RUDOLF KASSNER


Kassner — Buch der Erinnerung

BUCH DER ERINNERUNG

1938

5. BEGEGNUNGEN
S. 259—293
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BEGEGNUNGEN

Der Heilige von Benares

So erinnere ich ihn. Es war in Benares, und zwar auf heiligstem, geweihtestem Boden in jenem belebten Gebiete am rechten Gangesufer, welches eingekeilt ist zwischen den Pilgerhäusern der einzelnen Hindu-Radjas, geräumigen der reichen und mitten darunter unscheinbaren, alle aber vor Alter schief geworden und aneinander angelehnt, wie um sich gegenseitig zu stützen, und dem abgenutzten, uralten Stufen- und Treppenwerk, das zum gewaltigen Strom herabführt. In diesem Gebiete werden die Leichen derer verbrannt, welche den Wunsch und das Glück hatten, in der heiligen Stadt zu sterben; hier haben de Gurus, Priester, ihre Schirme aufgespannt und sitzen zu zweien darunter, schwätzend, zankend von Schirm zu Schirm, indem sie auf die Pilger warten, welche noch in den heiligen Legenden und Gebräuchen belehrt werden sollen, bevor sie zum ersten Male in den Fluten die vorgeschriebenen Waschungen mit dem braunen, jauchigen Wasser vornehmen und dazu die entsprechenden Gebete sagen. Dort sah ich ihn inmitten einer Auge und Sinn völlig verwirrenden Menschenmenge von Einheimischen, Händlern, Hindus aus allen Teilen des riesigen Reiches, braunen Tamilen aus dem Süden, aschblonden Kashmiris, Nepalesen, Mahratten aus der Bombayprovinz, Menschen der Küste aus dem orthodoxen Travankor, den an keiner der heiligen Stätten fehlenden

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langhaarigen Fakiren, deren Stirn und Brust mit einer weißen, kalkähnlichen Masse beschmiert ist, die Zugehörigkeit zum Shiva- oder Wischnukultus verratend, Bettlern, Sannyasins im gelben Mantel, Schlangenbändigern mit dem runden Korb aus Binsengeflecht und der kleinen dunklen Flöte, dazwischen Kühe, junge Bullen, Zebus, an den Menschen vorbei- oder diese beiseitestoßend zu den Buden der Kaufleute hin, wo neben jeder für sie etwas grünes Futter bereitstand.
Dort also sah ich ihn zuerst gehen: irgendwohin, schnell, achtlos. Ich dachte an so ein Erdzeisel, das rasch über den Weg läuft auf die andere Seite hin. Er wird nach einer Weile denselben Weg zurückkommen durch die Menschen hindurch, ebenso schnell, achtlos und unbeachtet. Das wußte man. Er war ganz nackt, ohne Lendenschurz, ohne die weiße Brahmanenschnur, der braune Körper noch gestrafft, faltenlos, in der Sonne leuchtend wie ein herrlicher Krug, Kopf- und Barthaar wie Blätterwerk dem natürlichen Wuchs folgend, ohne einen einzigen grauen Faden darin. Er sei alt, sagte man mir, doch war das Alter weder zu erfahren noch auszumachen. Es wurden mir sehr viele voneinander beträchtlich abweichende Ziffern genannt. Die richtige war eben verloren gegangen oder einfach nicht mehr da. Das ist immer so. Zahlen in Indien haben wenig oder nichts mit Genauigkeit zu tun, sie sind wahrscheinlich nie oder nur zufällig richtig und immer nur Ausdruck von etwas, darum bald riesig groß, viel zu groß, bald winzig. Der Inder hat nicht unsere einfache, vielleicht zu einfache Art, zwischen Qualität und Quantität den Strich zu machen und davon auszugehen. Wer das einmal eingesehen hat, wird vieles besser verstehen und richtiger beurteilen. Auch den Heiligen, und warum und inwiefern dieser in einer

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Welt der Kasten steht. Indien besitzt weder den Begriff und die Idee des Einzelnen noch im Zusammenhang damit den der Masse, statt dessen aber den Heiligen und die Kastenordnung. Gandhi hat darum nichts mit dem Heiligen mehr zu tun, er ist ein Volksmann mehr als ein Mann aus dem Volke, Mann der Tugend, häßlich, wie männer der Tugend häßlich sind und häßlich sein dürfen, häßlich wie Sokrates, der auch kein Heiliger, sondern ein Mann der Tugend war. Heilige sind nicht häßlich. Man darf das ruhig so sagen, es wird immer stimmen.
Eine der Wurzeln dieser höchst eigentümlichen, ganz und gar unvergleichlichen Erscheinung des indischen Heiligen sehe ich eben darin, daß der Inder anders, wie gesagt, zwischen Qualität und Quantität, daß er ungezwungen üherhaupt nicht dazwischen unterscheidet, daß Quantität durch ,Unrichtigkeit‘, durch Übertreibung nach der einen oder anderen Seite hin Qualität wird. Weshalb auch alle Aussagen der Statistik über den Inder, indisches Wesen und so weiter notwendig falsch sein müssen, mehr noch als solche über andere Völker, Staaten, etwa über die Bürger der Vereinigten Staaten von Amerika, wobei ich an ein Buch wie Mother India von Katherine Mayo denke, das ein solches Aufsehen in der Welt und Empörung in Indien erregt hat.
Vielleicht wird die Menschheit einmal dahin kommen, daß die Aussagen der Statistik über sie richtig seien, vielmehr das Wesentliche treffen, dann dürfte auch jener Zustand erreicht sein, da sich das Natürliche vom Grotesken nicht mehr unterscheiden läßt und der Heilige, wie ihn Indien versteht, zum Inbegriff des Unsinns oder der Sinnlosigkeit geworden sein wird. Noch aber lebt er im höchsten und letzten Sinn gegen die Statistik und was damit zusammenhängt.

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Vielleicht darf es auch so formuliert werden, daß der Inder das jeder Statistik anhaftende Groteske eingezogen, geschluckt habe und nun in sich berge und trage: als Heroismus, als Rhythmus, als ein Unabsehbares, Grenzenloses, sinnloses Geborenwerden, sinnloses Sterben. Es liegt eine höchst eindringliche Lehre in der Art, wie er entschieden Quantität in Qualität zurücknimmt, wie er jene in diese, wie er überhaupt umdeutet. Die Inder sind zweifellos das größte Deutervolk, das radikalste; nach ihm kommt erst der Chinese oder in Europa der Deutsche, und der Heilige erscheint wie das Ende oder der Fruchtkern aller Deutungen. Genau als das erscheint er, und das unterscheidet ihn auch so gründlich vom christlichen Heiligen. Was hat er darum, was hat so ein Fruchtkern mit den Mann der Tugend zu tun? Ohne den Heiligen vermöchten sie, de Hindus, ebensowenig zu deuten, wie ein Mensch ohne Einheit zu zählen und zu messen vermag. Darum kommt er immer wieder vor und muß produziert werden, dieser Heilige.
Hört übrigens nicht jede Quantität als solche von selbst auf, wenn wir einmal zu deuten anfangen? Ich finde, daß den Menschen heute ein sehr starkes Verlangen nach Deutungen beseelt, und ich führe es auf de Übermacht des Statistischen, des Technischen und so weiter zurück. Nur wehren wir uns, wir Menschen Europas, indem wir deuten. An einem Punkt soll, heißt das, alles Deuten aufhören und einem Festen, soll der Tat weichen. Der Inder ist auch in seinen Deutungen wehr- und endlos, und die Verkörperung dieser seiner Wehr- und Endlosigkeit ist der Heilige.
Die Engländer als Beherrschende und darum genau zwischen Qualität und Quantität Trennende behaupten, de Inder lögen oder lögen leichter als wir. Auf alle Fälle

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lügen sie anders als wir: um sich nämlich gegen das Fremde, das Andere, das um Gottes willen nur fremd und anders bleiben solle und gar nicht einbezogen, einverleibt werden könne, abzugrenzen, gleichfalls um des Ausdruckes willen. Die erwähnte Unterscheidung oder spannung zwischen Qualität und Quantität ist zuletzt auf jene zwischen Subjekt und Objekt zurückzuleiten. Der Inder hat nun einmal de Neigung — ich lasse es jetzt bei diesem Ausdruck —, das Objekt als solches zu tilgen. Daher seine enorme Humorlosigkeit. Don Quijote würde in Indien nie einen Roman gehabt haben, sondern ein Heiliger oder auch nur ein Fakir geworden sein. Ohne Sancho Pansa.
Und nur so läßt sich ferner der Glaube an die Seelenwanderung einsehen, jenes Hinüberstürzen aus einem Leib in den anderen, das schließlich nur in einer Welt statthaben kann ohne Maß oder in einer solchen, darin alles Qualität geworden ist oder wird, auch das Maß. Die Pilger zu den heiligen Stätten oder Bergen oder um sie herum messen den Weg oder die Wanderung, indem sie sich der Länge nach hinlegen und dorthin, wo jetzt der Kopf liegt, die Ferse hintun und so fort bis zum Ende. Auch sie messen statt mit dem Metermaß mit sich selbst, und wer so mißt, der dürfte auch keine Schwierigkeit darin sehen, daß er den eigenen Leib tausche mit dem eines höheren oder niedrigeren Wesens. Ebenso wie er keine Schwierigkeit hat, das Objekt zu tilgen, da sich das Maß nur aus der Spannung zwischen Subjekt und Objekt zu bilden vermag.
Wie ohne bestimmbares Alter, so war der Heilige auch ohne Heim, Haus, Hütte, Kammer und ohne das Haus oder die Kammer des Freundes, sondern lebte in einem Schrein, in einer Kapelle, in seinem Schrein, in seiner

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Kapelle, welche Kapelle oder welcher Schrein um weniges höher ist, als die Länge des Rumpfes und des Hauptes zusammen betragen. Er verläßt ihn und kehrt dahin zurück, vom Bade oder vom Gang zu einer der umliegenden Kaufbuden kommend. Er lebt darin lebendigen Leibes, gleich einem, der schon einmal gestorben war. Er hockt darin oder ist darin aufgestellt wie bei uns und überall sonst die Büsten, Statuetten, Gnadenbilder von heiligen Männern oder Frauen, die einst gewandelt sind auf Erden. Hier aber sind Diesseits und Jenseits offenbar nicht mehr voneinander geschieden und ist der Damm eingerissen zwischen den beiden Reichen oder Lagen. Wie vorhin zwischen Qualität und Quantität oder zwischen Mensch und Ding.
Was ist nun, frage ich mich, damit für uns ausgesagt oder bedeutet? Ein Ungeheures, muß die Antwort lauten, daß nämlich das Zwischenreich, das eine, der Schönheit samt allem Trost, allem Vor- und Aufschub, aller Vorwegnahme gefallen sei um dieses Menschen willen, der atmend lebendigen Leibes zu Stunden im Schrein hockt. Und ferner und daraus folgend, daß auch jenes dem bloßen Begehren Unzugängliche, das Unberührbare der Schönheit, daß deren strenge Satzungen, die auf unserem Kontinent seit den Griechen für ausgemacht gelten und festgelegt und vorweggenommen im menschlichen Geiste erscheinen, hier aufgehoben sind um der Heiligung willen bei lebendigem Leibe.
Ist nicht der letzte Sinn allem Kunst der: Bannung des Dämons in uns? Erst wer die Beziehung des Dämons in uns zur Idee wirklich eingesehen, gefühlt und erkannt hat, weiß, warum wir die Kunst haben oder warum der Schönheit ein Gesetzliches in uns entspreche. Eine Welt aus bloßer Leidenschaft, ohne die Idee oder ohne die

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Einbildungskraft, möchte einem offenen Krater gleichen und aufgerissen bleiben, Opfer fordernd. Ich weiß kein ergiebigeres Thema für de Meditation als dieses Zusammen und Ineinander von Leidenschaft und Einbildungskraft, von Dämon und Idee. Und ich finde, daß Idee überhaupt erst ein Gesicht erhält, wenn wir dazu den Dämon in uns oder eine Welt des Dämonischen denken. Auch möchte ich in der Kunst die Sanktion dieser Beziehung von Dämon und Idee sehen. Aus welcher Beziehung sich allein das Schwebende, das Doppelsinnige, allen großen Entscheidungen Ausweichende des Kunstwerkes, kurz alles ergibt, was sich weder dem bloßen Gefühl noch dem bloßen Intellekt eröffnen kann.
Um bei dieser Gelegenheit das noch zu sagen, weil ich gerade in diesen Tagen der Erinnerung durch die zufällige Lektüre einer sehr kostbaren, von mir bisher immer überschlagenen Jugendschrift Pascals: Discours sur les passions de l’amour, darauf gestoßen bin. Der Franzose setzt an Stelle von Idee oder Einbildungskraft l’esprit, Geist. So heißt es im Discours unter vielem ähnlichen: A mesure que l’on a plus d’esprit, les passions sont plus grandes. Oder: L’amour donne de l’esprit, et il se soutient par l’esprit. Genau durch diesen ,Geist‘ und dessen Beziehung zu den zwei Leidenschaften der Liebe und des Ehrgeizes, auf welche Pascal ebenso wie Racine den Dämon in uns reduziert, wird das Gebiet der Kunst über jenes der Gesellschaft hinaus ausgedehnt, ausgezogen, die Kunst gesellschaftlicher und die Gesellschaft kunstvoller, künstlicher. Was alles auf jene schöne Mitte oder auch auf die Schönheit als Mitte schließen läßt, welche dem französischen Volk oder Wesen mehr eignet als etwa dem deutschen mit dessen eingefleischtem Platonismus, Musik und Metaphysik. Es ließe sich nebenbei mancherlei zum

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Unplatonischen des französischen Wesens sagen oder auch darüber, wie Plato, wie der Platonismus das aufzulockern, aufzureißen gekommen sei, was bisher Mitte gewesen war, und wie an Stelle der Mitte nun Vermittlung oder der Eros als Vermittler gesetzt werden mußte.
In der Welt des Inders sind nun die Dämonen nicht durch die Idee gebannt, welche Bannung der Kunst allein jene Position einer hohen Vermittlung zu geben vermag, die sie in Europa inne hat, sondern sie belagern als Idole oder Götzen den Rand und Saum der Welt oder bilden den Umfang jenes Kreises, die Schale jener Frucht, deren Zentrum und Kern eben der Heilige darstellt, lebendigen Leibes inmitten seines Volkes im eigenen Schrein sitzend. Woher dann auch jene oft hervorgehobene und vom Rationalismus gerügte Verbindung des Zartesten und zugleich Erhabensten mit dem Eklen und Grauenerregenden abzuleiten wäre.
Als ich seiner zum ersten Male ansichtig wurde, lief er, ich wiederhole, schnell, achtlos und auch unbeachtet durch de Menschenmenge hindurch. Da ich keinem Volke begegnet bin, inmitten keines geweilt habe, das weniger neugierig oder auf das Fremde versessen wäre als das indische, so will ich erst gar nicht anführen, wie wenig er meiner achtete oder von meiner Anwesenheit unter lauter Hindus Notiz nahm. Ich nehme an, daß er um etwas Mehl oder Butter ging zu einem der zahlreichen Händler, die ihre Buden in unmittelbarer Nähe aufgerichtet haben und es sich zur höchsten Ehre rechnen, dem Heiligen das zu spenden, was er zur Erhaltung des baren Lebens braucht. Als ich nämlich zurückkam zum Schrein, saß er darin und knetete mit den Fingern Mehlkügelchen von lichtester Weiße, sie in einer Reihe von drei oder vier vor sich hinlegend. Bevor er sie nun in den Mund steckte, machte

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er mir, der ich mich neugierig vor ihm aufgepflanzt hatte, ein Zeichen mit der Hand, daß ich wegsehe. Er gab das Zeichen, ohne sich im mindesten dabei aufzuregen und darüber weiter Gedanken zu machen, ob ich auch wüßte, worum es sich in diesem Augenblick handle: beim Essen eines Hindu, schon gar eines Sadu, nicht zuzusehen. Genau dasselbe Zeichen, nur böser, machte mir ein Jain-Asket in Ahmedabad, jener Stadt im Westen Indiens, darin alle Tiere, die dort leben: das indische Eichhörnchen vor allem, der stille, sehr solitäre, gedankenvolle indische Star, die Affen, Sittiche, Bussarde alle Scheu vor dem Menschen verloren haben, da es seit mehr als zwei Jahrtausenden nicht vorgekommen sei, daß ein Mensch einem Tiere dort etwas zuleide getan hätte. Es ist das jener Ort, darin die eifrigsten Adepten des Jainismus mit einem kleinen Besen vor sich den Weg kehren, damit ihr Fuß die Käfer am Boden nicht zertrete. Der Jain-Asket saß aber statt in einem Schrein oder einer Kapelle in einem veritablen Käfig mit starken eisernen Gitterstäben und lebte darin genau so wie bei uns die Raubvögel der Zoologischen Gärten oder in Jaipure, wohin ich von Ahmedabad zunächst kam, die frisch eingefangenen Tiger oder Leoparden im Park des Maharadschas, nur nährte er sich statt von faulem oder frischem Fleisch von ebensolchen Mehlkügelchen wie der Heilige am Ufer des Ganges. Der Jain will offenbar damit das Leiden des Tieres auf sich nehmen, das Leiden und die Gitterung des Fleisches um sich tun, er will sich dem Tier angleichen. Bestimmt will er das: über alle Bildlichkeit und Metaphorik hinweg- und hinausgelangen, kunstlos, ohne Vermittlung, Mitte sein, nicht sich spiegeln im anderen, sondern hinüberspringen in ihn.

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Ich habe nie auf Erden, im wirklichen Leben selbst das, was ich Identitätswelt nenne, so deutlich vor Augen gehabt und in der Anschauung genossen wie dort im Jaintempel von Ahmedabad oder auch hier vor dem Schrein des lebendigen Heiligenleibes, und ich frage mich jetzt in Erinnerung daran, ob das Wesen dieser Identitätswelt nicht darin liege, daß hier die Phantasie sich mit sich selbst aufhebe, indem der Mensch versucht, das Objekt aufzuheben oder zu tilgen. Von diesem Jain im Käfig darf man behaupten, daß er in einem erhabenen Sinn gegen die Vernunft lebe oder, was das Wesen der Vernunft besser ausdrückt, die Grenzen der Vernunft resolut und vor aller Angesicht überschreite, wie einer einen Fluß überschreitet, der die Grenze seines Landes bildet. Und was besonders wichtig erscheinen darf: vor diesem nackten Menschen im Tierkäfig konnte man einsehen, wie die Gesetze der menschlichen Vernunft und der menschlichen Einbildungskraft ineinandergreifen und wie gerade darin jene Kunst des Menschen wurzle, welche der Heilige ignoriert.
Beide hatten mir darum das Zeichen gemacht wegzusehen, weil die Nahrungsaufnahme für den Hindu ebenso mit Scham verbunden ist wie der Geschlechtsakt oder die Verrichtung der Notdurft. In einem bestimmten Sinne wird damit die uns geläufige Unterscheidung zwischen Oben und Unten aufgehoben und der menschliche Körper, so wie er ist, dem Gestirn oder dem Ei, dem Weltei Brahmas, angeglichen. Ich will damit sagen, daß der Hindu keinen anderen Weg habe, in einer Welt ohne die Scheidung von Bühne und Zuschauerraum, in einer also wesentlich magischen und undramatischen, vielleicht schreckensvollen, aber der Art nach nicht tragischen Welt, Charakter und Schicksal eines werden zu

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lassen, als diesen, daß Körper und Gestirn, Körper und Ei sich, wie ich wiederhole, gegenseitig angleichen oder daß der Leib magisch werde. Wodurch zugleich die innigste und einzigste Vereinigung von Körper, Seele und Geist, die absolute Einheit der Drei, die Einheit des Welteis, ausgesprochen wird. Die unmittelbare Folge für das sittliche Leben ist, daß an Stelle dessen, was wir Charakter nennen, die Gesetze und Regeln der Kaste treten. Kaste als solche wurzelt im magischen Leib des Heiligen.
Nichts im Geistes- und Seelenleben Europas kommt dieser besonderen Beziehung des Heiligen, der an sich keiner Kaste mehr angehört und aus jeder Kaste hervorgegangen sein kann, zu den Kasten gleich oder ist ihr ähnlich. Und nichts vermag die Idee der Kaste so von Grund aus zu fälschen wie gegebene oder mögliche soziale oder humanitäre Bedenken seitens des Westens. Der reichste Mann in Benares, um ein Beispiel anzuführen, wie der Hindu wertet, ist jener Paria, der das Holz zur Verbrennung der Leichen verkauft. Wer eine Leiche berührt, verunreinigt sich, und nur ein ganz und gar Unreiner, welcher auch jene Möglichkeiten der Reinigung nicht besitzt, wie sie dem Hindusohn gegeben sind, welcher seinen toten Vater zu berühren gezwungen ist, nur der Paria darf das im übrigen sehr teure Material zu jenen Scheiterhaufen liefern, auf welchen die Leiber der frommen Hindus am Gangesufer Tag und Nacht seit Jahrtausenden brennen und schwelen.
Eines ist nämlich dem Heiligen infolge der bedeuteten Mittestellung (ohne die Unterscheidung von Oben und Unten) genommen: das Revolutionäre. Der indische Heilige ist im Wesen ebensowenig Revolutionär wie Mann der Tugend. Was ganz und gar schon in der Idee des magischen Leibes enthalten ist, dessen der Mann der

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Tugend ermangelt und gänzlich ermangeln muß, so zwar, daß man sich zuweilen verleitet fühlt zu sagen, dieser sei letztlich aus einem Mangel an Magie hervorgegangen und somit gezwungen, das ganze Leben lang als ein pis-aller zu figurieren. So steht er auch, so steht der Revolutionär außerhalb der Menge oder ihr gegenüber, während der Heilige pure Mitte ist, Mittelpunkt eines heiligen Kreises, Fruchtkern. Und genau aus dieser notwendig exzentrischen, gebärdenreichen Position des Revolutionärs ergibt sich die besondere Wichtigkeit dessen, was er sonst oder daneben sei, oder ob Glaube und Rede, Glaube und Handlung bei ihm übereinstimmten. Das in einem tiefen Sinn Beruhigende beim indischen Heiligen hingegen ist, daß er nichts sonst oder nichts daneben sei, weshalb er auch nur aus einem Volk geboren werden kann, welchem in einem für uns unfaßbaren Grade die Neugier fehlt. Ja, man darf so weit gehen und behaupten, Widersprüche bedeuten in seiner Existenz so wenig, daß er durch nichts weniger in der Welt gefährdet oder kompromittiert erscheint als durch den Schwindler oder Nachahmer, daß der gewöhnliche Fakir der Straßen und Plätze, der Mann der Tricks, zu ihm gehöre, daß dieser den Rand und Saum der Welt des Heiligen ebenso bilde wie die Götzen oder Götzenbilder den Rand und Saum der göttlichen Wesenheiten.
Indem nun der Heilige oder der magische Mensch — beides kann nicht nur in Indien, sondern auch in ganz Asien nicht auseinandergehalten werden, und zwar darum, weil die Begriffe Europas von Freiheit, Maß und Geschichte fehlen — die Mitte eines Kreises oder auch das Endglied einer Reihe bildet, ist er der Tat als solcher ebenso wie auch jeglicher Bestimmung durch diese enthoben. Was ihn endgültig vom Revolutionär im engsten und weite-

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sten Sinne trennt, welcher sich mit seiner Tat übertreffen oder überholen muß, so daß die vollkommene Tat eben um ihrer Vollkommenheit willen jedesmal im Opfer zu enden hat. Christus ist darum im säkularen Sinn Revolutionär, in der Tat das erhabenste Beispiel eines solchen, Buddha der berühmteste Grenzfall des Heiligen und des Revolutionärs.
Frage: Was tut aber der Heilige, von dem hier die Rede ist, in seinem Schrein trotz allem? Die bloße Tatsache, daß er in einem Schrein sitzt statt in einem Haus oder Kloster, ist schon gleichbedeutend damit, daß er eben der Tat im gewöhnlichen, im menschlichen Sinn enthoben sei oder daß sein Tun der Spitze, des Zieles ermangeln müsse, wenn schon von einem Tun die Rede sein soll. Sein ,Tun‘, sein Werk, ist also dies: Unfruchtbare Frauen oder solche, die sich noch ein Kind wünschen zu denen, die sie schon besitzen, pilgern zu ihm von weither und berühren auf mannigfache, in Worten nicht immer wiederzugebende Weise ihn an jenem durch Askese der Erregung nicht mehr teilhaftigen Körperteil, darin das Begehren des Mannes und die Kraft der Zeugung ihren engsten Raum oder Durchgang findet. Das ,tut‘ also der Heilige: ein Tun, das zugleich Leiden ist, und darum, zu diesem ,Zwecke‘ sitzt er in einem Schrein statt in einem Haus oder Kloster. Die große Lehre daraus, Ausdruck einer Identitätswelt so erhaben wie kein anderer, ist die, daß Fruchtbarkeit und Entsagung einander bedingen oder aneinander gebunden sind und daß der Damm zwischen Ja und Nein, zwischen der Bejahung und der Verneinung eingerissen wurde und beides nun frei und ungehalten ineinander überströme. Oder auch, daß der gewaltige Strom von Zeugung und Geburt kein Bett fände ohne die Tat oder das leidende

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Tun des Asketen. Das ist der tiefste und letzte Sinn der indischen Askese.
Ich habe in meinem Buch über die Einbildungskraft behauptet, daß das asketische Ideal des 19. Jahrhunderts dort, wo es durchbricht, aus dem Kritizismus der Wende vom 18. ins 19. Jahrhundert herkomme, und dabei Schopenhauers und Leo Tolstois vornehmlich gedacht. Alles hier und jetzt Vorgebrachte bestätigt und vertieft diese meine Ansicht. Die indische Askese ist nicht kritisch im europäischen Sinne, sondern magisch. Im magischen Sinn überpersönlich. Weshalb auch die Götter und Dämonen und nicht nur die Menschen Askese üben.
Als ich vor vielen Jahren am Grabe des heiligen Sergius an der zweitberühmtesten Wallfahrtsstätte Rußlands stand, im Troitza Monastyr bei Moskau, kamen und gingen Pilger von überall her des großen Reiches, ganz alte Männer und Frauen im Pilgerkostüm, Kopf und Gesicht gegen den Sturm und Schnee und Staub der endlos langen Straßen, vielmehr Wege über Felder, Steppen und durch Wälder, in Tücher und Fetzen oder Felle eingefatscht, um der leichteren Fortbewegung willen auch die Frauen in Hosen und hohen Stiefeln. Es kostete mich Mühe, das Geschlecht zu unterscheiden, und es war im gegebenen Falle auch nicht immer möglich. Da fiel mir jene Stelle eines apokryphen Evangeliums ein, welche ungefähr so lautet, daß das Ziel, Heil und Ende nicht eher kommen könne und werde, bis nicht das Männliche weiblich und das Weibliche männlich geworden wäre. Hier ist aus der Askese Pilgerung geworden, etwas gleichfalls im größten Sinn Unkritisches.
Ich erzähle, um abzuschließen, noch das vom Heiligen, dessen Name ich nicht weiß und von dem ich mir einbilden möchte, daß er um der genannten Funktion willen

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keinen oder wenigstens keinen von Wichtigkeit besessen habe. Man sagte mir, daß er seit Jahren — seit siebzehn, doch diese Ziffer wurde vielleicht nur mir, dem neugierigen Europäer, mit etwas wie boshafter Ironie geschenkt und war an sich völlig unwichtig — kein Wort mehr gesprochen habe, daß er aber nachts, wenn das ganze Stufenwerk zum Ganges hinunter menschenleer geworden sei und drüben am linken, ebenen, öden Ufer die Schakale heulen, nach angeschwemmten Leichenteilen suchend, daß er dann, im Flusse stehend und die vorgeschriebenen Waschungen vornehmend, dumpfe Laute, Schreie ausstoße und daß sich auf solche Weise die gestaute Sprache Luft mache. Auch diesem an sich ganz natürlichen Vorgang liegt jener schon bedeutete Sinn der Angleichung an die Kreatur zugrunde. Auch das Wort ist wie alles Angeglichene, wie das Fleisch, das der Seele, wie die Seele, die dem Geiste angeglichen, damit identisch ist, auch das Wort ist magisch und kommt als ein Magisches aus dem Urschrei (Om) und kann nur als ein solches in diesen wieder zurückgenommen werden. Auch das Wort ist hier nicht mehr Tat gleich dem Wort des Revolutionärs und darum auch nicht durch die Begriffe, durch das ganze Begriffsnetz, das Maschen- und Maßwerk der Begriffe, woran revolutionäre Reden so heftig zu leiden pflegen, vom Ursprung und Urschrei geschieden.


Der Shivapriester

Kalkutta. Der Abend wie überall in den Ländern nahe dem Äquator rasch in Nacht übergehend. Die Luft feucht, ölig, braun. Menschenmassen auf den Plätzen der sehr ausgedehnten Stadt sich sammelnd, in den Straßen drängend, stauend, alles in Erwartung des Fest-

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zuges der Sarasvati, der Athene der Bengalen, wie mein sehr gelehrter Gastfreund Chauduri auseinandersetzt. Dieser ist Richter am obersten Gerichtshof in Kalkutta — damals noch der Kapitale Indiens —, der Brahmanenkaste angehörig und einer der drei oder vier großen Familien der Stadt entstammend wie die Boses und Tagores, religiös freisinnig, zum Brahmasomaj sich bekennend, das man am besten als Glaubensbekenntnis der Gebildeten und Aufgeklärten, als eine Art metaphysisch unterbauten Rationalismus bezeichnen mag. Gestern beim Abendessen in seinem Hause aßen die Frauen mit, und es wurde unter anderem ostentativ altes Kuhfleisch serviert, das möglicherweise nur Pferdefleisch war. Wir sitzen jetzt in seinem schönen Landauer, dessen harrend, was sich unseren Blicken darbieten werde. Das Fest findet alljährlich im Januar statt und besteht darin, daß Bilder, Statuetten der Göttin, Puppen in Seide, mit Steinen und Perlen besät und besteckt, oder ungeschmückte, je nach den Lebensverhältnissen der Frommen, auf Wagen, mächtigen, knarrenden, von vier Zebus gezogenen Gestellen, auf denen die Familienglieder vom Großvater bis zum Enkel, stehend oder sitzend, mitten um die Puppe herum Platz finden, oder auch auf Wägelchen, Schubkarren durch die Straßen der Stadt geführt werden. Den großen Wagen schreiten viele Tänzerinnen mit Musik voran, den kleineren wenige oder keine. Mitten unter allen fällt mir ein einzelner, Armer auf, der tiefernst, ja ergriffen und in seiner Ergriffenheit selig seine Puppe an einen Stecken gebunden vor sich her im Tanzschritt trägt, alle Wagen und Karren im Laufe überholend. Der Zug geht zum Flusse Hugli, in dessen Fluten die Puppen samt ihrem Schmuck, darunter sich sicherlich auch mancher echte finden mag, geworfen werden und versinken.

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Dieses Schauspiels harren wir, von weitem dringen Musik und Menschenrufe, Schreie zu uns her, die näher kommen und anwachsen, unser Wagen wird schließlich von einem englischen Polizisten gezwungen, am Straßenrand Halt zu machen, da brechen vor uns durch die gestaute Menschenmasse hindurch Priester mit Fackeln und Gongs über die Straße hinüber zum Standbild der Göttin Kali, das auf einem weiten, leerstehenden, mit dünnem, welkem Gras bewachsenen Baugrund errichtet ist. Alles geschieht sehr plötzlich, unvermittelt, fast feindlich, ohne dessen auch nur im geringsten zu achten, was jetzt die Gemüter vieler Tausender in andächtiger Spannung hält. Indem einer von den Durchbrechenden, die Stufen zu jener Göttin, durch welche der Mord und die Zeugungskraft zugleich geheiligt sind, rasch emporspringend, mit der brennenden, rauchenden Fackel Lichtkreise, viele, einen in den anderen im Schwunge verlaufend, um die grinsende Götterfratze zieht, schlägt ein anderer den Gong, daß es durch die Nacht gellt und mir Herz, Hirn und Gebein erbeben. Alles das ist die Handlung weniger Augenblicke und muß vollzogen werden, bevor der Festzug der Sarasvati vorübergeht, welche gleichsam das andere Prinzip in der Mythologie der Bengalen, die Lichtseite der göttlichen Allheit, verkörpert...
Mir fällt das Gesicht des Priesters mit der Fackel auf: vom Schein der Flamme gerötet, wie trunken, bartlos, die Stirn bis nahe an den Scheitel ausrasiert, das gefettete, langsträhnige Haar im Nacken straff zu einem Knoten zusammengerafft, die Augen wie heiße dunkle Steine. Die Gesichtszüge waren nicht die eines Gefestigten, das sich zu behaupten weiß, sondern waren wie verzogen, hatten das Verzogene eines zugleich Erbarmungslosen und Geängstigten, den Eindrücken und dem Niederschlag im

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Gesicht eines Kranken nach quälenden Träumen gleichend. Im Augenblicke sehe und fühle ich nur   e i n e s :   die Qual und das Todeszucken der Ziegen, die täglich vor den Altären der Göttin hier und überall in den Tempeln, wo die Kali verehrt wird, geopfert werden, ist in das Gesicht des Priesters, das blank und alterslos erscheint hinübergesprungen und hat sich dort eingegraben.
Dieser Sprung nun hinüber von Gesicht zu Gesicht, dieser Tausch der beiden Seelen ist vor sich gegangen, ist vorgenommen worden. Frage: Wo? Innerhalb welches Bezirkes oder welcher Ordnung? Bezirk und Ordnung allein entscheiden hier. Antwort: Unzweifelhaft in jener des Dämonischen, darin Priester und Opfer zueinander streben, nacheinander verlangen und von Anfang an zueinander gehören. Vor der Entscheidung also zwischen Gut und Böse, zwischen Recht und Unrecht und vor allem jenem, was mit dieser Entscheidung ein für allemal gegeben ist: Distanz, Charakter, Idee, Glaube, Geschichte. Wir befinden uns hier in jenen Bezirken des Unterirdischen, wo nicht so sehr Menschen geboren, wie Schicksale ausgelost werden, wo Bilder leben und bestehen, wo Bilder allein hausen gleich den heiligen Schlangen in Erdlöchern, in einer Welt also, darin sich Gut und Böse, Sinn und Sinnlosigkeit vertragen oder ineinander verbissen sind. Noch einmal: vor der Entscheidung und Wahl, vor dem daraus gewonnenen Maß, vor der Größe, vor dem angeschauten und schauenden Gesicht, denn ohne Maße kein Gesicht. In jenem Reich nämlich, im angestammten der Schlange, darin, wie ich sage, Bilder leben, unabziehbar, Bilder atmen, Bilder nichts verdecken oder versprechen und vortäuschen, sondern   s i n d,   ist noch kein Maß da und kann kein Maß den Dingen entnommen werden. Wo leben so wie hier Bilder

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sonst noch? frage ich. Nirgends. Heute weiß ich es zum ersten Mal.
So viel im allgemeinen über das Reich, worin, ich wiederhole, jener Sprung hinüber vom Gesicht des Opfers zu jenem des Opfernden vor sich gegangen und der Tausch beider Seelen, der grausamen und der geängstigten, vorgenommen worden ist.
Zweierlei aber ist mir dabei oder danach eingefallen und immer klarer geworden: Erstens, daß die sogenannten Schicksalsmenschen, die echten, und soweit sie es sind, wie Nietzsche und auf einem tieferen Niveau Lenin, in diesem Reiche ganz und allein ihre Heimat haben und somit ausschließlich der Ordnung des Dämonischen angehören. Bei Lenin ist es zu offenbar, als daß darüber noch viele Worte zu verlieren wären. Dort, wo er etwa das Dämonische verläßt oder verlassen möchte, müßte er unmittelbar ins Platte, ins schauerlich Gewöhnliche reichen, darin auftauchen, wovon noch gehandelt werden wird. Bei Nietzsche aber muß auffallen, daß sich bei kaum einem anderen Geist das Falsche mit dem in bezug auf Kraft und Schönheit Außerordentlichen so offensichtlich verbunden habe. Gleich in seinem ersten Werke stimmt vielleicht nichts wirklich und ist doch alles oder das meiste, wenn wir von dem über die Oper Vorgebrachten absehen, wundervoll. Psychologische Erklärungen interessieren mich nicht, Psychologie scheint mir immer mehr die Wissenschaft vom Ewig-Unreifen, Sich-nie-Schließenden und darum jeder Ordnung sich Entziehenden zu sein; mich geht hier und überall nur die Ordnung an, in welche eine Erscheinung einzureihen ist. Darum ist das Gleißende, die Verführung bei und in Nietzsche immer echt. Zum Unterschied etwa von Plato, bei dem das Gleißende oft nur falsche Metaphorik

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oder Poesie bedeutet und auch wegzulassen gewesen wäre.
Das andere, was der Anblick des Shivapriesters mit der Fackel in mir auslöst, betrifft die Beziehung des Dämonischen zum Gewohnten, ja Gewöhnlichen, zur täglichen Übung oder wie man das sonst nennen will. Es ist so, wie wenn das Gewohnte, Gewöhnliche, ja die Banalität selbst nicht mehr und nicht weniger wäre als der Schaum des Dämonischen, der abzuschöpfende, als die Lage, Kruste und Schicht darüber, welche abgehoben, weggekratzt oder weggeräumt werden könne. Nichts erscheint mir so falsch und platt wie von der Gewohnheit als der zweiten Natur zu reden. Und von hier führt ein direkter Weg zu dem, was mich oft im Geiste beschäftigt und welchem ich auf mannigfache Art und Weise Ausdruck zu verleihen versucht habe: zum Verhältnis des Dämonischen, genauer: des Dämonisch-Magischen zur Nachahmung und weiter zur Grimasse, zur Maske. Die Dämonen tragen Masken oder kommen verkleidet, nicht um im menschlichen Sinn zu lügen, sondern darum, weil die Maske ihr Gesicht, die Verwandlung ihr Körper und die Verzerrung der einzige Ausdruck ist, worüber sie verfügen. Wenn wir eine dämonisch-magische Welt annehmen, darin unsere Leidenschaften neben- und miteinander hausen wie Tiere in Käfigen, und sie von der Natur als solcher, von der Welt der Ursprünge und des ewig sich aus sich selbst Erneuernden trennen, so ist die Haut und Figur dieser Welt, deren Gesicht: Nachahmung. Oder indem wir das Räumliche ins Zeitliche übertragen: Wiederholung. Und in diesem einzigen und tiefsten Sinne wäre dann alles, was und soweit es den Gesetzen der Nachahmung (und Wiederholung) unterliegt: die Mode also, jede Art von Etikette, Formeln der Höflich-

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keit, Vorschriften der Kaste, über dem Grund und Abgrund einer dämonisch-magischen Welt aufgebaut und muß von der Kunst als solcher unterschieden werden, die, wie ich andernorts darzutun versucht habe, zwischen dem Dämon und der Idee vermittelt.
Die Höflichkeit, die Etikette, bis zu einem gewissen Grade auch die Sitte, ist nur dort wirklich tief oder dringt durch die Haut durch, wo unsere Idee von der Natur, vom Natürlich-Ursprünglichen unbekannt ist. Bei den Chinesen, auf alle Fälle bei den Mongolen mehr als bei den Ariern, in Asien mehr als in Europa, was übrigens auch der Grund ist, warum sich Kunst und Kunsthandwerk in Asien, bei allen magischen Völkern nicht so strenge trennen lassen wie in Europa mit dessen Ideen von der Freiheit, der Natur, der Persönlichkeit. Ich kann das hier nicht so ausführen, wie ich möchte, nicht darlegen, warum etwa noch im Mittelalter Kunst und Handwerk miteinander verbunden waren und die Trennung gründlich erst durch den Idealismus des endenden 18. Jahrhunderts vollzogen wurde. Die magisch-dämonische Welt hat an Stelle des Einzelnen und von dessen Imperativen — der berühmte kategorische Imperativ Kants ist der äußerste Protest gegen alles Magisch-Dämonische und nur von daher gesehen ganz sinnerfüllt — die Welt der Kasten, des Ranges mit dem Anführer der Horde, dem Kaiser als Sohn des Himmels, dem indischen Heiligen bis zum Fakir und Gaukler herunter. Nur der Natur gegenüber oder im Gegensatz zu dieser gibt es Freiheit. Im Bereiche des Magisch-Dämonischen steht an Stelle der Freiheit Erlösung. In Richard Wagners Werk ist beides verwechselt oder durcheinandergeworfen, was sich freilich auch aus dem Wesen der Musik ergeben muß, welche das Grenzgebiet des Magischen und des Na-

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türlichen beherrscht und erwachen mußte, nein, selbstherrlich werden konnte in jenem Zeitpunkt, da Magie und Natur sich zu trennen anschickten, was mit dem Aufkommen des eben signalisierten Idealismus, der Scheidung von Kunst und Kunsthandwerk zusammentrifft.
Das Thema, das ich damit berühre, ist unerschöpflich, weshalb man immer wieder darauf zurückzukommen sich veranlaßt fühlt. Der Antike zum Beispiel fehlte durchaus die Idee einer Selbstherrlichkeit, Selbständigkeit der Musik, weil (wenn das noch ein weil ist) Natur noch ganz eingebettet lag im Dämonisch-Magischen und somit die Idee der Freiheit nicht aufkommen konnte. Ich führe darauf auch die Tatsache zurück, daß jenes allem Antiken angeborene Große im Schweren und Langweiligen enden mußte und geendet hat. So war zuletzt das Große, die Größe Roms vom Schweren und Langweiligen unzertrennbar und ist darum zerschlagen worden und mußte zerschlagen werden. Wozu haben wir die Idee der Freiheit, jene Idee aller Ideen, wozu anders, als um hinüberzukommen, auch in der Zeit! Alles, was zugrunde geht, geht an der Unfreiheit zugrunde.
Noch das zum Schluß, zumal da es uns wieder zu unserem Priester der Göttin Kali, der Gattin Shivas, zurückbringt. Verhält sich nicht das Dämonisch-Magische zum Natürlichen wie das Momentane zum Zeitlichen? Die Dämonen unterliegen dem Momentanen, nicht dem Zeitlichen. Dem Momentanen entspricht die Maske, dem Zeitlichen das Gesicht der Menschen. Wenn Ehegatten durch langes Zusammenleben, mit der Zeit also, einander ähnlich werden oder Schafhirtinnen etwas vom Ausdruck der Schafe bekommen, welche sie hüten, so ist es, als seien wir aus dem Gebiet des Dämonisch-Magischen herausgeraten in jenes der Natur oder auch zwischen beiden

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stecken- oder hängengeblieben. In jedem Falle aber darf und muß es mit dem Shivapriester und dessen Angleichung an das Todeszucken der geschlachteten Opferziegen, an diesen Ausgleich von Wollust und Angst im Gesicht, dem Ausgleich in unseren Träumen zusammengedacht werden.

Der Bettler von Lautschin
 
Carl Burckhardt gewidmet


Der Knabe mochte seine Stirn nicht. Das wäre ja gar keine richtige Stirn, sondern etwas dazwischen, zwischen Haaransatz und Brauen, zwischen Schädel und Gesicht, gar nichts Besonderes, das höbe sich nicht ab und sei zudem da und dort an den Schläfen und wo man nur wolle, mit einer Menge weißblonder Härchen besät, als sollte daraus einmal ein Fell werden. Auch krampfe sie sich bei der allergeringsten Gemütsbewegung in viele Falten zusammen, genau so wie bei den Affen in Schönbrunn, wohin der Knabe einmal geführt worden war. Sein Bruder, ja der habe eine Stirn, wie sie sein soll, eine Stirn, die Stirn ist, und nicht eine Angelegenheit, die man sich erst zusammenklauben müsse, eine faltenlose Stirn mit einem klaren Haaransatz und nichts so Trübes. Und diesem Untrüben, Offenen der Bruderstirn entspreche auch eine ganz unverkennbare Distinktion und Reife des Ganzen, eine größere Unbefangenheit, Freiheit. Mehr Glück. Und zwar dieses nicht so sehr als Gelegenheit oder als eine Reihe erfreulicher Zufälle, sondern als die Tatsache, daß sich bei ihm, beim Menschen alles leichter löst und voneinander abhebt, daß nicht eines am anderen zerre und reiße oder eines das andere trübe.
Knaben empfinden die magische Gewalt der Worte lange, bevor sie die Fähigkeit erlangen, deren begriffliche Be-

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deutung zu fassen oder darauf Wert zu legen. In der Knabenwelt sind Wort und Ding nicht voneinander geschieden, sondern durchdringen sich gegenseitig. Man möchte sich so ausdrücken, daß das eine das andere durchlasse oder daß das eine für das andere dastehe. Alles Böse, alles Feindliche und Schlechte war für den Knaben trübe oder lag im Trüben, im Unlichten. Darauf kam es an, das war zu spüren: das Trübe. Geschah es zuweilen nicht so, daß er absichtlich mit dem Fuß in eine Straßenpfütze trat oder diese mit einem Stecken aufrührte, nur damit auf solche Weise einmal der Spiegel getrübt würde, worin der Himmel, die Wolken, der Ast eines Baumes, die weiße Wand eines Hauses aufgefangen dalägen? Warum? Um des Trüben willen, damit das Trübe sich wieder einmal dem Blicke biete und diesen festhalte oder auch, damit darin für den Augenblick alles Trübe, die Trübnis der sinnenden Seele gebannt bleibe und auf solche Weise sich von ihm selber löse, ihn selber lasse. Und dann wartete er und sah zu, bis der Spiegel sich wiederum klärte und Himmel, Wolken, Bäume und alles darin von neuem Einlaß fände. Oder es geschah, daß er einfach weglief, nachdem er das Gewölk der Trübnis aufgerührt ... Wissend, nicht wissend leben Knaben in einer magischen Welt, deren Grenzen weiter reichen, als Stimmungen, Spiele oder Märchen die staunende Seele zu weisen wüßten.
Er hatte auch die Vorstellung, daß ein Menschenwesen mit einer Stirn, wie sein Bruder sie hatte: wohlgerundet, bogig, gelöst, licht, keinen Anlauf zu nehmen brauche, daß alles oder zum mindesten sehr vieles ihm direkt angeboten werde und zuletzt einfach wie von selbst dagewesen sei. Auch daß einer dann stets ein wenig schwindeln könne, ohne zu mißfallen und aus der Bahn zu geraten. Was liege schließlich schon am Schwindeln! Man

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selbst dürfe nicht schwindeln, das ist alles. Aber für den Nächsten, den Bruder sei es mehr eine Frage des Glückes als etwas anderes. Auch hier war die magische Vorstellung entscheidend und hatte den Vorrang vor allen solchen, die Recht und Unrecht betreffen, vor solchen, welche begriffliche Scheidung heischen.
Indem sich das Magische der Kindheit und des Knabenalters später in ein Physiognomisch-Sinndeutendes allmählich wandelt, drückt der zum Mann gewordene Knabe ein Ähnliches und Verwandtes so aus: daß er — zum Unterschied von den anderen, die wie zum Gebrauch immer da waren — gar nicht mit der Stirn, die ihm einst so trübe und kummervoll-faltig wie die der Affen erschienen, sondern mit dem Hinterkopf denke, mit dem Nacken, der zu allem dazu sehr jung, knabenhaft jung, bäurisch-eigensinnig und auf die allerunschuldigste Art hinterhältig erscheine, und daß er darum nur im Anlauf, stürmend zu denken vermöchte, gleichwie die Schwalben im Fliegen ihre Nahrung erhaschen. Aus welchem Grunde auch Denken und Sehen bei ihm ein und denselben Akt bedeuten. Das Denken vorn mit der Stirn, der bogigen, hingegen habe seine bestimmte Beziehung zum Ohr oder brauche das Ohr, wenn sich Gestalt bilden und eine Welt formen soll. In Hinblick auf welche Welt auch ein Zusammenhang zwischen Logik und Musik leicht auffindbar sei, auch zwischen System und Tanz. Aus dem Auge aber, vom Auge her komme das Drama. Was aber beides vereinige und zusammenbinde: Ohr und Auge, Ohrwelt und Augenwelt, System und Drama, Musik und Drama, das finde sich wieder in der großen Spannung zwischen Himmel und Erde. Dahinein dann wiederum die Spannungen zwischen den Himmelsgegenden: Nord und Süd, Ost und West, münden oder daraus sie entspringen.

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Daran, schloß er weiter, doch so, daß dieser Akt des Schließens ganz und gar einen Akt des Lebens selbst in sich barg, daran also, an dieser Einheit von Denken und Sehen, müsse es wohl liegen, daß er, daß der Mensch über sein eigenes Gesicht stets entweder hinausströme oder hinter dessen Grenzen, Wänden und Ufern zurückbleibe, und daß sich ferner sehr genau daraus, aus Über- und aus Ohnmacht, aus dem Wechsel von Sturm und Flucht der Spiegel bilde, darin das Menschengesicht vor sich selber auftauche. Und mit dieser Vorstellung möchte dann jene andere abergläubische zusammengehen, gemäß welcher ein Mensch, wenn er es über sich brächte, Tag und Nacht nicht vom Spiegel zu weichen oder deutlicher: sein Gesicht auch nicht für den Augenblick eines Augenblickes aus dem Spiegel vor sich herauszunehmen, nicht altern könnte, ja über die Zeiten hinweg fortleben müßte. Doch ist der Mensch seiner ganzen Anlage nach dazu so unvermögend, daß er in Wahrheit, statt also im Anblick seiner selbst ewig zu verweilen, mit Todesangst sein Gesicht vom Spiegel weg-, aus ihm herausreißen wird, um es einmal ganz fest ins Innere seiner beiden Hände zu drükken und dort eine Weile zu bergen. Darin es dann nicht anders erstarrt sein müßte als in einer Totenmaske.
Ich gedenke dessen jetzt, den ich den Bettler von Lautschin nenne. Der war nämlich ein Mensch ohne Spiegel, so wie ich im Leben keinem anderen begegnet bin. Das war er in der Tat. Auch kann ich mir ihn nicht vorstellen, wie er je hätte sein Gesicht in die beiden Hände drücken können und darin bergen wollen, denn der Blick seiner Augen stach und stieß mit großer Entschlossenheit, mit Kühnheit vor sich hin und von sich weg in die Luft und das Licht der Erde. Man wußte nur nicht, zu was allem dieser Blick sich entschließen möchte, denn er ging ge-

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radeaus weiter, ging ins Unwirkliche, in ein uns Ungewohntes und Unheimliches. Es lag auch Bosheit darin, doch löste diese sich im Blick wieder auf, wie sich der Rauch der Schornsteine in der blauen Luft eines sonnigen Tages auflöst. Auch im Himmel, denke ich mir, wird er als Bettler und nicht anders unter den Seligen weilen als in Lumpen, die einmal ein Rock waren, den er geschenkt erhielt, den Krückstock vor sich hinstoßend. Der andere, der alltäglich mit ihm angehinkt kam um die Mittagsstunde, sobald die Glocke vom Kirchturm des Schloßhofes ertönte, und den Gruß und alle mögliche Rede, Wünsche und Segensformeln enthaltend, in ein höchst unmelodisches, heiseres Brummen mischte, so daß es genau so klang, wie in meinen Kindheitstagen das Brummen der bosnischen Tanzbären, die am Nasenring gezogen von Dorf zu Dorf durch die Landschaft tappen und, indem ihnen ein Stück Brot vorgehalten wurde, zum dumpfen Tamburin in der schüttelnden Hand eines fremden, von weither kommenden Mannes im roten Fez vor den Häusern der Menschen tanzen mußten, Staunen, Entzücken und Angst dem Kinderherzen einflößend, jener andere also, meine ich, wird einmal den Bettlermantel und Stab abgeworfen, das Bettlerbrummen und den Bettlergestank verloren haben und als ein lichter Geist unter den Strahlenden einherwandeln. Sie kamen beide zusammen, einer hinter dem anderen, nie nebeneinander. Es würde ganz unentsprechend, gewissermaßen unnatürlich gewesen sein, wenn einer neben dem anderen kameradschaftlich dahergekommen wäre und sie Reden getauscht hätten. Nein, nein, so würde das nicht hinzunehmen gewesen, sondern es mußte so sein, wie es war, daß einer dem anderen folgte höchst ungleichen und zackigen Schrittes.

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Wenn ich nach stundenlangen Streifzügen in den ausgedehnten Wäldern um die Mittagsstunde eines heißen Augusttages in den Schloßhof zurückkam, fand ich das große Haustor meist verschlossen, die schwere Kette vorgelegt und mußte durch eine Seitentür hindurch, die in einen Raum führte, der als Putzkammer galt. Hier saßen nun schon die beiden Bettler an einem Tisch, einer neben dem anderen, jeder einen gefüllten Teller vor sich. Der bosnische Tanzbär unterbrach sein Kauen und Schmatzen mit erneuter Klage und erneutem Brummen, besser: vermengte im Augenblick, da er meiner ansichtig wurde, das Kauen und Schmatzen damit; der andere aber, der wahre, der Bettler aller Bettler, der sah mich wohl, starrte in der Richtung zu mir hin und sah mich wiederum nicht oder sah durch mich hindurch mit einem vom Essen entzündeten Blick, er sprach auch kein Wort des Grußes, sondern es war so, wie wenn er eben dabei wäre, sein Böses im Guten, im Seligen der mittägigen Sättigung aufzulösen und gänzlich zu tilgen. Wer aß noch so außer ihm? Niemand aß so. Es war nichts von Gier oder Hast dabei, keine Verunreinigung. Er aß ganz trocken, die Zähne bissen genau und nett ins Fleisch und in das, was sonst noch auf dem Teller lag, hinein. Alle seine Sinne, auch sein Ohr waren dabei. Doch das drückt noch nicht ganz aus, was ich meine. Sagen wir einmal ganz kühn so: er aß das Eigene, wir essen das Fremde. Er tat das Gehörige und brachte das Eigene zum Eigenen. So essen nicht Menschen, so essen Geister, Dämonen, so essen Verwandelte. Dieser Bettler, dachte ich mir, während ich schnell am Tisch vorbeiging, um so bald wie möglich aus der Putzkammer draußen zu sein, ist kein Bettler, sondern ein Geist, ein Dämon, der sich in einen Bettler verwandelt hat. Es ist nicht von Wichtigkeit, darüber nachzudenken,

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wo er in Wirklichkeit zu Hause, in welchem der vielen Reiche, die das Weltall faßt, oder wer und wie er in Wirklichkeit sei. Denn wer ist so da und so gegenwärtig wie ein Verwandelter? Seitdem ich ihm begegnet bin, weiß ich es, denke es, daß ich einen Verwandelten gesehen habe — will sagen: einen, der um der Verwandlung willen keinen Spiegel braucht. Wunder und Geheimnis! Und aus diesem Geheimnis allein und aus nichts anderem konnte er die Kühnheit seines Blickes gewinnen, der ohne Ziel von ihm wegging, sinnlos um eben des Geheimnisses und Wunders willen. Es scheint mir auch ganz unmöglich, daß unser beider Blicke sich hätten kreuzen oder mischen können, denn das gehört zum Verwandelten und somit auch zum Menschen, daß deren beider Blicke sich nicht kreuzen oder mischen oder sonstwie vereinigen könnten, weil beide ein und dasselbe Ziel hätten. Und ebensowenig wie Blicke, schien mir, hätten wir Worte tauschen können...
Mir wurde einmal erzählt von einem, der in Peking am Mahl eines reichen Chinesen teilgenommen, daß die Enten, die unter vielen anderen Gerichten gereicht wurden, darum so köstlich schmeckten wie nirgendwo sonst, weil sie nicht wie bei uns zuerst geschlachtet und dann gerupft, sondern weil sie zuerst bei lebendigem Leibe ihrer Federn beraubt und dann nicht geschlachtet, sondern erstickt wurden, und zwar damit, daß eine Gelatineschicht um den noch lebenden Entenkörper gelegt wurde. So blieb aller Saft, aller Geschmack, alles Köstliche in der Ente zurück und ging nichts verloren auf allen den falschen Wegen, darauf wir uns mit den Enten, die wir töten und essen, irgendwie zu vergleichen suchen. Seitdem ich das gehört habe, denke ich stets beides zusammen: diese Art der Entenzubereitung und den Bettler von Lautschin, den

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Verwandelten. Heißt, frage ich, Verwandlung zuletzt nicht auch das, daß nichts verloren gehe, daß alles zusammen und beieinander bleibe und auf solche Weise sich rette vor der Zerstreuung? Was geht nicht alles verloren und wird zerstreut auf dem Wege, der von uns in den Spiegel führt!

Der große Schauspieler

Er ist, um das Allgemeine über ihn auf der Stelle zu sagen, der Gegenspieler zum Mann des Opfers, er, der große Schauspieler, der große Cabotin, wofür ihn die Böswilligen halten, dessen Gesicht Tausende und Tausende von Menschen aller Stände und Klassen von der Bühne her, aus dem Film kennen und allwöchentlich in Wochenschriften wiederfinden, so daß sie es in jedem Augenblick mit Leichtigkeit aus dem Gedächtnis zu reproduzieren vermöchten. Wer ihm aber auf der Straße oder im Restaurant oder sonstwo außerhalb der Bühne begegnet, sagt zu sich selbst oder seinem Begleiter: Das ist ***, und zu Hause angekommen, erzählt er seiner Frau oder den Kindern: Ich bin *** begegnet, und setzt etwas hinzu, was ihm in Bezug auf *** wichtig erscheint. Oft setzt er auch nichts hinzu und freut sich im stillen.
Auch mir ist es heute mittag widerfahren, daß ich auf ihn stieß. Vor dem Hause, darin er ein Stockwerk oder vielleicht auch nur einen Flügel bewohnt. Ein Auto stand vor dem Haustor, und es war klar, daß beide zueinander gehörten; mit einem Blick mußte einer das weghaben, wer in solchen Sachen, Mensch und Auto betreffend, mitreden will. Er hielt einen allerliebsten, noch sehr jungen Dackel an der Leine, dessen langhaariges Fell feucht glänzte gleich dem einer Fischotter. Offenbar handelt es sich hier um ein sehr kostbares teures Tier von seltener

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Zucht, denn ich wenigstens bin bisher noch keinem ähnlichen begegnet. Doch bleibt immerhin anzunehmen, daß andere Genaueres, ja das ganz Bestimmte darüber wissen und der Dackel gelegentlich auch mitphotographiert worden ist. Obwohl wir noch im Herbst staken und wirkliche Kälte nicht zu spüren war, hatte der große Schauspieler seinen Stadtpelz an, einen noch sehr neuen mit mächtig ausladendem Biberkragen, feucht schimmernd ein wenig wie das Fell des Dackels. Es war in der Tat ein schöner, ein nobler Pelz; er strömte Wärme aus, Behaglichkeit, Überfluß, Kummerlosigkeit, und zwar so sehr, daß einer sogar den Besitzer desselben, dessen Berühmtheit und persönliche Gegenwart, für einen Augenblick wenigstens, darüber vergessen konnte. Alles andere erschien daneben — den Dackel ausgenommen — unbeträchtlich: das abgetragene kleine weiche Hütlein oben war direkt lächerlich, freilich so, als sollte es sich jetzt eben durch sein Lächerliches daneben oder darüber, über dem Pelz, behaupten; die Schuhe unten zählten überhaupt nicht mit, sie sind wohl neu, dafür aber fertig gekauft. Vielleicht wurde erwartet, daß man sie nicht beachte, gar nicht bis auf sie komme. Was kann schließlich neben so einem Pelz bestehen? Nichts kann bestehen. Nichts außer dem berühmten Gesicht, das aber, wenn man genauer hinsieht, heute wenigstens den vielen Photographieen, die wir davon kennen und im Gedächtnis bewahren, gar nicht recht entsprechen will. Es steckt jetzt, vielleicht auch immer etwas darin, was so ein Photograph wohl leicht und bereitwillig wegretuschiert, was aber damit nicht aus der Welt geschafft ist: ein Rest von Ärger. Ist es das? Oder Schlaflosigkeit. Sind es die Spuren von Schlafmitteln? Oder ist es einfach nur Leere? Will sagen: das, was übrig bleibt, wenn die vielen Gesichter,

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Heiterkeiten, tragischen Ausbrüche der Rollen, eines nach dem anderen, davon abgehoben sind wie Deckel von Schüsseln? Es ist nicht das Eitle, sondern die untere oder rückwärtige Seite, das Hintere des Eitlen. Etwas ganz ohne Glanz, etwas, das verzogen ist, überspannt oder besser: vom ewigen Sichüberspannen zurückbleibt, etwas gar nicht Gutes, woran wir keineswegs teilnehmen möchten. O Gott nein. Das ist es also, und alles das steckt in dem schönen, neuen Pelz, der sich selbst so ganz ohne Ärger, ohne Enttäuschung gibt und, wie gesagt, Fülle atmet und Kummerlosigkeit. Es scheint, daß da kein Ausgleich möglich ist und alles eben ertragen werden muß.
Der große Schauspieler wartet offenbar auf etwas, der schnell Vorbeigehende weiß nicht, wie lange, aber schon ist es da, worauf er wartet: die Gattin, das Töchterchen an der Hand führend, das seinerseits eine Puppe trägt. Wie ist das Gesicht der Frau mit dem gütigsten, offensten Lachen überzogen, wie damit angefüllt, wie hat sich darin alles in das Lachen verwandelt, das nur für ihn da ist mit allem, was es enthält: Güte, Hingegebenheit, Treue, Mitleiden, Ermutigung! Das Töchterchen läßt die Hand der Mutter los und stürmt auf den Vater zu, sich samt der Puppe in dessen Schoß, vielmehr Pelz drückend. Auch der kostbare Dackel mit dem Fischotterfell, dessen ganze Aufmerksamkeit bisher von den Vorgängen auf der belebten Straße in Anspruch genommen war, wendet sich jetzt um, blickt seinem Herrn ins Gesicht und wedelt mit dem Schweif. Der große Schauspieler macht wohl einen Versuch, ganz allgemein gesprochen, etwas von der vielen und großen Freude, die ihm hier entgegengebracht wird, zurückzuerstatten, um nicht alles gleich wieder schuldig zu bleiben, doch fällt es ihm schwer, sich

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zu wandeln, es fällt ihm jetzt, in diesem Augenblick, es fällt ihm noch schwer. Wie soll er es aber verbergen, daß es ihm gerade jetzt schwer fällt? Gut, daß das Auto da ist, alle aufzunehmen bereit, jedem seinen Platz anweisend, dem großen Schauspieler am Volant den Führersitz.
Zuweilen, wenn er ganz allein ist, sich selbst, den Ansprüchen, die er an sich stellt oder welche die anderen an ihn stellen, den Vorstellungen von sich selbst entrückt, morgens im Bett vor dem Aufstehen, die Augen gucken gerade noch unter der Bettdecke hervor, sieht er sich selbst als Affen, ganz und gar als solchen, als einen wirklichen Affen von mittlerer Größe, graugrün gefärbt, mit langem Ringelschweif und buschigen Augenbrauen. Genauer: er sieht sich selber und zugleich den Affen. Er ist dann auch er selbst und zugleich der Affe. Und dieser kauert irgendwo im Zimmer, das zugleich das Schlafgemach des Schauspielers ist und doch auch ein anderes, fremdes, großes, ein Zimmer des Geistes im Leeren irgendwo. Der Affe kauert oben auf dem Ofen, genauer: am Rande desselben, seinen Hinteren einem etwas schadhaften Merkur weisend. Von da starrt er aufs Bett, so daß man erwarten muß, er werde jetzt dorthin springen: direkt aufs Bett. Statt dessen ist er aber mit einem einzigen sicheren Satz am Kleiderschrank und dreht sich dort um und starrt oder glotzt wiederum zum Bett hin. Wirst du vielleicht jetzt hergesprungen kommen? Nein, wiederum nicht, vom Kleiderschrank geht es im Satz zum Schreibtisch, mitten auf die Mappe drauf, und schon hängt er am Reck, das dann gegen die Tür anschlägt, und so geht es fort.
Wohin wird er sich im nächsten Augenblick setzen? Es ist so, wie wenn es der Affe selbst vorher nicht wüßte und sich

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erst im Sprung und durch ihn davon zu überzeugen hätte, wohin und daß er springe. Es ist ferner so, wie wenn jeder Gegenstand, auf dem er sich nach dem Sprung zu halten sucht, aus jenem Leeren erst auf- und erstünde, in welches der Affe unter seinen buschigen Augenbrauen hervor starrt, starrt aus der großen und einzigen Spannung heraus, darin er wie gebannt liegt. Und diese in Sprüngen und Sätzen sich lösende Spannung liegt im Gesicht des großen Schauspielers unter der Bettdecke, ist in das Gesicht übergegangen, so daß aller Ärger, alle Kränkung bis auf den letzten Rest daraus weggewischt, daß alle Winkelzüge darin ausgeglichen, alle Vorbehalte zurückgezogen erscheinen müssen für den, der den Schauspieler die ganze Zeit über, da dieser dem Affen mit dem Geistesauge gefolgt war, zu beobachten in der Lage wäre.
Aus dieser Spannung, Erregung, Freude und Seligkeit verfällt er, verfällt vielmehr sein Gesicht, sobald der Affe genügend lange herumgesprungen ist, von selbst, wie von einer großen Höhe herab, auf der sich kein Mensch allzulange zu halten vermag, in eine große, in eine grundlose Trauer, doch so, daß er sich gerne davon bergen läßt, daß er darin jetzt eine Zeit lang wie verkrochen weilen möchte: in dieser großen, ganz grundlosen Trauer. Er weiß nicht, wie lange — doch soll sie dauern, das weiß und fühlt er — soll die Trauer dauern, die ihn jetzt umfangen hält, da der Affe weg ist und er die Bettdecke über den Kopf gezogen hat. ,Wenn jetzt nur Marie — so heißt seine Frau — nicht hereinkäme, nicht gleich, fünf Minuten wenigstens nicht! Ich liebe Marie, sie ist so gut zu mir, alles in ihr strömt Güte zu mir aus, Liebe, doch jetzt soll sie nicht kommen. Bitte, liebe, liebe Marie, bleibe doch noch draußen, komm erst nach ein paar Minuten, nur jetzt nicht, bitte, bitte!‘

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In dem Augenblick aber geht die Tür auf, und Marie tritt, das bewegliche Reck beiseite schiebend, herein, voll Morgenfrische, Zärtlichkeit, auf den Lippen wohl auch schon die sorgende Frage, ob er heute wiederum habe ein Schlafmittel nehmen müssen. „Gut, Marie, daß du kommst, daß du da bist! Gut, gut! Ich warte schon die ganze Zeit über auf dich. Komm, setz dich zu mir her und laß dir in die Augen sehen! So, hierher, so ist es gut.“
Mit diesem erstaunlichsten aller Affensprünge, dessen er fähig war, ist jetzt der große Schauspieler aus seiner großen, grundlosen Trauer, die ihn schon ganz oder fast ganz eingehüllt hatte wie die Bettdecke seinen Körper, in die strahlendste Freude hinübergesetzt, darin er sich nun zu halten sucht, so lange, als es eben geht, und wie gefährlich auch immer die Lage, darin er sich im Augenblick befindet, ihm und jedem, der ihn kennt, erscheinen muß.






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Letzte Änderung: 22. August 2025