ADOLF VON HARNACK
MARCION: DAS EVANGELIUM VOM FREMDEN GOTT
Kapitel X, Seite 215—236

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X. Marcions Christentum kirchengeschichtlich und religionsphilosophisch beleuchtet.

1. Der Antinomismus und die Verwerfung des Alten Testaments.

    Zur Verwerfung des AT ist M. sowohl durch die Zurückweisung des Schöpfergottes als auch durch die Ablehnung des Gesetzes geführt worden; doch schon die letztere allein hätte


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ihn dazu bestimmt; denn Gesetzliches in der Religion erschien ihm als ihre Verkehrung, und Apelles beurteilte, gewiß im Sinne des Meisters, das Gesetz der Schöpfung gegenüber als das noch Schlimmere. Denkt man mit Paulas und M. den Gegensatz zwischen „der Gerechtigkeit aus dem Glauben“ und „der Gerechtigkeit aus den Werken“ scharf durch und überzeugt sich zugleich von dem Unzureichenden der Mittel, mit denen Paulus das   k a n o n i s c h e   Ansehen des AT festhalten zu können geglaubt hat, so vermag kein konsequentes Denken die Geltung des AT als kanonischer Urkunde in der christlichen Kirche zu ertragen. Man darf es auch als sichere Erkenntnis aussprechen, daß die Kirche das AT weniger aus sachlichen Gründen festgehalten hat, als aus geschichtlichen. Zu den geschichtlichen muß auch die für die Kirche der alten Zeit maßgebende Erkenntnis gerechnet werden, daß Jesus selbst und Paulus auf dem Boden des AT gestanden haben. Über dieses Argument hätte auch M. als Kind seiner Zeit nicht hinwegkommen können; ebendarum beseitigte er es durch einen Gewaltstrich, indem er die Tradition über diese Stellung Jesu und seines Apostels für gefälscht erklärte.
    Aber was wollen überhaupt in jener Zeit in bezug auf religiöse Erkenntnisse „Beweise“ besagen? Sie waren unzureichend, verfehlt, sophistisch, ja oft nichts anderes als schillernde Seifenblasen. Und was will zu allen Zeiten in der Religion die gemeine Logik der Konsequenzen besagen, da sie doch ihre eigene Logik hat? Nur die Sachen selbst haben ein Interesse und verdienen eine ernsthafte Würdigung; denn in ihnen steckt das Unveränderliche und Unverlierbare.
    Marcion hat die Christenheit vom AT befreien wollen, die Kirche aber hat es beibehalten; er hat nicht verboten, das Buch in die Hand zu nehmen, ja er hat sogar anerkannt, daß in ihm Nützliches zu lesen sei; aber er sah in ihm einen anderen Geist als im Evangelium, und er wollte in der Religion von zwei Geistern nichts wissen. Hat er recht oder hat die Kirche recht, die sich von dem Buche nicht getrennt hat? Die Frage muß aufgeworfen werden; denn vor uns steht nicht ein beliebiger Theologe ohne Wirksamkeit und Anhang, sondern der Mann, der das Neue Testament begründet und eine große Kirche geschaffen hat, die Jahrhunderte lang blühte. Er darf mit Recht auf die Ehre Anspruch machen, daß man ihn noch heute ernsthaft nimmt. Auch


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ist jene Geschichtsphilosophie noch nicht allgemein gültig, die unter allen Umständen dem Gewordenen recht gibt.
    Die These, die im folgenden begründet werden soll, lautet:   d a s   A T   i m   2.   J a h r h u n d e r t   z u   v e r w e r f e n,   w a r   e i n   F e h l e r,   d e n   d i e   g r o ß e   K i r c h e   m i t   R e c h t   a b g e l e h n t   h a t;   e s   i m   16.   J a h r h u n d e r t   b e i z u b e h a l t e n,   w a r   e i n   S c h i c k s a l,   d e m   s i c h   d i e   R e f o r m a t i o n   n o c h   n i c h t   z u   e n t z i e h e n   v e r m o c h t e;   e s   a b e r   s e i t   d e m   19.   J a h r h u n d e r t   a l s   k a n o n i s c h e   U r k u n d e   i m   P r o t e s t a n t i s m u s   n o c h   z u   k o n s e r v i e r e n,   i s t   d i e   F o l g e   e i n e r   r e l i g i ö s e n   u n d   k i r c h l i c h e n   L ä h m u n g.
    Die Begründung der Erkenntnis, daß die Verwerfung des AT im 2. Jahrhundert (und im kirchlichen Altertum und Mittelalter überhaupt) ein Fehler war, ist leicht zu geben: damals war es, weil das Werden in der Geschichte den Augen verborgen war, schlechthin unmöglich, das AT zu verwerfen, wenn man nicht jede Verbindung der christlichen Religion mit ihm abschnitt und es für das Buch eines falschen Gottes erklärte ¹. So ist M. verfahren. Diese Behauptung ist aber so ungeschichtlich und grundstürzend,   z u g l e i c h   a b e r   a u c h   r e l i g i ö s   s o   v e r w i r r e n d,   daß die Kirche ihr gegenüber alle Schwierigkeiten, alle verhängnisvollen Folgen und alle Sophismen, die die Beibehaltung des AT mit sich brachte, instinktiv und mit Recht in den Kauf genommen hat. Gewiß wird man dem Manne die Anerkennung nicht versagen, der, weil er das Evangelium und das Gesetz für unvereinbar hielt, sich mutig der mächtigsten Tradition entgegenwarf und das AT opferte; aber — von dem geschichtlichen Vacuum, das hinter der christlichen Religion nun entstand, und von der Vergewaltigung der Verkündigung Jesu und des Paulus abgesehen — welche unsägliche Verwirrung mußte entstehen, wenn man die Frömmigkeit der Psalmisten
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    ¹ Oder für ein Fabel- und Lügenbuch, was auf dasselbe herauskommt. Die wissenschaftlich sehr beachtenswerte vermittelnde Betrachtung, welche verschiedene Bestandteile in dem Buch unterschied (Ptolemäus, Pseudoklementinen u. a.), läuft auch auf eine Verwerfung als Ganzes hinaus; sie konnte übrigens nur Sache der Gelehrten und theologischen Schulen sein.


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und die tiefen Prophetenworte als die Wirkungen einer verwerflichen Gottheit zu verurteilen gezwungen war! Unheiliges als Heiliges nehmen zu müssen, das kann jede Religion bis zu einem gewissen Grade ertragen; aber Gutes für schlecht, Heiliges für verwerflich zu halten, das muß sich rächen. Das AT hat die Christenheit in einen tragischen Konflikt gebracht: er war im 2. Jahrhundert und bis auf weiteres nicht so zu lösen, wie ihn M. gelöst hat, sondern wie die Kirche ihn löste. Das NT half ihr seit dem Ausgang des 2. Jahrhunderts dabei und beseitigte wenigstens einen Teil der drückenden Schwierigkeiten und der Sophismen, mit denen man sich die Augen verblendete; nun durfte man   S t u f e n   unterscheiden und das AT auf die niedere stellen; freilich blieb diese Unterscheidung immer bedroht, denn es kann — das erschien selbstverständlich — nur   e i n e   Inspiration und nur   e i n e   durch sie gesetzte lex veritatis geben.
    Durch   L u t h e r ¹   wurde die Paulinisch-Marcionitische Erkenntnis des Unterschieds von Gesetz und Evangelium wieder in den Mittelpunkt gestellt; sie wurde der Hebel der Reformation als geistlicher Bewegung. Seine allen anderen Glaubensbetrachtungen übergeordnete These lautete im Negativen: „Lex non potest nobis monstrare verum deum“; das Gesetz ist „der Juden Sachsenspiegel“, ist ein „leibliches Gesetz“, das die Christen nicht mehr bedürfen, sie haben dafür das kaiserliche Recht; die Gerechtigkeit, die aus dem Gesetz kommt, auch aus seiner Summe, ist ficta et servilis. Die ganze Gesetzessphäre als irdische untersteht dem Christen ², nicht er ihr; als religiöse aber gehört sie einer
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    ¹ Ich gehe sofort zu ihm über, obgleich die Geschichte der alten und mittelalterlichen Kirche hier auch noch Beachtenswertes bietet; doch ist es nicht von solcher Wichtigkeit, daß es erwähnt werden müßte. Vor allem kommt Augustin in Betracht und die Augustinisch-Paulinischen, sowie die antinomistischen Reaktionen in der Kirche; sie bieten alle eine Seite, nach der sie mit dem Marcionitismus verwandt sind. Eine Untersuchung: „Marcion und Augustin“, wäre von besonderem Interesse; vgl. auch meine Abhandlung: „Geschichte der Lehre von der Seligkeit allein durch den Glauben in der alten Kirche“ („Ztschr. f. Theol. u. Kirche“ I, 1891, S. 82—178) und den zweiten Abschnitt dieses Kapitels.
    ² „De legibus quibuscumque tandem nemo potest iudicare nisi ille, qui evangelium habet et intelligit“   (W r a m p e l m e y e r,   Tagebuch über Luther des Cordatus, 1885, S. 55).


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überwundenen Stufe an; wer das nicht erkennt, muß Jude bleiben. Da aber das Gesetz durch das gesamte AT, einschließlich der Propheten, hindurchgeht, so liegt das ganze einheitliche Buch unterhalb der Christenheit.
    Noch deutlicher sah   A g r i c o l a:   er beurteilte das Gesetz als einen   v e r f e h l t e n   Versuch Gottes, durch Drohung die Menschen zu leiten. Kann Gott aber etwas verfehlen? ¹ Von hier aus war kaum mehr als ein Schritt zu der besonnenen Erklärung, die Luther in bezug auf die alexandrinischen Bestandteile des AT ja auch wirklich abgegeben hat, die ATlichen Bücher seien „gut und nützlich zu lesen“, gehörten aber nicht neben das NT, weil sie keine kanonische Richtschnur seien. Welch eine Entlastung der Christenheit und ihrer Lehre wäre es gewesen, wenn Luther diesen Schritt getan hätte! Gehörte mehr christlicher Freimut und Kühnheit zu ihm als zu dem Schritt, den er in der Schrift De captivitate Babylonica gegenüber den Sakramenten unternommen hat, und war nicht die kritische Geschichtserkenntnis schon erwacht? Hatte Luther nicht selbst seit der Leipziger Disputation und bis zu der Schrift über die Konzilien und Kirchen ein einschneidendes Urteil nach dem anderen an der kirchengeschichtlichen Überlieferung vollzogen? Waren nicht auch in bezug auf das AT alle Prämissen gegeben, um ihm endlich sein   k a n o n i s c h e s   A n s e h e n   in der Christenheit zu nehmen und ihm die   h o h e   g e s c h i c h t l i c h e   S t e l l e   anzuweisen, die ihm gebührt?
    Die Prämissen waren vorhanden, aber ihre Konsequenzen konnten noch nicht gezogen werden; denn an diesem Punkt waren Tradition und Gewohnheit doch noch stärker als die erst aufdämmernde geschichtliche Kritik — die Bibel stand fester als die Kirchenlehre, die allegorische Erklärung herrschte noch, und Luther waren die Psalmen so teuer wie die Paulusbriefe — und wenn ihm auch der Mut und die Kraft zuzutrauen sind, daß er einer bloßen Tradition entgegengetreten wäre,   s o   w a r   e r   a n   d i e s e m   P u n k t   n o c h   r e l i g i ö s   g e b u n d e n.   Dies war das Entscheidende. Während Agricola wie Marcion
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    ¹ Auf die Verwandtschaft zwischen Agricola und Marcion hat   F r a n k   aufmerksam gemacht (Theologie der Konkordienformel II, S. 255).


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verkündigte, daß Gottes Güte allein die Buße bewirkt, und damit die Überflüssigkeit des Gesetzes für den ordo salutis proclamierte, glaubte Luther, das Gesetz zur Erweckung der Gewissen nicht entbehren zu können und fand auch sonst Gesichtspunkte, nach welchen die Verkündigung des Gesetzes als des deutlichen Ausdrucks des h. Willens Gottes nicht aufhören dürfe. Er trat damit zwar in Widerspruch zu anderen, ihm teuren Glaubensgedanken, und das hat ihn selbst innerlich angefochten; aber seine konservative Stellung zum AT war entschieden. Daher blieb dem evangelischen Christentum die kanonische Autorität des AT als Schicksal; die widerstrebenden Mächte waren zu schwach, und die Erkenntnis: „Lex non potest nobis monstrare verum deum“, fiel, auf das ganze AT angewendet, kraftlos zu Boden. Man muß noch mehr sagen: durch die Reformation erhielt der Biblizismus, der schon vor ihr im Wachsen gewesen war, eine außerordentliche Verstärkung, und das kam auch dem AT zu gut. Im Gebiete des Luthertums machten sich seine bedenklichen Wirkungen zwar weniger geltend, um so stärker aber in den täuferischen und den aus Täufertum und Reformation gemischten Kirchen, zu welchen die Calvinischen gehören. Hier hat das dem NT völlig gleichgestellte AT unheilvoll auf die Dogmatik, die Frömmigkeit und die christliche Lebenspraxis eingewirkt, in einigen Gruppen sogar einen islamitischen Eifer erzeugt, in anderen eine neue Art von Judaismus hervorgerufen und durchweg ein gesetzliches Wesen befördert. Durch das allmähliche Zurücktreten der allegorischen Methode der Exegese wurden diese Wirkungen verschlimmert; denn diese hatte die inferiorsten und bedenklichen Züge des AT zu einem großen Teil außer Kraft gesetzt. Wäre Marcion zur Zeit der Hugenotten und Cromwells wiedererschienen, so wäre er dem kriegerischen Gott Israels, den er verabscheute, mitten in der Christenheit wieder begegnet. Die Reaktion konnte nicht ausbleiben, und sie entstand in demselben Gebiete der Christenheit, dem Calvinischen, in welchem man so unbedenklich dem ATlichen Geiste Raum gelassen hatte.
    Beim Übergang des 17. zum 18. Jahrhundert tauchte, zunächst in der englischen Aufklärung, die Frage nach dem Recht des AT in der Kirche wieder auf, jetzt aber als   a l l g e m e i n e   Religions- und Geschichtsfrage. Auch wo sie in Anlehnung an


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Paulus beantwortet wurde, blieb doch sein tief begründeter Antinomismus außer Spiel. Am weitesten ist,   T i n d a l   folgend,   T h o m a s   M o r g a n   gegangen und zeigt dabei in den Ergebnissen seiner geschichtlich-philosophischen Spekulation die frappantesten Parallelen zu Marcion, ohne ihm wirklich innerlich nahe zu stehen. Schon der Titel seines berühmten Dialogs zwischen einem christlichen Deisten und einem   c h r i s t l i c h e n   J u d e n   (1737) mutet Marcionitisch an. Der Gott des AT wird ungefähr so gezeichnet wie von M. als ein beschränkter, kleinlicher und widerspruchsvoller Nationalgott, der auch Unmoralisches tut; die Mosaische Gesetzgebung ist ein ganz unbefriedigendes, partikular beschränktes und anstößiges Werk, eine Entstellung der lex naturae, die sich von den heidnischen Religionen wenig unterscheidet. Das Volk Israel, von Haus aus von schlechtem Charakter, geht an diesem Gesetze zugrunde. Jesus bringt die durch Offenbarung geklärte lex naturae; er hat zum wahren Schüler nur Paulus gehabt; die anderen Apostel alle haben Jesus mißverstanden und sind in das jüdische Wesen zurückgefallen, mit ihnen die Kirche, die also, wenn auch Verbesserungen durch die Einwirkungen des Paulus nicht gefehlt haben ¹, bis heute noch zur Hälfte im Judentum steckt. Daß diese Darlegung, obgleich sie sehr viel Richtiges und Wertvolles enthielt, in ihren kecken Übertreibungen keinen Eindruck auf die offiziellen Kirchen machen konnte, versteht man. Für die Entstehung einer universalen und positiv-kritischen Geschichtsphilosophie ist sie von unermeßlicher Bedeutung geworden.
    Diese hat sich im Anfang des 19. Jahrhunderts auf dem Grunde, aber unter scharfer Korrektur, der religionsgeschichtlichen Erkenntnisse der englischen Aufklärung entwickelt und dabei von   S c h l e i e r m a c h e r,   H e g e l,   sowie von der Gesamtheit der aus dem Pietismus stammenden Denker den Sinn für die Eigenart und Würde der christlichen Religion erhalten. Im Formalen war (neben der Schulung für die Beobachtung des Tatsächlichen in allen seinen Erscheinungen) die Erkenntnis   d e r   I m m a n e n z   d e r   I d e e n   i m   W i r k l i c h e n   u n d   d e r   E n t w i c k l u n g   d e r   W a h r h e i t   i m   G a n g e
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    ¹ Die Idee, die katholische Kirche sei nach Kämpfen ein Ausgleich zwischen Petrinern und Paulinern, findet sich auch bei   M o r g a n.


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d e r   G e s c h i c h t e   das Hauptergebnis. Im Materialen darf man, die christliche Religion anlangend,   d i e   E r k e n n t n i s   v o n   d e r   E i g e n a r t   i h r e s   G o t t e s b e g r i f f s   s u b   s p e c i e   C h r i s t i   als das Hauptergebnis betrachten. Aus geschichtskritischen und religiösen Gründen folgte von hier aus mit zwingender Notwendigkeit und Evidenz, zumal da der Begriff der Inspiration im alten Sinne aufgelöst war, daß jede Art der Gleichstellung des AT mit dem NT und jede Autorität desselben im Christentum unstatthaft ist. Klar hat das   S c h l e i e r m a c h e r   erkannt und andere neben ihm; Marcion hat recht bekommen, wenn auch teilweise mit anderer Begründung. Seit einem Jahrhundert wissen das die evangelischen Kirchen und haben nach ihren Prinzipien die Pflicht, dem Folge zu geben, d. h. das AT zwar an die Spitze der Bücher zu stellen, „die gut und nützlich zu lesen sind“ und die Kenntnis der wirklich erbaulichen Abschnitte in Kraft zu erhalten, aber den Gemeinden keinen Zweifel darüber zu lassen, daß das AT   k e i n   kanonisches Buch ist. Aber diese Kirchen sind gelähmt, haben sich kein Organ schaffen können, durch welches sie sich von veralteten Traditionen zu befreien vermögen, und finden auch nicht die Kraft und den Mut, der Wahrheit die Ehre zu geben; sie fürchten sich vor den Folgen eines Bruchs mit der Tradition, während sie die viel verhängnisvolleren Folgen nicht sehen oder mißachten, die fort und fort aus der Aufrechterhaltung des ATs als heiliger und daher untrüglicher Schrift entstehen. Stammt doch die größte Zahl der Einwendungen, welche „das Volk“ gegen das Christentum und gegen die Wahrhaftigkeit der Kirche erhebt, aus dem Ansehen, welches die Kirche noch immer dem AT gibt. Hier reinen Tisch zu machen und der Wahrheit in Bekenntnis und Unterricht die Ehre zu geben, das ist die Großtat, die heute — fast schon zu spät — vom Protestantismus verlangt wird. Die Einwendung der Überklugen und Verschlagenen aber, die Autorität des NT im alten Sinn (Buchstaben-Autorität) sei durch Zerstörung des Inspirationsdogmas ja auch aufgelöst, also könne man die beiden Testamente wie bisher ruhig beieinander lassen, ist nur eine Ausflucht. Gewiß ist auch die Autorität des NT eine andere geworden, und das soll unzweideutig bekannt werden; aber es bleibt doch der   K a n o n   für die Kirche, nicht aus formalen Gründen und nicht mit der formalen Autorität

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des Buchstabens — wie es als Sammlung zustande gekommen ist, wissen wir jetzt; Marcion hat den Grund gelegt —, sondern weil sich eine bessere Urkundensammlung für die Bestimmung dessen, was christlich ist, nicht schaffen läßt. Zu diesem Kanon darf das AT nicht gestellt werden; denn was christlich ist, kann man aus ihm nicht ersehen. Die beiden anderen Einwendungen aber, man müsse dem AT die alte Stellung und Schätzung belassen, weil Jesus es als heilige Schrift anerkannt habe und weil es die große Urkunde für die Vorgeschichte des Christentums sei, dürfen auch nicht ins Gewicht fallen; denn Jesus selbst hat in seinem feierlichsten Wort seinen Jüngern gesagt, daß fortab alle Gotteserkenntnis durch ihn gehe, und der wissenschaftliche Gesichtspunkt, die Urkunden der Vorgeschichte des Christentums mit seinen eigenen auf   e i n e r   Fläche zu verbinden, ist kein religiöser, sondern ein profaner.
    So steht die Frage des AT, die M. einst gestellt und entschieden hat, heute noch fordernd vor der evangelischen Christenheit. Die übrige Christenheit muß sie überhören; denn sie ist außerstande, die richtige Antwort zu geben, der Protestantismus aber kann es und kann es um so mehr, als das schreckliche Dilemma, unter welchem M. einst gestanden, längst weggeräumt ist. Er mußte das AT als ein falsches, widergöttliches Buch   v e r w e r f e n,   um das Evangelium rein behalten zu können; von „verwerfen“ ist aber heute nicht die Rede, vielmehr wird dieses Buch erst dann in seiner Eigenart und Bedeutung (die Propheten) allüberall gewürdigt und geschätzt werden, wenn ihm die   k a n o n i s c h e   Autorität, die ihm nicht gebührt, entzogen ist ¹.

2. Das Evangelium vom fremden Gott und der Panchristismus.

    Die Schriften sind ihrem Wortsinn nach zu verstehen; alle Allegoristik ist zu verbannen — das Evangelium steht auf sich
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    ¹ Ich protestiere hiermit dagegen, daß meine Ausführungen mit denen von   F r i e d r i c h   D e l i t z s c h   („Die große Täuschung“) zusammengestellt werden, wie dies mehrfach geschehen ist; diese sind vom wissenschaftlichen Standpunkt aus ebenso rückständig wie vom religiösen verwerflich.


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selbst; es bedarf keiner Beglaubigung durch äußere Autoritäten und Weissagungsbeweise ¹, keines Unterbaus durch die Philosophie, keiner Verklärung durch die ästhetische Anschauung und keiner Belebung durch den Synkretismus oder durch Enthusiasmus, Mystik und Pneumatik — das AT ist das Buch des minderwertigen jüdischen Gottes — für das geschichtliche Verständnis des kirchlichen Christentums mit seinen Gesetzlichkeiten muß man auf den Kampf zwischen Paulus und den judaistischen Christen zurückgreifen — um das Wesen des Christentums für die Zukunft sicher zu stellen, bedarf es gegenüber dem AT und modernen Schriften einer kanonischen Sammlung seiner echten Urkunden — diese Sammlung muß zweiteilig sein, d. h. Christus und Paulus umfassen; denn dieser, und nur er, ist der authentische Interpret jenes — die Kirche ist nicht nur im Glauben, sondern auch tatsächlich einheitlich zusammenzuschließen und zu begründen, aber nicht auf irgendeine philosophische Dogmatik, sondern auf die Glaubens- und Lebensprinzipien des Evangeliums —: wenn Marcion nur diese Sätze geltend gemacht und, wie er es getan, kraftvoll vertreten hätte, so hätte er schon genug getan, um sich eine einzigartige und eminente Stellung in der Kirchengeschichte als ein ebenso scharfer, wie profunder, und als ein ebenso realistischer wie religiöser Geist zu sichern.
    Ist doch in dem, was er ablehnt und was er fordert, ein ganz bestimmter und charaktervoller christlicher Religionstypus gegeben, nämlich der, nach welchem die christliche Religion schlechthin nichts anderes ist als   G l a u b e   (im Sinne der fides historica und fiducia)   a n   d i e   O f f e n b a r u n g   G o t t e s
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    ¹ Es seien hier um ihrer Bedeutung willen die Marcionitischen Worte deutsch wiedergegeben, die uns durch Origenes (in Joh. II, § 199; s. o. S. 108) erhalten sind: „Der Sohn Gottes braucht keine ,Zeugen‘ (d. h. keine Propheten, die auf ihn geweissagt haben); denn in seinen machtvollen Heilandsworten und in seinen Wundertaten liegt die überzeugende und tieferschütternde Kraft“. Und nun ganz wörtlich: „Wenn Moses Glauben gefunden hat um seines Wortes und seiner Krafttaten willen und nicht nötig hatte, daß ihm weissagende Zeugen vorangingen, und wenn ebenso jeder Prophet vom Volk als von Gott gesandt angenommen wurde, um wieviel mehr hat nicht der, der viel mehr war als Moses und die Propheten, die Kraft, ohne vorherbezeugende Propheten das auszuführen, was er will, und der Menschheit zu helfen“.


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i n   C h r i s t u s.   Da dabei der Rekurs auf jede religiöse Anlage (im Sinne des Prologs der Konfessionen Augustins) wegfällt, der Mensch also der (fremden) Heilsbotschaft gegenüber „truncus et lapis“ ist,   s o   i s t   w i r k l i c h   d e r   G l a u b e n s b e g r i f f   L u t h e r s   d e r j e n i g e,   d e r   d e m   M a r c i o n i t i s c h e n   a m   n ä c h s t e n   s t e h t,   w i e   s c h o n   N e a n d e r   (s. S. 198)   g e s e h e n   hat.
    Aber weit über   L u t h e r   hinaus hat M. den Kontrast zwischen Gott dem Heiland und der Welt, zwischen dem Wunder der Erlösung und dem Menschlichen — sei es auch dem höchsten — auf die Spitze getrieben, und hierin besteht seine   s i n g u l ä r e   Eigenart. Er hat das Evangelium, d. h. Christus, so erlebt, daß er schlechthin   j e d e   religiöse Offenbarung und Erweckung außer ihm als falsch und feindlich beurteilt hat.
    Hieraus mußte er die erschütternde, aber in ihrer Einfachheit zugleich befreiende Folgerung ziehen, die ihn auf dem Boden des Christentums zum Religionsstifter gemacht hat: der bekannte Gott dieser Welt ist ein verwerfliches Wesen;   d a s   E v a n g e l i u m   a b e r   i s t   d i e   B o t s c h a f t   v o m   f r e m d e n   G o t t;   er ruft uns nicht aus der Fremde, in die wir uns verirrt, in die Heimat, sondern aus der grauenvollen Heimat, zu der wir gehören, in eine selige Fremde.
    Nur sofern sie soteriologisch orientiert ist, trägt diese Religionsstiftung den Stempel ihrer Zeit ¹; sonst ist sie vollkommen unjüdisch und ebenso unhellenisch. Kann es etwas Unhellenischeres geben, als diesen völligen Verzicht auf die Kosmologie, die Metaphysik und das Ästhetische? ² Und wenn hier jedes Paktieren mit dem höheren Menschentum, mit dem Genialischen, dem Prophetischen und dem Spekulativen, ebenso streng ausgeschlossen ist wie mit dem Moralismus, dem Legalen und dem bloß Autoritativen — welch’ eine Umwertung der Werte und welch’ eine Auflösung der Kultur mußte die Folge sein! Im neuen Lichte des Evangeliums verkündigte Marcion der ganzen
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    ¹ Niemand konnte damals ein Gott sein, der nicht auch ein Heiland war; nur die wenigen genuinen Stoiker dachten darüber anders.
    ² „Haec cellula creatoris“ — hätte je ein Hellene so abschätzig von Himmel und Erde sprechen können? Diese Welt des physischen und moralischen Ungeziefers!


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alten Welt und ihren gleißenden Idealen die Götterdämmerung: „Die falschen Götzen macht zu Spott; ein neuer Herr ist Gott“ ¹.
    Man muß, um M. vollkommen zu verstehen, den Versuch machen, die zeitgeschichtlichen Gerüste abzubrechen. Man kann das, ohne ihn auch nur in   e i n e m   Zuge zu modernisieren; im folgenden ist der Versuch gemacht:
    In dieser bösen Welt, der wir angehören, und in uns selbst verschlingen sich zwei Reiche: das eine ist das der Materie und des Fleisches, das andere das des „Geistes“, der Moral und der Gerechtigkeit. Vereint und in sich verschlungen sind sie, obschon sie im Gegensatz zueinander stehen; das weist auf die jammervolle Schwäche dessen zurück, der für diese Schöpfung verantwortlich ist; er, obgleich „Geist“ und moralische Kraft, war nicht imstande, etwas Besseres als diese entsetzliche Welt zu schaffen, zu der er den „Stoff“ aus der von ihm als schlecht gehaßten Materie nehmen mußte. In dieser Welt steht der Mensch; aus fleischlicher Lust und der unsäglich gemeinen Begattung entstehend, mit dem Leibe behaftet und an ihn gekettet, zieht es ihn hinunter in das Treiben der Natur, und die große Menge der Menschen ergeht sich in allen Schanden und Lastern und lebt in brutalem Egoismus schlimm, schamlos und „heidnisch“. So will sie der Gott nicht, der sie geschaffen hat; er will sie „gerecht“, hat ihnen einen Sinn für das Gerecht-Gute eingepflanzt und sucht sie zu diesem zu leiten. Aber was ist dieses „Gerecht-Gute“, was ist das höchste Ideal? Und wie leitet er sie? Die Antwort auf diese Fragen kann man aus der „Welt“ und der Geschichte, aus dem „Gesetz“ und der Moral selbst ablesen; denn die „Welt“ und das „Gesetz“ sind ja nichts anderes als der Gott dieser Welt und als der Gott des Gesetzes ².
    Der objektive Befund zeigt also ein widerspruchsvolles Durcheinander, das jeder Rechtfertigung spottet. Einerseits gewahrt man eine strenge und peinliche Gerechtigkeit, die sich im Physischen und Moralischen durchzusetzen strebt, mit Verboten, Prämien und Strafen arbeitet und so das Naturhafte und Gemeine zu überwinden trachtet; man gewahrt den Geist der zehn Gebote, der Autorität, der Gehorsamsforderung, des Knechtisch-
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    ¹ Auf die Verwandtschaft mit   T o l s t o i   sei schon hier hingewiesen.
    ² Marcion hat diese Gleichungen ausdrücklich vollzogen, s. S. 103.


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Guten und einer mühsam sich durchsetzenden, angeblich sittlichen Weltordnung. Aber mit diesem „Gerechten“ ist Sinnloses, Härte und Grausamkeit und wiederum Schwanken, Schwäche und Kleinliches so untrennbar verbunden, daß alles zu einem jämmerlichen Schauspiel wird. Und selbst damit ist noch nicht das Schlimmste gesagt: diese Gerechtigkeit selbst, und zwar gerade dort, wo sie am reinsten erscheint und das Naturhafte mehr oder weniger gebändigt hat, ist im tiefsten unsittlich; denn sie ist ohne Liebe, stellt alles unter Zwang, reizt ebendadurch erst zur Sünde   u n d   f ü h r t   n i c h t   a u s   d e r   W e l t   h e r a u s.
    Dieser „Gott“, d. h. also diese Welt, ist das Schicksal des Menschen; ihm bleibt nur eine bange Wahl: entweder er entzieht seinem Schöpfer durch Libertinismus, Schande und Laster den Gehorsam und verfällt damit als entsprungener Sklave seinem Zorn und Gericht — das ist das Los der großen Mehrzahl —, oder er folgt ihm und seinem launenhaften Willen mit knechtischem Gehorsam und wird ein Gerechtigkeits-, Gesetzes- und Kulturmensch; dann überwindet er zwar das Gemeine, aber es wird schlimmer mit ihm; denn im Grunde ist nicht das Böse der Feind des Guten — sie sind inkommensurabel und das Böse ist heilbar —, sondern jene erzwungene, angelernte und selbstzufriedene „Gerechtigkeit“, die von Liebe ebensowenig weiß wie von einer Erhebung ins Überweltliche, und die zwischen Furcht und tugendstolzem Behagen abwechselnd, niemals zur Freiheit kommt.
    Die furchtbare Tragik des Menschenschicksals ist damit gegeben. Nicht gleißende Laster sind die Tugenden des Menschen, wohl aber stumpfen sie hoffnungslos gegen Höheres ab. Wieviel tiefer schaute Marcion in das Menschliche hinein als die Durchschnittschristenheit seiner Tage ¹: das angepriesene Heilmittel, das heteronome Gesetz, ist in seinem Effekt, so lehrte er, schlimmer als das Grundübel! Es befreit wohl von diesem Übel, aber es führt ein schlimmeres herauf. die Verhärtung in einer
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    ¹ Sie konnte unter Umständen die Welt wohl noch härter beurteilen als Marcion, indem sie erklärte, dieser Äon sei ganz   d e s   T e u f e l s;   aber — der mundus ist doch gut, nur das saeculum ist schlecht, und als vernünftiges Wesen kann der Mensch jederzeit zum „Guten“ sich erheben.


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selbstgerechten Lieblosigkeit und Mediocrité, die unheilbar ist. Daher — fort mit jeder Theodizee und fort mit jeder teleologischen Kosmologie; an dieser Welt samt ihren Idealen und ihrem Gott ist nichts zu rechtfertigen, und ihre „Gerechten“ sind Sklaven! Hier gilt nicht nur: „Valet will ich dir geben, du arge, falsche Welt“ sondern noch vielmehr ein heiliger Trotz gegenüber den „himmlischen Mächten“, die in dieses Leben hineinführen, den Menschen schuldig werden lassen und ihn mit ihrer empörenden „Gerechtigkeit“ beherrschen —: bis zum physischen Ekel vor allem, was die Menge „Gott“ nennt und was doch „Welt“ ist, soll man den Widerwillen empfinden ¹.
    Aber so zu empfinden vermag nur, wem das   „G a n z   A n d e r e“,   d a s   „F r e m d e“   aufgegangen ist — aufgegangen als die   M a c h t   d e r   L i e b e,   und nicht nur als ein subjektiv,   s o n d e r n   a u c h   a l s   e i n   o b j e k t i v   N e u e s.   Hier bleiben selbst die weit hinter Marcion zurück, die, wie Paulus und seine Schüler, von der „neuen Kreatur“ und dem „neuen Zustand der Seele“ in ergreifenden Bekenntnissen gesprochen haben ²; denn sie dachten immer nur an eine   n e u e   A r t   der Offenbarung Gottes; solch ein Halbgedanke aber in bezug auf Gott war M. ein Greuel. Er verkündete deshalb den   f r e m d e n   Gott mit einer ganz neuen „dispositio“. An Christus hatte er ihn erlebt und nur an ihm;   d a h e r   e r h o b   e r   d e n   g e s c h i c h t l i c h e n   R e a l i s m u s   d e s   c h r i s t l i c h e n   E r l e b n i s s e s   z u m   t r a n s z e n d e n t e n   und erblickte über der dunklen und dumpfen Sphäre der Welt und ihres Schöpfers die Sphäre einer neuen Wirklichkeit, d. h. einer neuen Gottheit ³.
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    ¹ Man erinnere sich wiederum   T o l s t o i s.
    ² Pascal, Pensées p. 340: „La première chose que Dieu inspire à l’âme qu’il daigne toucher véritablement, est une connaissance et une vue tout extraordinaire, par laquelle l’âme considère les choses et elle même d’une façon toute nouvelle. Cette nouvelle lumière lui donne de la crainte“.
    ³ Wenn heute die Religionsphilosophie wieder das Objekt der Religion (das „Heilige“) grundlegend als das „ganz Andere“, als das „Fremde“ oder ähnlich definiert und zu dieser Grunddefinition Forscher vom Pietismus, von der reformatorischen Orthodoxie, vom Katholizismus und vom Kritizismus her gelangen, und wenn sie ferner von allen „Beweisen“ abzusehen lehren und allein das Phänomen für sich sprechen lassen wollen,


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    Sie ist   L i e b e,   nichts als Liebe; schlechterdings kein anderer Zug ist ihr beigemischt. Und sie ist   u n b e g r e i f l i c h e   Liebe; denn sie nimmt sich in purem Erbarmen eines ihr ganz fremden Gebildes an und bringt ihm,   i n d e m   s i e   a l l e   F u r c h t   a u s t r e i b t,   das neue, ewige Leben. Nunmehr gibt es etwas in der Welt, was nicht von dieser Welt ist und über sie erhebt! Als unfaßliches Geschenk wird es durch das Evangelium verkündet und ausgeteilt: „O Wunder über Wunder, Verzückung, Macht und Staunen ist, daß man gar nichts über das Evangelium sagen, noch über dasselbe zu denken, noch es mit irgendetwas vergleichen kann!“ In demütigem Glauben allein wird es empfangen von den Armen und denen, die da hungern und dürsten.
    In der Konzeption, daß Gott nichts ist als Liebe, ist der Gottesbegriff zugleich auf die höchste und auf die eindeutigste Formel gebracht. Wohl muß man fragen, ob da noch das Heilige als mysterium fascinosum et tremendum bestehen kann, wo der „Zorn Gottes“ abgelehnt wird, wo es keine „Furcht“ mehr geben soll, wo der Lobpreis „die Himmel erzählen die Ehre Gottes“ verstummt, und wo sich die Liebe an kein Gesetz gebunden weiß. Aber es bedarf nur eines Blicks auf die eben zitierten Worte Marcions: „O Wunder über Wunder“ usw., um zu erkennen, daß für diesen Mann das Erhabene und Geheimnisvolle, das Große und Heilige der Religion wirklich in der   L i e b e   beschlossen war; denn diese Liebe war ihm doch die unfaßbare,   a l l m ä c h t i g e   Liebe. Zwar kann zur Zeit der fremde Gott, der tief das Innerste erregt, „nach außen nichts bewegen“; als Elende und Gehaßte müssen daher seine Gläubigen diese entsetzliche Welt noch ertragen; aber in Christus ist sie schon überwunden, und am Ende des Weltlaufs wird es sich zeigen, daß der, der jetzt in uns ist, größer ist als der, der in der Welt ist. Die Welt mitsamt ihrer Gerechtigkeit, ihrer Kultur und ihrem Gott wird vergehen; aber das neue Reich der Liebe wird bleiben. Und in der Gewißheit, daß nichts von der Liebe Gottes scheiden
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so haben sie allen Grund, sich des einzigen Vorgängers in der alten Kirchengeschichte zu erinnern, der diesen fremden Gott kannte, bei Namen rief und alle Beweise und „Bezeugungen“, damit man an ihn glauben könne, abgelehnt hat.


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kann, die in Christus erschienen ist, sind die Elenden und Gehaßten doch auch jetzt schon die Triumphierenden. Vom Geiste der Liebe regiert und zu einem Bruderbund in der heiligen Kirche zusammengeschlossen, sind sie schon jetzt über die Leiden dieser Zeit erhaben. Sie haben Geduld und können warten.
    Dies alles ist aber keine blasse und erklügelte, aus dem Trotz der Verzweiflung über die Welt ersonnene Spekulation, sondern   c h r i s t l i c h e s   Erlebnis; denn an der Person Christi ist dieses Neue eine leibhaftige Wirklichkeit; an ihm ist sie empfunden. Die Liebe ist Er, und Er ist die Liebe; die Erbarmung ist Er, und Er ist die Erscheinung des überweltlichen Gottes und des überweltlichen Lebens. Das Reich des Guten und der Liebe ist Panchristismus. Durch Christus und nur durch Ihn vollzieht sich auch die Umwertung der Werte: gewiß, auch Er lehnt das naturhaft Gemeine, den Fleischessinn ebenso ab wie der Weltschöpfer — d i e s e   m o r a l i s c h e   A b l e h n u n g   v e r s t e h t   s i c h   i m m e r   v o n   s e l b s t —, aber nur die Sünder vermag er zu erlösen; denn die, welche sich aus der Sünde in die „Gerechtigkeit“ dieser Welt geflüchtet haben, in ihr Gesetz und ihre Kultur, sind als verhärtete „Gerechte“ der Erlösung nicht mehr fähig. Ist das eine verstiegene Behauptung?

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    Hat M. nicht wirklich recht gegenüber der großen Christenheit, damals und heute noch? Bringt er nicht das konsequente Schlußglied für die Kette, die durch die Propheten, Jesu und Paulus bezeichnet ist, trotz des gewaltigen Unterschieds? Ist denn der paradoxe Unterschied zwischen den Propheten und Jesus etwa geringer, wenn Jesus die Propheten zwar bestätigt, aber verkündigt: „Niemand kennt den Vater denn nur der Sohn“? Und wiederum, ist der paradoxe Unterschied zwischen Jesus und Paulus kleiner, wenn Paulus sich zwar in allem an das Wort des Herrn halten will, aber ihn gegen dieses Wort als das Ende des Gesetzes bezeichnet und einen antinomistischen Glaubensbegriff entwickelt, der durch kein Wort Jesu wirklich gedeckt ist? Ferner, gibt es eine rationale Theodizee, die nicht ihrer selbst spottet, und ist es nicht ein immer wieder gescheitertes Unternehmen, Wesen und Art, Grund und Hoffnung des Glaubens irgendwie mit der „Welt“ in Einklang zu setzen, d. h. von der Ver-


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nunft und dem Weltlauf aus zu begreifen? Wird der Geist nicht wirklich erst zum Geist, die Seele zur Seele und die Freiheit zur Freiheit, wenn ihnen jene unbegreifliche Liebe geschenkt wird, die nicht von dieser Welt ist? Und sind „Gerechtigkeit“, Moral und Kultur wirkliche Heilmittel für den ans Sinnliche gebundenen Menschen, sind sie nicht Palliative, die schließlich das Übel noch ärger machen, wenn der selbstlose höhere Liebeswille fehlt? Erzeugt der gestirnte Himmel über mir und das Sittengesetz in mir wirklich den Aufschwung zur aeterna veritas und vera aeternitas, die in der Liebe zu Gott und den Brüdern gegeben ist, oder sind sie nicht Kräfte, die bei jeder großen Probe versagen? Gibt es nicht wirklich drei Reiche, von denen zwei trotz ihres Gegensatzes untrennbar in sich verflochten sind, und nur das dritte eine neue Sphäre bezeichnet? Und ist nicht Christus — tatsächlich, was geht einen lebendigen Menschen die Frage nach dem Absoluten an? — der Anfänger und Vollender der neuen, freimachenden Gotteskraft?
    In allen diesen Fragen, die hier nicht willkürlich an M. herangebracht sind, sondern in denen sein Glaube lebte, ist seine Entscheidung klar. Der Christ und der Religionsphilosoph mag aber noch folgendes bedenken:
    M. hat mit einer herrlichen Sicherheit verkündet,   d a ß   d e r   L i e b e s w i l l e   J e s u,   a l s o   G o t t e s,   n i c h t   r i c h t e t,   s o n d e r n   h i l f t,   und er will, daß schlechthin nichts anderes von ihm ausgesagt werde. Er hat ferner diesem Evangelium so vertraut, daß er das   F u r c h t m o t i v   in jedem Sinne ausgeschaltet hat und daher auch in bezug auf die Sünde nur das   e i n e   Motiv gelten läßt: „Absit, absit“; d. h. nur   d i e   Abkehr von der Sünde ist wirklich Abkehr, die aus dem   A b s c h e u   von ihr entspringt. Es ist auch kein Sophismus, wenn er erklärt, daß Gott am Ende der Dinge nicht richten werde, und doch einräumt, daß die große Menge der Menschen nicht erlöst werden wird; denn sie werden, wie er sich ausdrückt, von den Augen Gottes entfernt, weil sie sich selbst schon definitiv von ihm entfernt haben. Im übrigen kommt er hier, wie an anderen Punkten seiner Orientierung über Welt und Religion dem gesunden Agnostizismus sehr nahe. Im Grunde hat er ja auch keine Prinzipien l e h r e — er muß diese (wie die verschiedenen Schulen, die er zugelassen hat, beweisen, s. o.) freigelassen haben —; vielmehr zeigt die


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völlig verschiedene Art, in welcher er den guten Gott, den Weltschöpfer und die Materie faßt, daß ihre Nebeneinanderstellung nicht den Sinn haben kann und soll, als seien sie formell gleichartige Größen. Er ist, so muß man seine Gedanken deuten, bei seinen Betrachtungen auf die Sinnlichkeit, auf die Welt (als Kosmos und Gesetz) und auf die reine Liebe als auf die letzten, nicht weiter zu reduzierenden und unvereinbaren Größen gestoßen, hat folgerecht bei ihnen haltgemacht und ihre Gebiete durch die Integrale Materie, Weltschöpfer (Gesetzgeber) und „fremder Gott“ bezeichnet ¹.
    Das alles ist so rein gedacht und — eben weil weitere Spekulationen ausgeschlossen werden (anders Apelles), — so widerspruchslos, daß man auch intellektuelle Freude an seinen Gedanken hat, die Dutzende von Einwürfen, denen die Kirchenlehre ausgesetzt ist, entwaffnen. Auch kommt, das sei nur nebenbei bemerkt, seine Art das Evangelium zu verkündigen, den Bedürfnissen der Gegenwart merkwürdig entgegen, vielleicht auch deshalb, weil die Zustände seiner Zeit den unsrigen verwandt waren. Die tiefsten Kenner der Volksseele, wie sie in den Verächtern des kirchlichen Christentums heute lebt, versichern uns, daß nur die Verkündigung der Liebe, die nicht richtet, sondern hilft, noch Aussicht hat gehört zu werden. Hier tritt M. auch   T o l s t o i   zur Seite und hier   G o r k i.   Jener ist durch und durch ein marcionitischer Christ. Was wir an direkten religiösen Aussagen von M. besitzen, könnte auch er geschrieben haben, und umgekehrt würde M. in   T o l s t o i s   „Elenden und Gehaßten“, in seiner Auslegung der Bergpredigt (die ja auch für M. „die Gedanken Jesu waren, in denen er die Eigenheit seiner Lehre ausgedrückt hat“) und in seinem Eifer gegen die gemeine Christenheit sich selbst wiedererkannt haben.   G o r k i s   ergreifendes Stück „Das Nachtasyl“ aber kann einfach als ein Marcionitisches Schauspiel bezeichnet werden; denn „der Fremde“, der hier auftritt, ist der Marcionitische Christus, und sein „Nachtasyl“ ist die Welt.
    Soviel ist gewiß — daß in der Kirchengeschichte und in
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    ¹ Daß „Sinnlichkeit“ und „Kosmos“ sehr wohl vereinbar sind und daß M. vielleicht durch gnostische Einflüsse zu ihrer Trennung gekommen ist, daran sei erinnert.


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der Religionsphilosophie das Marcionitische Evangelium kaum jemals wieder verkündigt worden ist, ist mindestens in der Regel nicht die Folge einer tieferen und reicheren Erfahrung gewesen, sondern ein Zeichen religiöser Stumpfheit und träger Abhängigkeit von der Tradition. Zwar geht ein Marcionitisches Wetterleuchten durch die ganze Kirchen- und Dogmengeschichte von   A u g u s t i n s   Gnaden- und Freiheitsempfindung an, deren theoretischer Deutung die Marcionitische Lehre ohne große Schwierigkeiten unterlegt werden kann; aber eben nur ein Wetterleuchten ist zu konstatieren. Nur   e i n   religionsphilosophisches Werk gibt es, welches streng Marcionitisch ist, wenn auch M.s Name in ihm nicht genannt wird: „Das Evangelium der armen Seele“ (mit einem Vorwort von H.   L o t z e,   1871 ¹). Der anonyme Verfasser   (J u l i u s   B a u m a n n)   hat jedoch seine Aufgabe nicht streng wissenschaftlich aufgefaßt und schrieb breit und zerflossen. So ist das sehr beachtenswerte Buch wirkungslos zu Boden gefallen; heute aber müßte es wieder aufgenommen werden; denn der Marcionitismus, den es vertritt, hat Tieferes zu sagen als die Erscheinungen der Philosophie des „Als ob“ und des Agnostizismus.

    Ernstlich erhebt sich sowohl für die christliche Dogmatik wie für die Religionsphilosophie die Frage, ob der Marcionitismus, wie er heute gefaßt werden muß — wie leicht lassen sich seine zeitgeschichtlichen Gerüste abbrechen! —, nicht wirklich die gesuchte Lösung des größten Problems ist, d. h. ob die Kurve „die Propheten, Jesus, Paulus“ sich nicht zutreffend nur in Marcion fortsetzt, und ob die Religionsphilosophie sich nicht genötigt sehen muß, die Antithese „Gnade (neuer Geist und Freiheit) > Welt (einschließlich der Moral)“ als das letzte Wort anzuerkennen. Was läßt sich gegen M. einwenden? Hier eine erschöpfende Antwort zu geben, die letztlich nur eine ablehnende sein kann, aber die Hauptmotive M.s in Kraft erhält, hieße die
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    ¹ Neben dieses Werk kann auch die Lehre der beiden   M i l l   (vgl. J. St.   M i l l s   Aufsatz über die Natur u. s.   J o d l,   Gesch. d. Ethik ² II (1912) S. 474 f., 713 f.) gestellt werden, woran mich K.   T h i e m e   mit Recht erinnert hat.


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ganze religionsphilosophische Frage aufrollen: ich beschränke mich daher auf einige Andeutungen:
    Erstlich, es liegt etwas Expressionistisches in der Marcionitischen Orientierung über Gott und Welt, man kann auch sagen, eine gewisse Flucht vor dem Denken; einem scharfen Denker muß es, wie im Altertum so auch heute noch, schwer fallen, sich bei ihr zu beruhigen. Dazu kommt, daß seine Deutung des Wirklichen zur Mythologie zu führen droht; denn nach der Anlage unseres Geistes können wir als Denker wohl Monisten und Pluralisten, nicht aber Dualisten sein, ohne Mythologen zu werden, d. h. uns in Phantasien zu verlieren. Sodann empfindet man das dezidierte Urteil über die Welt bei aller berechtigten Empörung über den Weltlauf doch als Vermessenheit; kommt es dem Menschen zu, über die Gesamtheit des Wirklichen in Natur und Geschichte, soweit es nicht Gnade und Freiheit ist, den Stab zu brechen? Und sind „Moral“ und Freiheit im geschenkten Guten wirklich nur Gegensätze und nicht auch Stufen? Weiter, man darf zwar M. den Vorwurf nicht machen, daß er keine Vorsehung kennt — er leugnet sie nur in bezug auf den Weltlauf, ist jedoch gewiß, daß den Erlösten nichts von der Liebe Gottes zu scheiden vermag, und fordert daher eine unerschütterliche Geduld —, aber er beschneidet doch das Leben der Frömmigkeit aufs empfindlichste, wenn sie Kreuz und Leiden nicht mehr als Schikkungen desselben Gottes betrachten darf, der das Heil schenkt. Ferner, ist es nicht falsche Innerlichkeit, ja Lieblosigkeit, wenn man gebietet, die ganze Welt als unheilbar preiszugeben, sich nur auf die   P r e d i g t   des Evangeliums zu beschränken und sonst nichts   i n   W i r k e n   u n d   T a t   zu versuchen? ¹ Setzt aber nicht alles Wirken die Reformabilität des Wirklichen und damit ein ursprünglich Gutes in ihm voraus? Damit hängt endlich das letzte eng zusammen: eine Gottes- und Weltanschauung, die, wenn sie die Bilanz zieht, die Askese so weit treiben muß, daß sie die Fortpflanzung des Menschengeschlechts für alle unter-
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    ¹ M a x   S c h e l e r   („Von zwei deutschen Krankheiten“, in dem Werk „Der Leuchter“, 1919, S. 161 ff.) hält dem Lutherischen Protestantismus die Gefahr der falschen Innerlichkeit vor — mit welchem Rechte, mag hier dahingestellt bleiben; aber auf M. scheint der Vorwurf zutreffend zu sein.


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bindet, kann nicht die richtige sein; denn sie hebt die Grundvoraussetzung alles positiven Denkens auf, nämlich, daß das Leben irgendwie etwas Wertvolles sein muß. Und wenn die Liebe nicht nur alles duldet, sondern auch alles   h o f f t,   darf man da die Hoffnung aufgeben, daß ihr Geheimnis und ihre Kraft, sei es auch wider allen Augenschein, doch auch die Welt und die Geschichte mit ihrem Elend und ihrer Sünde a fundamentis umspannen, um sie in melius zu reformieren?
    Dies mögen die wichtigsten Einwürfe sein, die man M. entgegenzuhalten hat; er hätte wohl auf jeden etwas zu sagen, aber ich zweifle, ob etwas Durchschlagendes. Die Kirchenlehre samt ihrem Alten Testament ist freilich damit noch lange nicht gerettet, wohl aber der erste, allen Marcionitismus abstoßende Artikel ihres Glaubens: „Ich glaube an Gott, den allmächtigen Vater“. Dennoch kann man nur wünschen, daß sich in dem wirren Chor der Gottsuchenden heute wieder auch Marcioniten fänden; denn „leichter erhebt sich die Wahrheit aus der Verirrung als aus der Verwirrung!“

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Letzte Änderung am 30. Dezember 2017