich aber zeigt sich in dieser Erwerbung der Fremden seine alle Vernunft übersteigende Liebe. Endlich erscheint das „Placidum“ des Erlöser-Gottes in hellem
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    ¹ Der Einwurf der Gegner, daß der Weltschöpfer die Seele (oder das Blut) Christi nicht behalten hat, weil Christus auferstanden ist, und daß demnach der Kauf sofort illusorisch geworden ist, ist von M. unseres Wissens nicht berücksichtigt worden. Über die ausgeführte Lehre der Marcioniten bei Esnik s. dort. Ich kann sie nur für eine spätere Ausspinnung halten; denn sie geht über die biblische Grundlage, die M. nie verlassen hat, heraus, Tert. hätte sie sicher berücksichtigt, wenn er sie in M.s Antithesen gefunden hätte, und sie setzt voraus, daß die Macht des Weltschöpfers schon durch die Auferstehung Christi völlig gebrochen worden ist.


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Licht; denn obgleich ihn der Weltschöpfer bzw. die irdischen Gewalten, die er kommandierte, in Unkenntnis, blinder Ungerechtigkeit und Eifersucht als Gesetzesübertreter ans Kreuz gebracht haben (Tert. V, 6; III, 23; Adamant. II, 9) und er also berechtigt gewesen wäre, sich den Leiden zu entziehen und sie niederzuschlagen, wählte er doch den gütlichen Weg. Ob hier bei M. noch eine tiefere Einsicht mitgesprochen hat auf Grund anderer Paulinischer Stellen, die in seinem Kanon standen, läßt eich nicht sicher sagen ¹; aber wahrscheinlich genügte ihm der unendliche Liebesbeweis, der in diesem Tode zum Zweck der Erkaufung liegt.
    Welchen Umfang aber hat diese Erkaufung bzw. Erlösung, und ist sie bedingungslos oder unbedingt? Ferner, in welchem Zustand befinden sich die Erlösten in der Gegenwart? Endlich, wie steht es mit dem Endgericht und dem zukünftigen Zustand? Diese drei Fragen müssen noch beantwortet werden.
    Daß der Erlöser nach M. die vorchristliche Menschheit, die in der Unterwelt schmachtete, in ihrer Totalität mit Ausnahme der Gerechten des Weltschöpfers erlöst hat, ist oben festgestellt worden (s. auch Tert. V. 11 „liberavit genus humanum“); allein auf Erden hat seine Erscheinung von Anfang an bis heute nicht denselben Erfolg. „Non omnes salvi fiunt, sed pauciores omnibus et Judaeis et Christianis creatoris“ (Tert. I, 24; vgl. Iren. IV, 27, 4 ff. und Clemens Strom. III, 10, 69: Μετὰ μὲν τῶν πλειόνων ὁ δημιουργός ἐστιν, μετὰ δὲ τοῦ ἑνὸς τοῦ ἐκλεκτοῦ ὁ σωτήρ) ². Schon mit seinen Jüngern hatte Christus traurige Erfahrungen machen müssen, und zuletzt fielen sie wieder ganz in das alte Wesen zurück, hielten ihren Herrn und Meister doch wieder für den Sohn des Weltschöpfers oder gerieten in schlimme Halbheiten und leisteten den judaistischen Pseudoaposteln, welche der Weltschöpfer nun gegen das Evangelium aussandte, Vorschub
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    ¹ Auf die Vergebung der Sünden legte M. das größte Gewicht; s. seine Exegesen, so zu Luk. 5, 20 (Vergebung der Sünden beim Gichtbrüchigen): „Nova ista Christi benignitas“.
    ² Dieser unerträglich scheinende Widerspruch zwischen der geringen Anzahl der nachchristlichen Erlösten zu der Fülle der vorchristlichen erleichtert sich, wenn man auf den urchristlichen Standpunkt tritt. Nach diesem erschien Christus am Ende der Weltzeit, in der alles Schlimme auf seinem Höhepunkt ist; da können nur noch wenige gerettet werden.


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(s. o. S. 35 ff., 256* ff). Die halbschlächtige Konvention mit Paulus in Jerusalem war das letzte Aufflackern besserer Erinnerung in ihnen; aber auch sie war keine Konvention der Gemeinschaft (M. strich κοινωνίας in Gal. 2, 9), sondern eine halt- und fruchtlose, weil nur scheinbar friedliche Auseinandersetzung. Der neue Apostel, den der Erlöser statt ihrer nun erweckte, Paulus, entsprach zwar seiner Aufgabe vollkommen, hatte aber einen furchtbar schweren Stand; denn er mußte nicht nur gegen Juden und Heiden kämpfen, sondern auch gegen die falschen judaistischen Christen, und das war der schwerste Kampf. Er konnte daher nur verhältnismäßig wenige gewinnen, zumal da sich auch die „verbosa eloquentia philosophiae“ (διὰ τῆς φιλοσοφίας ὡς κενῆς ἀπάτης κατὰ τὴν παράδοσιν τῶν ἀνθρώπων, κατὰ τὰ στοιχεῖα τοῦ κόσμου, so las M. Kol. 2, 8) ihm entgegenstellte. Er mußte erfahren, daß der Glaube nicht jedermanns Ding sei. Auf den Glauben aber an Christus kommt alles an; das hat M. von Paulus gelernt und wiederholt es in seinen „Antithesen“ bzw. den Exegesen ¹. Unter diesem Gesichtspunkt erklärte er die Geschichten von der großen Sünderin, vom blutflüssigen Weib, von den zehn Aussätzigen (Tert. IV, 18. 20. 35) usw. Glauben aber heißt sich auf die unverdiente Liebe Gottes in Christo verlassen und deshalb das Gesetz, welches den Glauben hindert (M. bei Iren. IV, 2, 7: „Lex prohibet credere in filium dei“), verachten und durchkreuzen, wie es die Blutflüssige getan hat ². Weil man das ewige Leben allein der Liebe Gottes verdankt (Tert. IV, 25: „Ex dilectione dei consequuntur vitam aeternam Marcionitae“), so ist die einzige, aber auch notwendige Bedingung hier der Glaube. Er steht dem sklavischen Gehorsam und der Furcht gegenüber, die das Gesetz verlangt. Immer wieder hat M. eingeschärft, daß dem guten Gott im Gegensatz zum Weltschöpfer, der gefürchtet werden will, nichts entgegengebracht werden darf als Glaube und daß alle Furcht beseitigt ist („Deus bonus timendus non est,“ Tert. IV, 8). Κακοὺς τοὺς ἀνθρώπους
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    ¹ Christus hat also dem Weltschöpfer durch seinen Tod zwar die ganze Menschheit abgekauft, aber nur die erlöst er wirklich, die seinem Evangelium im Glauben folgen.
    ² „Hanc vis mulieris fidem constituere, qua contempserat legem“ (Tert. IV, 20).


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ὄντασ ῥυσάμενος ἐκ τοῦ πονηροῦ ὁ ἀγαθὸς μετέβαλε ¹   δ ι ὰ   τ ῆ ς   π ί σ τ ε ω ς   καὶ ἐποίησεν   ἀ γ α θ ο ὺ ς ²   τοὺς   π ι σ τ ε ύ ο ν τ α ς   αὐτῷ (Megethius, Dial. II, 6) und Ὁ ἀγαθὸς τοὺς πιστεύοντας αὐτῷ σώζει (Markus, Dial. II, 1 f.) 2b. Indem M. das Moment der Furcht aus dem Glauben völlig ausschied (Phil. 2, 12 hat gewiß nicht in M.s Bibel gestanden), entfernte er sich von Paulus, aber begegnete sich mit Johannes. Wenige nur lassen sich retten; die Geretteten aber sind ausschließlich die, welche glauben ³. Auf die Frage Tertullians an Marcion aber, warum er nicht sündige, wenn sein Gott nicht zu fürchten sei und nicht strafe, liest man die wunderbar einfache Antwort: „Absit, absit“ . Das heißt doch nichts anderes, als daß M. keine Nötigung für die Gläubigen empfand, die „Moral“ eigens noch zu begründen. Von der barmherzigen Liebe ergriffen und ihr sich im Glauben hingebend, ist
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    ¹ Μεταβολή kenne ich (aus der vorkatholischen Literatur) aus Justin, Apol. I, 66; dort heißt es, daß durch die h. Speise im Abendmahl unser Fleisch und Blut κατὰ μεταβολήν ernährt werden. Eine mystisch-sakramentale Veränderung unserer leiblichen Natur ist gemeint. M. dagegen denkt an eine innere Umwandlung durch den   G l a u b e n.   Paulus spricht von der neuen Kreatur. M. hat ihn verstanden. Apol. II, 2 nennt Justin die (erhoffte) Bekehrung eines in Sünden lebenden Menschen μεταβολή. Das ist derselbe Sprachgebrauch, den M. befolgt.
    ² Durch den Glauben werden die Sünder wirklich zu Guten transformiert.
    2b Apelles hat die entscheidende Bedeutung des Glaubens festgehalten, s. bei Rhodon (Euseb., h. e. V, 13): Σωθήσεσθαι τοὺς ἐπὶ τὸν ἐσταυρωμένον ἠλπικότας. S. auch „τοῖς πιστεύουσιν“, Hippol., Refut. VII, 38 Schluß.
    ³ Nach einer Marcionitischen Aussage bei Esnik (bei   S c h m i d   S. 144) waren und sind die Menschen dem erschienenen Christus Glaube (und Nachfolge)   s c h u l d i g,   weil   G ü t e   nicht zurückgewiesen werden darf: „M. schwatzt, daß es den Geschöpfen des Gerechten eine Schuldigkeit ist dem guten Fremden Verehrung zu erweisen wegen der Güte“). Ich zweifle nicht. Daß M. selbst so gelehrt hat.
     Tert.s Kritik (I, 27) ist hier sehr peinlich: „Age itaque, qui deum non times quasi bonum, quid non in omnem libidinem ebullis, summum, quod sciam, fructum vitae omnibus, qui deum non timent? quid non frequentas tam sollemnes vol uptates circi furentis et cavae saevientis et scaenae lascivientis? quid non et in persecutionibus statim oblata acerra animam negatione lucraris?“ Vgl. Esnik (S. 379*): „Ist es daher (weil der gute Gott keine Strafleiden verhängt) nicht klar, daß sich die Marcioniten vor den Qualen nicht fürchten und daß sie vor den Sünden nicht zurückscheuen?“


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der Erlöste in eine Sphäre erhoben, an welche der Schmutz der Materie und die inferiore Legalität nicht heranreichen; er braucht daher keine Normen der Moral und keine Begründung für sie; es bleibt also dabei, daß der Glaube genügt, weil Gott durch den Glauben aus Schlechten Gute macht ¹. Jenes „absit, absit“ ist ein religionsgeschichtliches Dokument ersten Ranges (s. u.) ².
    Zur Frage des Umfangs der Erlösung gehört auch die Frage, ob der ganze Mensch gerettet wird oder nur seine Seele. Nach dem, was M. über die Materie und das Fleisch gelehrt hat, konnte die Entscheidung ihm nicht zweifelhaft sein: nur die Seele wird gerettet; denn im Fleische, das ja nicht einmal Erzeugnis des Weltschöpfers ist, sondern der Materie angehört, steckt ja nichts wesentlich Menschliches, sondern es ist nur eine ekle Beimischung. Daher trifft der Einwurf der Gegner, nach M. werde der Mensch nur unvollkommen erlöst, M.s Auffassung nicht. Übrigens dachte er sich die durch den Tod hindurchgedrungenen Erlösten nicht substanzlos. „Deus tuus“, sagt Tert. III, 9, „veram
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    ¹ Wenn Apelles der Bedingung des Glaubens hinzufügt: μόνον ἐὰν ἐν ἔργοις ἀγαθοῖς εὑρίσκωνται, so ist das nach M. entweder selbstverständlich oder — wenn es mehr sein soll — schwerlich in seinem Sinne.
    ² v.  S o d e n,   W.  B a u e r   und   G r e j d a n u s   haben, wenn auch in verschiedener Weise, bestritten, daß M. ein tieferes oder überhaupt ein Schuldgefühl besessen habe, und haben daraus gefolgert, daß seine Frömmigkeit und Lehre im Grunde von der paulinischen ganz verschieden sei und tief unter ihr stehe. Eine gewisse Verschiedenheit leugne ich nicht; aber M. das Schuldgefühl abzusprechen, scheint mir eine seelsorgerische Ketzerspürerei zu sein und dem zu widersprechen, was wir von M.s Glaubensbegriff wissen. Ich habe in den „Neuen Studien zu M.“ (1923) ihre Annahmen, hoffe ich, widerlegt und glaube das dort Ausgeführte nicht wiederholen zu sollen. Die Christen dieses Zeitalters und der folgenden haben fast sämtlich die erste Hälfte des Bekenntnisses: „Herz, freu’ dich, du sollst werden vom Elend dieser Erden und von der Sündenarbeit frei“ stärker betont als die zweite; aber ihnen darum das Schuldgefühl abzusprechen, geht viel zu weit. Wendet man aber ein; daß M.s Schuldgefühl schon deshalb unterwertig sein müsse, weil sich die Schuld nicht auf den Gott, der da erlöst, bezieht, so übersieht man, (1) daß dieses Manko gedeckt wird durch das Gefühl eines unerschöpflichen Dankes an den, der uns zuerst geliebt und als   F r e m d e   in unbegreiflicher Barmherzigkeit zu seinen Kindern gemacht hat, (2) daß, wie gezeigt worden ist, Marcion den Sündenzustand, der sich als sittliche Verwahrlosung und Anarchie zeigt, für Sünde und Schuld gehalten hat.


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quandoquidem substantiam angelorum hominibus pollicetur; ,erunt enim‘, inquit, ,sicut angeli‘ “.
    In schneidendem Kontrast zur Erlösung, die der Gläubige im Glauben erlebt, steht seine tatsächliche Lage in der Gegenwart; denn, wie Tertullian bezeugt: „Marcion putat se liberatum esse de regno creatoris, de futuro, non de praesenti“ (I, 24). Es ist also keineswegs so, daß das siegreiche Wirken des Erlösers in Krafttaten während seines Lebens auf Erden — sie waren nur Exempel — oder daß seine Auferstehung den Weltschöpfer bereits überwunden hat. Zwar hat er ihm die Menschen abgekauft, aber das ist ein, wenn auch absolut sicherer, Wechsel auf die Zukunft, weil, so lange dieses Säkulum besteht, auch noch die Herrschaft des deus huius saeculi ¹ dauert. Daher bleiben die Armen, Hungernden, Geschmähten und Verfolgten nicht nur, was sie sind, sondern sie, die sich dem guten Gott im Glauben angeschlossen haben, erfahren größeres Leid als je zuvor. Die Heiden, Juden und die falschen Christen, dazu die weltliche Obrigkeit, angestachelt vom Gesetzgeber ², verfolgen sie schonungslos; sie sind daher die Gemeinde „der Elenden und Gehaßten“ in der Welt, und all ihr Trost liegt in ihrem Glauben und in der Zukunft. Schlechthin kein Strahl des Lichts fällt in der Gegenwart auf ihre äußere Lage; nur in dem   e i n e n   werden sie durch diese Lage bestärkt, nämlich in der Überzeugung, daß sie nicht mehr Kinder des Weltschöpfers sind, sondern dem „Fremden“ gehören; denn der Weltschöpfer würde seine Kinder nicht also leiden und bluten lassen (Adamant., Dial. I, 21).
    Wie aber gestaltet sich das Ende der Dinge? Hier mußte für M. eine große Schwierigkeit entstehen; denn wie er aufs bestimmteste erklärt hat, daß der gute Gott nicht gefürchtet wird, so hat er auch jede Gelegenheit, welche die h. Schrift bot, er-
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    ¹ Der gute Gott ist ὁ θεὸς τοῦ αἰῶνος ἐκείνου (Tert. IV, 38) und will nicht ὁ θεὸς τοῦ αἰῶνος τούτου sein.
    ² Er, der nach dem Verkauf gerechterweise Ruhe halten sollte, ist jetzt doppelt eifersüchtig, und, die Glaubensbedingung seines Gegners kennend, sucht er auf alle Weise die Gläubigen zu verfolgen, zu quälen und vom Glauben abzubringen, um seine Kinder nicht dem guten Gott überlassen zu müssen. War er schon vor der Erscheinung Christi wild und grausam, so überschreiten jetzt seine Leidenschaften alles Maß, und seine „Gerechtigkeit“ wird von ihnen überwältigt.


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griffen, um zu bezeugen,   d a ß   d e r   g u t e   G o t t   ü b e r h a u p t   n i c h t   r i c h t e t   (Adamant., Dial. II, 1 f.: Ὁ ἀγαθὸς οὐ κατακρίνει τοὺς ὰπειθήσαντας αὐτῷ), und hat in der Regel gestrichen oder korrigiert, wo der überlieferte Text ihn als Richter erscheinen ließ. Wie aber soll es dann zu einer Scheidung kommen, wenn doch an eine ἀποκατάστασις πάντων nicht zu denken ist? Hier muß man darauf achten, wie M. den Begriff und die Worte „Richten, Richter, Gericht“ in seiner Bibel behandelt hat, wo er sie nicht (wie Luk. 12, 58 u. a. a. St.) auf den Gesetzgeber beziehen konnte. In Luk. 11, 42 hat er κρίσιν in κλῆσιν verwandelt; in Röm. 11, 33 hat er κρίματα getilgt; aber nicht durchweg verfuhr er so. Tert. hat uns den wichtigen Satz M.s mitgeteilt (I, 27): „Deus melior   i u d i c a t   plane malum   n o l e n d o   et   d a m n a t   p r o h i b e n d o“ ¹.   In diesem Sinne konnte M. also Richten und Verdammen auch bei dem guten Gott anerkennen. Daher ließ er Röm. 2, 2 stehen: τὸ κρίμα τοῦ θεοῦ ἐστι κατὰ ἀλήθειαν, ferner Gal. 5, 10: ὁ ταράσσων ὑμᾶς βαστάσει τὸ κρίμα, und auch den gewichtigen Satz Röm. 2, 16 konservierte er: ἐν ἡμέρᾳ, ὅτι κρινεῖ ὁ θεὸς τὰ κρυπτὰ τῶν ἀνθρώπων, κατὰ τὸ εὐαγγέλιόν μου, διὰ Ἰησοῦ Χριστοῦ, sowie den anderen II Thess. 2, 12: ἵνα κριθῶσι πάντες οἱ μὴ πιστεύσαντες τῇ ἀληθείᾳ. Auch die ernste Vorhaltung in bezug auf das Abendmahl: „Der isset sich das Gericht“ (I Kor. 11, 29, cf. v. 34) behielt er bei und vermutlich auch v. 32 ².
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    ¹ Die Stelle ist auch deshalb wichtig, weil sie in Analogie steht zu der Marcionitischen Dialektik der Begriffe „Gerechtigkeit“, „Gesetz“ („Gutheit“ usw.) und sie gegenüber prinzipiellen Einwürfen bestätigt. Wie man auch vom guten Gott ein „iudicare“ und „damnare“ aussagen kann, so auch umgekehrt vom gerechten Gott und vom Gesetz ein „bonum“.
    ² Das „Wehe“ Luk. 6, 24 ff, strich M. nicht, bemerkte aber: „Vae non tam maledictionis est quam admonitionis“. Zu dem „Wehe“ gegen die Pharisäer Luk, 11, 42 ff, bemerkte er: „Ad infuscandum creatorem Christus ingerebat ut saevum, erga quem delinquentes Vae habituri essent“. In Luk. 12, 46 las M.: ἀποχωρίσει (für  διχοτομήσει) αὐτὸν καὶ τὸ μέρος αὺτοῦ μετὰ τῶν ἀπιστων τεθήσεται, und bemerkte höchst gezwungen dazu: „tranquillitatis et mansuetudinis est segregare solummodo et partem eius cum infidelibus ponere“. Luk. 17, 1 (Wider den, der Ärgernis gibt) erklärte er: „Alius ulciscatur scandalum discipulorum eius.“ Zu Luk. 12, 49 (Ich bin gekommen, ein Feuer anzuzünden) bemerkte er: „Figura est.“ Luk. 12, 58 f. bezog er natürlich auf den Weltschöpfer. Esnik (S. 379*): „Und


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    Aus der Konservierung von Röm. 2, 16 folgt, daß M. einen Gerichtstag des guten Gottes (Christi) am Ende der Dinge anerkannt hat, und das folgt auch aus der Beibehaltung des Richterstuhls Christi Röm. 14, 10 (II Kor. 5, 10) ¹. An dem Gerichtstage wird Christus nach diesem Spruch   a l l e   M e n s c h e n   richten — d a m i t   e r s c h e i n t   a m   E n d e   d e r   Z e i t   d e r   g u t e   G o t t   a l s   d e r   H e r r   a l l e r —, aber er wird, wie wir eben gehört haben,   p r o h i b e n d o   richten, d. h. durch die bloße   E x k l u s i v e.   Was wird der Erfolg für die Sünder — die Gotteskinder werden, in der Substanz von Engeln „vitam aeternam“ und „spiritalem saturitatem et iocunditatem“ genießen (IV, 31) ² — sein? Auch hier hat uns Tert. (I, 28) eine kostbare Nachricht überliefert: „Interrogati Marcionitae: Quid fiet peccatori cuique die illo? respondent: ,Abici illum quasi ab oculis‘ “ ... „Exitus autem illi abiecto quis? ,Ab igni‘, inquiunt, ,creatoris deprehendetur.‘ “
    Hiernach ist M.s Lehre deutlich: Christus (der gute Gott) straft auch beim Endgericht nicht; aber indem er die Sünder von seinem Angesicht entfernt (prohibendo, segregando, abiciendo), verfallen sie dem Feuer des Weltschöpfers. Da aber M. die Paulinische Lehre teilt, daß   a l l e   Menschen, wenn sie sich nicht von Christus erlösen lassen, Sünder sind und es nach der kriti-
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wenn du fragst, ob der gute (Gott) über Qualen verfüge, so sagen die Marcioniten: sie bestehen nicht ... Sie sagen, sie sind aus diesem Grunde vor dem gerechten (Gott) geflohen, weil er in seinen Gesetzen furchtbare Drohungen androht, nämlich: ,Das Feuer ist entfacht in meinem Zorn und wird brennen bis in die unterste Hölle‘ und ,Alles dieses (die Strafen) wurde aufbewahrt in meinem Schatze‘ und anderswo: ,Durch Feuer richtet Gott‘ “.
    ¹ Da M. den Text der eschatologischen Abschnitte der Thessalonicherbriefe wahrscheinlich wesentlich unverändert gelassen hat, so muß er eine förmliche Wiederkunft Christi gelehrt haben; anders sein Schüler Apelles in Übereinstimmung mit Gnostikern; s. unten Kap. VIII, 3.
    ² Nach Tert. V, 10 zu I Kor. 15, 44 lehrte M., daß die Seele bei der Auferstehung zu Geist werden wird, und zu I Kor. 15, 49, daß die Erlösten eine substantia caelestis haben werden. Ihr Leib steht überhaupt nicht wieder auf; dagegen sagte ein Marcionit zu Hieronymus (s. S. 394*): „Vae ei qui in hac carne et in his ossibus resurrexerit“, d. h. die Nicht-Erlösten stehen mit Haut und Haaren wieder auf, um nun vom Höllenfeuer des Weltschöpfers ergriffen zu werden.


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schen Erscheinung Christi Gerechte im Sinne des Weltschöpfers nicht mehr geben kann, so sind diese alle in gleicher Verdammnis. Wo aber bleiben die vorchristlichen Gerechten des Weltschöpfers, und wo bleibt der Weltschöpfer selbst, der hier am Schluß im Dienste des guten Gottes erscheint, weil ja auch er den Sündern die Verdammnis in seinem Gesetz angekündigt hat? ¹ Die ältesten Quellen geben hier keine direkte Antwort; aber die vorchristlichen Gerechten befanden sich ja, wenn auch in einem leidlichen Zustande, so doch   i n   d e r   U n t e r w e l t,   u n d   e w i g e s   L e b e n   k a n n   d e r   W e l t s c h ö p f e r   i h n e n   n i c h t   g e b e n   und hat es ihnen auch niemals verheißen. Also wird man annehmen müssen,   d a ß   i h r e   T a g e   z u   E n d e   g e h e n,   wenn sie auch nicht durch das Höllenfeuer vernichtet werden wie die Sünder. Diese wie jene sterben also; denn da der Weltschöpfer nichts Ewiges besitzt, muß bei ihm alles auf den Tod in strengem Sinn hinauslaufen, und von einer ewigen Verdammnis kann nicht die Rede sein. Und er selbst? Da M. annahm, daß Himmel und Erde vergehen werde, da er ferner Welt und Weltschöpfer häufig identifizierte, und da er endlich I Kor. 15, 22 ff. beibehalten hat, so ist es sehr wahrscheinlich, daß nach seiner Lehre auch der Weltschöpfer am Ende dieses Säkulums verschwinden wird. Bestätigt wird dies durch Esniks ausdrückliches Zeugnis. Er schreibt (s. S. 378*) „Ferner das andere Wort des Apostels, welches richtig gesprochen ist, untergraben sie: ,Wenn er alle Herrschaften und Mächte zerstört haben wird, muß er herrschen, bis daß alle seine Feinde unter seine Füße gestellt sind‘ (I Kor. 15, 24 ff.). Und die Marcioniten sagen,   d a ß   d e r   H e r r   d e r   W e l t   s i c h   s e l b s t   z e r s t ö r t   u n d   s e i n e   W e l t   i n   E w i g k e i t“ ².   M. nahm also an, daß auch dem Weltschöpfer Christus zum kritischen Zeichen geworden ist,
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    ¹ Man sieht auch hier wieder, daß doch ein gewisses Band den superioren und inferioren Gott verbindet (s. o. S. 107 f.), weil beide die Moral in Kraft erhalten, deren Gebote nach dem Urteil des superioren Gottes auch von denen übertreten worden sind, die der gerechte Gott für gerecht hält; aber eine Zusammengehörigkeit ergibt sich daraus nicht.
    ² Wie sonst an manchen Stellen hat M. also auch hier das Subjekt wechseln lassen: in v. 24 soll der Zerstörer der Weltschöpfer, aber in v. 25 der Herrscher nicht er, sondern Christus sein. Diese Exegese ist entsetzlich, aber der Gedanke, der sie leitet, ist großartig.


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bzw. werden wird: seit seiner Erscheinung vollzieht sich die Zersetzung der Welt. Der Weltschöpfer selbst zerstört sie, indem er alle seine Mächte und Herrschaften zerstört, um dann selbst mit ihnen zu zergehen und zu verschwinden. Durch Selbstvernichtung geht er mit der von ihm geschaffenen Welt zugrunde, so daß der gute Gott nun der einzige ist ¹.
    Wir haben hier vorgegriffen; aber das Übergangene ist schon oben Kap. III und IV dargelegt worden. Nach der Auferstehung des Erlösers, die das Weltdrama virtuell bereits zu Ende geführt hat, zeigte sich sofort der durch Nachsicht und Langmut herbeigeführte Mißerfolg der Auswahl der zwölf Jünger: sie fielen immer mehr in das alte Wesen zurück ². Jesus berief daher den Paulus durch eine besondere Offenbarung zum Apostel, und damit waren die Zwölf faktisch ihrer Würde entkleidet. In Paulus fand der Erlöser   d e n   Apostel ³, und er sollte fortab der einzige sein, beglaubigt lediglich durch Christus und in den
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    ¹ Am Ende offenbart sich also (was man bei der Inferiorität des Weltschöpfers immer schon vermuten mußte), daß er schließlich als dienendes Organ den Willen des guten Gottes vollzieht — denn auch dieser will ja nicht, daß die Sünder ewiges Leben haben — und daß er trotz des Namens „Gott“ kein wirklicher Gott ist; denn ein wirklicher Gott stirbt nicht. Was ist er denn? Der Weltgeist, die Welt! — Von hier aus ist vielleicht die Behauptung Hippolyts (c. Noët. 11) zu verstehen, daß auch die Marcioniten, wie die anderen Häretiker, unfreiwillig zu der Anerkennung gezwungen seien, ὅτι πᾶν εἰς ἕνα ἀνατρέχει (und ὅτι εἰς αἴτιος τῶν πάντων).
    ² Tert. I, 21: „Ecclesiae apostolici census a primordio corruptae sunt“. Zwar haben die Zwölf am Anfang einen guten Ansatz gemacht (Tert. III, 22: „Cum huic negotio [der Mission] accingerentur apostoli renuntiaverunt presbyteris et archontis et sacerdotibus Iudaeorum; ,an non vel maxime‘, inquit, ,ut alterius dei praedicatores?‘ “ .... „Quae dehinc passi sunt apostoli? ,Omnem‘, inquis, ,iniquitatem persecutionum, ab hominibus scilicet creatoris, ut adversarii eius, quem praedicabant.‘ “ Woher weiß das M., wenn nicht aus der Apostelgeschichte?); aber sehr bald verdunkelte sich ihr Verständnis.
    ³ Die Berufung des Paulus muß von M. als eine Manifestation Christi aufgefaßt worden sein, welche der ersten Erscheinung und Wirksamkeit nahezu ebenbürtig sei; s. den Bericht des Esnik, dessen Bericht zwar nicht nach M. selbst gegeben ist, aber seine Stimmung und sein Haupturteil wiedergibt.


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dritten Himmel erhoben, um unaussprechliche Worte zu hören ¹. Ihm übergab Jesus   d a s   schriftliche Evangelium ², denn die mündliche apostolische Überlieferung wurde immer schlechter und transponierte den Erlöser ins Gesetzliche zurück. Das   e i n e   Evangelium duldet, wie der Apostel, keinen Rivalen neben sich; Paulus durfte es   „M e i n   Evangelium“ nennen; denn ihm war es gegeben, und er allein wurde auch autorisiert, es durch seine Briefe zu verdeutlichen und zu verteidigen. Diese Briefe samt dem Evangelium sind nach Christi Anordnung „die heilige Schrift“, treten an die Stelle des ATs und begründen und nähren die Gemeinde der Gläubigen. Sie hat an diesen Urkunden die vollkommene Darstellung der Erscheinung und des Werkes des Erlösers — gleichsam eine Wiederholung in dauernder schriftlicher Gestalt.   D a s   w a h r e   C h r i s t e n t u m   i s t   d a h e r   o b j e k t i v   b i b l i s c h e   T h e o l o g i e   u n d   n i c h t s   a n d e r e s.
    Die Lehre des Paulus ist mit der Lehre Christi absolut identisch; daher ist auch die Evangelienschrift nach den Briefen zu erklären, und so ist M. selbst bei seinen Auslegungen verfahren. Wie er die Briefe aufgefaßt und zur Entfaltung der Lehre benutzt hat, nachdem er sie durchkorrigiert, darüber s. S. 45 ff. 256* ff. 306*. Auch die Prologe sind zu berücksichtigen (S. 127* ff.); die Auslegungen und die Prologe zeigen, daß M. nur für wenige Hauptpunkte in den Briefen einen Sinn hatte und das andere beiseite ließ oder es gewaltsam auf die Hauptpunkte bezog. Das Wichtigste ist von uns in die Darstellung der Verkündigung M.s verwebt worden.
    Auch Paulus ist mit „der Wahrheit des Evangeliums“ nicht durchgedrungen; aber dem Apostel, der im Himmel zur Rechten Christi steht, folgte der Reformator. Einen   G i g a n t e n   und   T h e o m a c h e n   hat ihn Clemens, sein großer Gegner, genannt.
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    ¹ Nach Esnik behaupteten die Marcioniten (s. S. 377*), daß sie die unaussprechlichen Worte predigten; denn M. habe gesagt, daß er sie gehört habe; aber das stammt schwerlich von M. selbst.
    ² Das „bis heute“ II Kor. 3, 15 erklärte M. durch „bis auf Paulus, den Apostel des neuen Christus“, der „die Decke“ weggenommen habe. Durch Marcion wurde Paulus den katholischen Christen vollends unbequem, und unwillig hat ihn Tert. „apostolus Marcionis“, „apostolus, haereticorum“ genannt.


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Zur Linken Christi sah ihn seine Kirche stehen, wenn sie gen Himmel blickte.

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Letzte Änderung am 18. Dezember 2017