RUDOLF KASSNER
BUCH DER ERINNERUNG
1938
6. ERINNERUNGEN
AN RAINER MARIA RILKE (1926)
S. 294—301
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ERINNERUNGEN
AN RAINER MARIA RILKE (1926)
Juni 1914. Wir
waren beide zu Gast auf Duino, jenem
Schloß am Adriatischen
Meere, wo Rilke
drei Jahre vorher die ersten seiner Duineser
Elegien geschrieben hatte.
Seitdem ist das Schloß von italienischen Granaten zerstört,
von seinem Besitzer aber wieder aufgebaut worden. Eines Nachmittags im
sogenannten Tiergarten, einem eingemauerten Bestand sehr alter
Steineichen und Lorbeersträucher, aus deren Gezweig zuweilen eine
Wildtaube aufflog, kam unser Gespräch auf Christus. Und zwar auf
die Figur Christi, des Gottmenschen und Mittlers mehr als auf den
Leidenshelden der Evangelien. Was mir damals Rilke eröffnete,
schien für ihn selbst bedeutsam. Er wolle gar nicht, meinte er,
einen Mittler zwischen sich und Gott, er vermöchte einen solchen
auch auf keine Weise einzusehen; der Mittler würde ihn nur daran
hindern, auf Gott einzugehen und sich mit Gott einzulassen, Christus
sei ihm im Wege...
Eines seiner Gedichte handelt von Jesus Christus: Der Ölbaumgarten (in den Neuen Gedichten).
Ich bin allein mit aller Menschen Gram,
den ich
durch Dich zu lindern unternahm,
der Du nicht
bist. O namenlose Scham ...
Ja, diesen enttäuschten und
zweifelnden Jesus mit der ,Stirne voller Staub‘ vermochte er zu lieben,
aber nicht,
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den der Apostel ,König des Lebens‘
nennt, ihn, welcher Herr, Maß und Meister wurde durch das Opfer.
Rilke wollte nur den Vater. Rilkes Heimat war in jeder Hinsicht die
Welt des Vaters, die Welt der Kinder, der Knaben- und
Mädchenspiele, der Knaben- und Mädchenschuld. Es gab keine
andere Schuld als diese:
Und manchmal brachen Knaben aus den Bergen
der
Kindheit, kamen zagen Falles nieder
und spielten
mit den Dingen auf dem Grunde,
bis das
Gefälle ihr Gefühl ergriff ...
Und so war Rilkes Lyrik (bis zu den Duineser Elegien) durchaus ein
Bekenntnis zu dem Reich des Vaters aus der Welt der Kindheit und des
Knabentums. Unter seinen frühesten Werken findet sich wohl auch
ein Drama, doch Rilke war ganz und gar nicht Dramatiker und würde
auch später niemals der Form zuliebe ein Drama versucht haben. Der
letzte Grund aber bleibt der: er hätte sich darin irgendwie mit
der Welt des Sohnes auseinandersetzen müssen, mit der Welt der
Schuld, der Verantwortung, der Freiheit.
Einmal sagte er mir sehr erregt, als ich ihm seine Nachsicht einem
Dichtwerk gegenüber vorwarf: er wolle ja nie kritisieren, es
läge ihm nichts daran. In der Tat gab es für ihn nicht diesen
so männlichen, dem Manne so eigenen Zwiespalt zwischen Urteil und
Gefühl. Oh, er sah überhaupt den Mann nicht ein. Der Mann
blieb in Rilkes Welt Eindringling, darin waren nur Kinder, Frauen und
Alte zu Hause. Und in der Welt der Kinder, Frauen und Alten, im Reich
des Vaters ist dieser Konflikt auch sinnlos. Im Reich des Sohnes hat
nur einer den Konflikt überwunden: der Mystiker. Doch Hermann von
Keyserling hat recht, wenn er schreibt, daß Rilke ganz und gar
nicht Mystiker sei.
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Es
war 1910 im Herbst in Paris. Ich schrieb damals meine Elemente der menschlichen Größe,
in denen ich zum ersten Male wagte, von Christus auf eine angemessene
Art zu reden. Rilke und ich waren beinahe täglich von fünf
Uhr nachmittags bis in die späte Nacht zusammen. Einmal, nach
einem Gespräch über ihn und sein Werk, schrieb ich, zu Hause
im Hotel angekommen, in mein Notizbuch den Satz ein: ,Von der Innigkeit
zur Größe gibt es nur einen Weg: das Opfer.‘ Als Rilke ihn
später unter den Sätzen
des Joghi las, schrieb er mir, ihn zitierend: ,Diesen Satz habe
ich mir für mich herausgeschrieben. Er ist auch irgendwie für
und gegen mich.‘
Er wollte das Opfer nicht, besser: er wollte wohl das Opfer des Alten
Bundes (die Früchte des Feldes, ein Lamm oder was sonst von Dingen
dem Menschen lieb ist), aber nicht das des Neuen. Er wollte nicht,
daß wir das Maß erst aus dem Opfer, durch die Umkehr
gewönnen. Man lese die achte seiner Duineser Elegien. Sie ist mir
gewidmet und kehrt sich gegen den Begriff der Umkehr, dem er in meinen
Büchern begegnet ist. Das Tier kehrt nicht um, das Tier lebt in
der Welt des Vaters. Die Größe der Vaterwelt war noch ganz
im Sein enthalten, das ist recht so. Mit dem Sohn löst sich die
Größe vom Sein. Der Sohn ist groß, der Vater
aber i s t. Rilke war nicht ohne Ranküne gegen
den Sohn. Beispiele dafür sind einige Gedichte im zweiten Band der
Neuen Gedichte.
In dem Kampf zwischen Art und Gesinnung, der auch ein Kampf ist, den
der Sohn kämpft, entschied sich Rilke für die Art. Von
Deutschlands bedeutenden Dichtern war niemand unbürgerlicher als
er. Und nur insoweit, als der deutsche Geist in jeder Hinsicht der
bürgerlichste Geist Europas ist, war Rilke undeutsch. In keiner
andern Rücksicht. Er liebte Frankreich, weil er darin die
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Art
sah. Es würde ganz und gar verfehlt sem, in Rilkes Liebe zu
Frankreich nichts anderes als die deutsche Liebe zum Fremden zu sehen.
So war ihm die englische Art, die englische Sprache stets fremd
geblieben und er durch nichts zu bewegen, nach London zu gehen. Der
Amerikaner erschien ihm monströs; der Italiener im Grunde nicht
ganz durchsichtig und darum auch nicht sehr wichtig. Gesinnung konnte
ihm die fehlende Art nie ersetzen. Art war vor Gesinnung da. Man hat
Rilke Richard Dehmel gegenübergestellt. Doch die Grundlage jeder
Gegensätzlichkeit ist Gleichwertigkeit. Richard Dehmels
überaus überschätztes Werk ist voll Gesinnung, voll —
meinetwegen — titanenhafter Gesinnung, aber ohne Art.
Der Sohn ist nicht umsonst dagewesen, wir können an ihm nicht
vorbei. Die Welt ohne Größe wird, wie herrlich immer ihr
Anfang gewesen ist, dennoch zuletzt zum Schauplatz der Isolierten, der
Einsamen im Sinn des jungen Malte, der Sonderlinge, der Menschen mit
dem Tick (der Seele). Es gibt zwei Arten von Humor: den Sternes, Jean
Pauls, Kierkegaards, den des Geistesmenschen also. Dieser sieht die
beiden Seiten der Dinge. Die so sehen, leben trotz allem in der Welt
des Sohnes. Rilkes sehr bestimmter Humor war von anderer Art: aus der
Welt des Vaters. Die Dinge bekommen darin den Tick, werden ein wenig
lächerlich, wie sie alt werden. Sie werden entstellt. Aus zu viel
oder zu wenig Genuß. Aus der Einsamkeit des Genusses heraus. Weil
ein Bruch zwischen dem Sein, dem Kindsein, und dem Genuß
entsteht. Rilkes Askese war nicht die der Welt des Geistes, auch sie
sollte Genuß sein. Das sei dann Seele, Vaterwelt, Mutterwelt. Vor
vielen Jahren hatte er sich daran gewöhnt, barfuß zu gehen.
Eine lange Zeit hindurch. Ich glaube, bei und durch Kneipp. Das
Köstliche hätte darin gelegen, wie ihm durch
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die
Berührung der Erde mit den nackten Sohlen an diesen gleichsam ein
neuer Sinn erwachsen sei. So erzählte er.
Als Kind ist Rilke unter Sonderlingen aufgewachsen. In Prag, wo der
Sonderling endemisch ist. Als ich ihn das letzte Mal — 1923 — in Muzot
besuchte, habe ich ihn dringend darum gebeten, seine
Kindheitserinnerungen aufzuschreiben. Die Menschen werden bald im
Besitze einer übergroßen Menge sehr schöner Briefe
sein, mit denen er die Freunde beschenkte. Durch viele Jahre hindurch
hat seine ganze Produktion im Schreiben solcher Briefe bestanden. Ich
fürchte aber, daß die Kindheitserinnerungen nicht
niedergeschrieben wurden. In seinen letzten Jahren haben ihn seine
französischen Gedichte, vielmehr die Tatsache, daß er jetzt
französisch dichtete, zu sehr in Anspruch genommen. Ich erinnere
mich einer wundervollen Geschichte aus dieser seiner Kindheit und will
sie hier wiedererzählen, so gut ich kann. Seine Freunde werden
gleich wissen, wie er, der unvergleichlichste Erzähler unter
allen, die ich gekannt, so etwas brachte. Es war da in Prag ein
älterer Onkel, ein Junggeselle. Dieser hatte eine einzige
Leidenschaft, einen Tick der Seele: Vögel. Ein ganzes Zimmer war
voll davon. An einem bestimmten Tag der Woche durfte der kleine Rilke
den Onkel besuchen. Zu Mittag. Zusammen mit einer Cousine. Der Onkel
kam aus dem Vogelzimmer, das ans Speisezimmer grenzte. Federn staken
ihm im Haar, im Bart, der Anzug war damit bedeckt. Niemand durfte das
Vogelzimmer betreten. Wenn der Onkel während des Essens aufstand,
um den Vögeln einen kleinen Geflügelknochen oder ein
Stück einer Frucht zu bringen, erscholl durch die geöffnete
Tür das Singen, Rufen und Schreien von vielen, vielen Vögeln.
Doch mit einem Tage war das alles zu Ende. Keine
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Käfige
mehr, kein Singen und Kreischen, keine Federn mehr im Bart und Haar des
Onkels. Statt der Vögel eine rothaarige, sommersprossige, sehr
bunt gekleidete Person mit lauter Stimme. All die vielen Vögel,
die niemand je zu Gesicht bekommen, hatten sich in diese Frau
verwandelt, die dann auch meinen Onkel nicht mehr verließ und
schließlich begrub, schloß Rilke.
Ebensowenig wie im entscheidenden Sinne religiös war Rilke ein
Mensch des Mitleids oder überhaupt im Herzen sonderlich sozial
eingestellt. Namentlich über das Religiöse in ihm herrschen
ganz falsche Ansichten. Ich gestehe offen, daß mir die
Vorstellung vom ,Nachbar Gott‘ unerträglich ist. Er liebte die
Armen auch nicht um des Sohnes willen, sondern weil sie herausgestellt
aus dem Gewöhnlichen, weil sie unbürgerlich sind. Armut und
Reichtum finden das eine im anderen ihren Sinn. Im Reich des Vaters.
Der Sohn hat sie durcheinandergebracht. Ich höre noch sein Lachen,
dieses merkwürdige Lachen eines sehr großen Mundes, das wie
ein umgekehrtes Saugen war, vor dem alles davonstob, als ich ihm — am
Bahnhof in Brig, bis wohin er mich noch begleitet hatte — sagte:
„Rilke, ich persönlich habe ganz bestimmt eine merkwürdige
Bestätigung Ihrer Welt gefunden, Ihrer endenden Welt: ich bin
nämlich im Leben so vielen wundervollen alten Jungfrauen begegnet
und so unglaublich vielen törichten Müttern. Es sieht
wirklich so aus, als wären die klugen Jungfrauen der Parabel alle
alte Jungfrauen und die törichten alle Mütter geworden.
Zugleich ist es ein ganz deutlicher Beweis, daß wir aus der
Mutterwelt Bachofens und Schulers endgültig herausgeworfen sind.“
Rilke hatte stets seiner besonderen Neigung zu dem Wesen, das die Welt,
die Welt des Mannes, alte Jungfrau
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nennt,
Ausdruck gegeben. Nicht so sehr aus Mitleid im vagen Sinne des
,schleuderhaften‘ Mannes, sondern weil er die Frau von der Frau aus
empfand. Rilke war den Frauen ergeben wie vielleicht niemals ein Mann
vor ihm. Darum existierte für ihn die sogenannte schöne Frau
nicht. Auch diese war ein Geschöpf des ,schleuderhaften‘,
,dilettantischen‘ Mannes, der gar nicht oder nur auf eine
,schleuderhafte‘ Art und Weise eindringt. Auch dessen Liebe war ohne
die ,Größe‘ des Sohnes oder war durch diese nur
verfälscht worden. Darum konnten nur die Frauen sie leisten.
,Wir‘, heißt es in Malte
Laurids Brigge, ,sind verdorben vom leichten Genuß wie
alle Dilettanten und stehen im Geruch der Meisterschaft. Wie aber, wenn
wir unsere Erfolge verachteten, wie, wenn wir ganz von vorne
begännen die Arbeit der Liebe zu lernen, die immer für uns
getan worden ist?‘
Nur darum, weil alles Liebe und alle ,Größe‘ in der Liebe
und niemals außerhalb derselben ist, ist vielleicht manches in
Rilke Zierat, Schnörkel, Ornament und Spiel, aber nichts, nichts
Klischee. Daher die wundervolle Einheitlichkeit. Rilke war Dichter, war
Persönlichkeit, auch wenn er sich nur die Hände wusch. Die
einzige ganz schreckliche Erinnerung seines Lebens waren die Jahre, die
er in der Kadettenschule von St. Pölten zubrachte. Militär
war für ihn ein Klischee des Teufels, war die zum Klischee
gewordene Welt.
So war auch Rilkes Bildung ohne Klischee. Ich sehe noch das Staunen in
Geheimrat Bodes
militärischem Gesicht, als ihm Rilke in Duino
gestand, daß er den Hamlet
nie gelesen habe.
Das, was viele in seinem Kunstwerk für Ästhetentum halten
möchten, war auch nicht Mangel an Größe, sondern Fehlen
des Klischees der Größe. Oder: seine wirk-
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liche
Größe war die Einheit von Form und Inhalt. Doch wollte er
darüber hinaus. Zu einer neuen ,Größe‘, die er seiner
ganzen Natur nach nicht als Größe des Helden, sondern als
Mythos, als Größe des Mythischen empfinden mußte. In
den späten Gedichten Hölderlins sah auch er die
Überwindung der Kunst durch die Kunst, einen neuen Mythos. Die
unsterblichen Duineser Elegien
sind ein Versuch, denselben Weg zu gehen: den Weg der Überwindung
der Kunst durch die Kunst.
Letzte Änderung: 23. August 2025