RUDOLF KASSNER


Kassner — Buch der Erinnerung

BUCH DER ERINNERUNG

1938

3. ERZIEHUNG
S. 84—169
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ERZIEHUNG

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Was hilft mich die Wissenschaft, so ich darinnen
nicht lebe?    J a k o b   B ö h m e

Ich bin im Herbst 1892 an die Wiener Universität gekommen und habe meine Studien in den beiden Semestern 1895/96 an der philosophischen Fakultät der Universität in Berlin beendet. Das Doktorat wurde in Wien gemacht. Die neunziger Jahre des verflossenen Jahrhunderts, die in einem bestimmten Sinne bis zum Weltkrieg reichen und darum für uns heute von besonderer Bedeutung sind, waren das Jahrzehnt (oder mehr als genau ein Jahrzehnt) jenes Individualismus, von dem sich die Welt jetzt, die Jugend vor allem, abgekehrt hat.
Ohne mir dessen in einem stärkeren Grade bewußt zu sein, bin ich sicherlich ebenso Individualist wie alle anderen jungen Leute der Zeit gewesen. Landkinder, wie ich eines war, leben von der Anschauung, leben lange davon und gewinnen erst allmählich, schrittweise die Begriffe für das, was sie berührt und bewegt.
Man war damals Individualist oder Sozialist, einige Gescheite freilich versuchten beides zu verbinden. Viele von den Individualisten sind später unter die Psychoanalytiker gegangen und viele von den Sozialisten Kommunisten geworden. Ich habe gefunden, daß sich Psychoanalyse und Kommunismus ergänzen, und ich glaube auch, daß

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mir der Individualismus der neunziger Jahre von dem Augenblick anfing, verdächtig zu werden, da er sich zur Psychoanalyse neigte. Mein Verhältnis zu letzterer habe ich an so vielen Stellen meiner physiognomischen Schriften klarzulegen versucht, daß darüber hier kein Wort mehr verloren werden soll.
Es gibt so viele Individualismen, als es Nationen oder Rassen gibt: den französischen, den ich den vernünftigsten oder, besser, vernunftgemäßesten nennen möchte, den russischen bei Dostojewski, der, religiös eingestellt, die Vollendung der Individualität erst im Heiligen erblicken kann, den politischen des Engländers, sich im Charakter, in der Gesinnung auslebend, und endlich den leicht transzendierenden des Deutschen. Es scheint in der Tat so, daß im englischen Wesen die Mischung von Menschentum und Volkstum, von Erobererwesen und Traditionsgebundenheit am glücklichsten gelungen ist, worauf wohl nicht zuletzt die Bewunderung zurückgehen mochte, mit welcher vor dem Kriege auf alles Englische hingesehen wurde. Entschieden hat der Deutsche größere Schwierigkeiten gehabt, seine persönlichsten Wünsche, Bestrebungen und Sehnsüchte mit dem Allgemeinen, mit der Tradition in Einklang zu bringen. Weshalb auch sein Individualismus, der verhängnisvollste von allen, stets auf der Schneide lebt und bereit erscheint, überzugehen und sich in sein Gegenteil zu verkehren.
War es doch der größte Geist des ausgehenden Jahrhunderts, war es Nietzsche, ein Deutscher, welcher den Begriff des Ressentiments beinahe erfunden, auf alle Fälle herausgestellt hat als das Ergebnis einer nicht ganz gelungenen Mischung oder besser: der bedeuteten Schwierigkeit beim Mischen von solchen Gegensätzen

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wie Individualismus und Nationalismus, als die Folge einer nicht leichten seelischen Verdauung und verwandter Erscheinungen mehr. Die menschliche Persönlichkeit dieser Epoche war in der Tat nicht ganz durch, wie man von einer Speise, vom Fleisch sagt, daß sie nicht durch seien. Das hat mich sehr früh betroffen: dieses Nichtdurchsein der Persönlichkeit, und ich hatte mir den Vergleich bald angeeignet. So eine Persönlichkeit war auch nie recht zu fixieren, weil sie sich nach ihrer eigenen Angabe dauernd in Entwicklung befand und gewissermaßen an Baal, den Götzen des Propheten, gemahnte, an welchen man sich darum, wie es hieß, nur schwer wenden konnte, weil man nie wußte, ob er ,nicht auf Reisen sei heute oder augenblicklich schliefe und nicht zu wecken wäre‘. Da lebte im Lande so eine große, sehr publike und ihre Publizität stets von neuem eifrig auffrischende Persönlichkeit, die zunächst einmal was war? Gegen die Stadt und für das Land, das Dorf, die Berührung mit der Erde, die Dichter, darunter freilich auch für solche, die ausgesprochen Städter waren. Dann im gegebenen Fall für das Russische, die Generosität und Breite der Russen gegen das Deutsche ausspielend, das allemal knapp sei und rechthaberisch. Der Beginn des Krieges brachte augenblicklich einen Umschwung in der Gesinnung und dementsprechend auch eine Erklärung in Form einer Broschüre. Nach dem Kriege wurde das Kommunistische Manifest gelesen und öffentlich das Geständnis abgelegt, daß man es bisher vierzigmal, wenn nicht öfter, hundertmal gelesen habe und jederzeit mit einem Gewinn für sich selber und damit hoffentlich auch für die Welt. Und so ging es fort. Der Verkehr der Gläubigen mit dem Götzen war, wie man sieht, auch jetzt nicht leicht, denn der Gläubige stieß, wenn wir uns das Zeitliche in ein Räumliches

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übersetzen, oft auf ganz leere Stellen dazwischen, auf solche, auf welchen Baal, erzählen die Leute, wohl eben geweilt habe, auf denen aber im Augenblick ganz bestimmt nichts mehr zu finden sei.
Frank Wedekind war sicherlich ganz und gar kein Götze, er war in manchem vielleicht nur ein rührender Mensch mit einem wahren Aberglauben an den Erfolg. Als ob ein Mensch ohne Erfolg auf kaum mehr im Leben Anspruch hätte denn auf Lächerlichkeit oder die Anstellung als dummer August im Zirkus. Er ist mir aber stets als eines der eindrucksvollsten Beispiele erschienen für jenen oben genannten Zustand des Nichtdurchseins. Nur bei einem Deutschen aus dieser Epoche war ein solches Zusammentreffen von unzweifelhafter Genialität und ebenso unzweifelhaftem Philistertum zu beobachten oder konnte die Sprache zugleich so neu, so erregend und doch so papieren sein wie in den Dialogen der Stücke Wedekinds. Was alles in seinem Gesicht deutlich wurde, sooft er mit seiner kleinen, spitzen, dunkelroten Zunge im Munde hin und her zu züngeln begann. Das Gesicht hatte wohl etwas von einem Teufel, aber noch mehr von einem Mann, der, sagen wir so, abends an der Kasse sitzt eines Theaters, eines Zirkus oder auch nur einer gewöhnlichen Schaubude, um Billette zu verkaufen. Ich bin ihm einigemal am Tische meines schon erwähnten Freundes Eduard von Keyserling in München, abends im Restaurant, begegnet, so um die Jahrhundertwende. Eduard von Keyserling der war durch, man möchte sagen, zu sehr durch.
Eines Abends erzählte Wedekind, der eben aus Leipzig gekommen war, von einer Frauenstatue Max Klingers, der in diesen Jahren noch neben Michelangelo genannt wurde, von manchen vielleicht nur wegen seiner sehr

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ausgiebigen Potenz, die an sich damals hoch in der Schätzung der Geister stand. Die Frauenstatue sei, sagte Wedekind, ohne Arme, und Klinger lege in den Körper der Armlosen alles Verlangen, alles Ansichreißen und Sichhingeben einer Umarmenden hinein. Das war natürlich durchaus das, was man brauchte und suchte, man horchte auf, Wedekind machte sein züngelndes Teufelsgesicht, Keyserling trank ihm aus seinem Glas mit Rotwein zu, nur ich erlaubte mir die Bemerkung, daß der Marmor zu diesem Frauenkörper, von dem ich schon gehört hätte, von einer Tempelsäule stamme, die Klinger in Griechenland gefunden habe, und daß sich wohl daraus die Armlosigkeit des Frauenkörpers ohne weiteres von selbst ergebe. Ich wollte ja Wedekind keineswegs widersprechen, war nicht ohne Sinn für das Verlangen dieser armlos Umarmenden, nicht im mindesten, hatte gewiß auch eine ziemlich deutliche Vorstellung davon in meinem Geiste, ich wollte Wedekinds Deutung nur ergänzen und von der anderen Seite, vom Objekt her auch begründen. Wedekind wollte aber keine Ergänzung, hörte darin nur den Widerspruch und zischte gegen mich los.
Was er nicht vermochte, war beides zusammen sehen: seine Deutung und meine Erklärung. Dazu hat es ihm an innerer Freiheit, an Generosität gefehlt, dazu war er irgendwie auch zu abergläubisch auf seine Weise. Und doch kommt Freiheit erst in Frage, wenn einer beide Seiten im Leben zu sehen die Kraft und den Willen hat. Weshalb nur der frei genannt werden darf, der durch ist, um dieses Bild noch einmal zu gebrauchen.

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Wenn wir von einer Lehre Stefan Georges — der durchaus ein Mann der wilhelminischen Epoche war: nämlich

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deren Widersacher — reden dürfen, so war sie gegen Richard Wagner, gegen dessen von der Musik her orientierte Weltanschauung, Art und Haltung gerichtet. Und doch besteht eine tiefe Verwandtschaft zwischen beiden und erscheint die Seele Richard Wagners, des entschieden größeren, machtvolleren von den zweien, in der Seele Stefan Georges wiedergeboren und verwandelt. Was wiederum nur damals und unter Deutschen in der Ära des Individualismus denkbar war: daß man aus derselben Wurzel komme, eine ähnliche Art habe und doch gegeneinander stehe. Physiognomisch wurde einem das deutlich bei einer Betrachtung des gleichen Verhältnisses zwischen beider mächtigem Schädel und beider kleinem, magerem, ja armseligem Körper. Nur waren Schädel und Gesicht bei Richard Wagner mit dem meermuschelhaften Schwung von der Nasenwurzel an bis in den Nacken hinein die eines Ohrmenschen von höchstem Rang und sinnbildhafter Kraft, während die prachtvoll gemeißelte Stirn Stefan Georges — einer seiner Freunde und Schüler bezeichnete sie mir gegenüber als Tierstirn des Genies, was gewiß noch schöner klingt, als es stimmt — den plastischen Wortbildner, den größten seiner Zeit, verriet. Als physiognomisches Kuriosum erschien mir daneben die Stirn Friedrich Gundolfs, sie war wie das Junge der Stirn Georges: nur dünner, weicher, durchsichtiger. Eine Zeit lang hat es so scheinen können, als ob das Gesicht des Meisters sich in das seines Schülers und Jüngers eingedrückt, hineingebohrt hätte, was später aus letzterem dann verschwand. Einem ähnlichen Phänomen wird man im Laufe der Geistesgeschichte wohl kaum begegnet sein.
Ich bin mit Stefan George nur einmal zusammengetroffen, 1904 bei Hugo von Hofmannsthal in dessen Haus

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zu Rodaun. Friedrich Gundolf, den Meister auf der Reise begleitend, war dabei. George hatte einmal die Absicht gehabt oder hatte sie noch, meinen Aufsatz Die Ethik der Teppiche, aus den Essays, als Sonderabdruck im Verlag der ,Blätter für die Kunst‘ herauszugeben, war von meinem Buch über die englischen Dichter, das damals noch einen anderen Titel führte, eingenommen gewesen, hatte oft, wie man mir erzählte, daraus vorgelesen, und so sollten wir uns einmal sehen, was eben in Rodaun geschah. Ich war infolge von Tratsch und Gerüchten, die um George stets im Schwange waren, auf ein sehr priesterliches Gebaren seinerseits gefaßt, doch nichts davon trat zutage, er war der denkbar einfachste Mensch in seinem blauen, etwas spiegelnden Anzug und der hohen Kragenkrawatte, aß ununterbrochen, auch nachdem der Tee serviert worden war, Sandwiches und drehte sich zwischendurch aus türkischem Tabak selbst mit seinen vom Nikotin gebräunten Fingern die Zigaretten, was man damals noch in Frankreich und in Österreich zu tun pflegte. Er las uns aus seiner Dante-Übersetzung vor: murmelnd Wort an Wort reihend, jedes Pathos vermeidend, als läse er Zauberformeln, Gebete vor in einer Sprache, die niemand zu verstehen brauche, weil sie heilig und zu rein magischen Wirkungen bestimmt sei. So wird in den Moscheen Arabisch vorgelesen oder gebetet, das niemand sprechen kann von den Knieenden. Es war eindrucksvoll, wenn auch nicht ganz befriedigend. Rilkes Vorlesen verstand beides zu vereinigen: das Priesterliche und das Dramatische. Es vermochte einen aber über das Verhältnis Georges zur Musik aufzuklären. Ich stand damals noch sehr im Bann der Musik Richard Wagners, wovon auch die erste Auflage der Moral der Musik Zeugnis ablegen kann. Davon wollte George nun nichts

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wissen; er wurde ganz böse, als ich ihn, nicht ohne die gebotene Deferenz, nach seiner Stellung zur Musik und so weiter fragte. Das könne er mir jetzt nicht in fünf minuten erklären, auf jeden Fall sei sie ganz anders als die meine.
Vor dem Abschied mußten wir uns noch ins Fremdenbuch eintragen. Zuerst kam natürlich der Meister daran, der nur St. G. hineinschrieb. Als Gundolf ihm in der Reihe folgte, der den ganzen Nachmittag über kaum den Mund aufgetan hatte und nur von Zeit zu Zeit mädchenhaft errötete, sooft man sich an ihn mit Blick oder Rede wandte, rief George: Dischtanz halte, Gundel, Dischtanz! Nach Jahren wurde mir diese kleine, an sich ganz bedeutungslose Szene so wiedergegeben, als hätte George den Ausruf: Dischtanz halte, Gundel, drohend, befehlend getan. In Wirklichkeit sagte er es scherzend und sich ein wenig lustig machend über die Verschämtheit und die zögernde Bescheidenheit des Jüngers, wohl auch über sich selber, soweit so etwas überhaupt vorstellbar ist. So werden Geschehnisse weitergegeben.
Menschen mit einem sehr klaren Blick für das einfach Menschliche finden Georges Bild in meiner Physiognomik eitel. War George eitel? Ist ,eitel‘ nicht ein dummes, unwichtiges Wort einer so bedeutenden Erscheinung gegenüber? Stefan George war eitel, wie nur ein Deutscher, vielleicht auch ein Inder, ein Bengale, eitel sein kann, was soviel heißt wie, daß die Eitelkeit hier unter die Haut dringt. Weshalb sie vielleicht im Bild mehr heraustritt als in der Wirklichkeit. Persönlich wirkte er ganz und gar uneitel, hingegen nicht gesund, livid, gleich einem, der Empfindungen zu überspannen liebt. Sein grünlichblaues Auge war klein und konnte zuweilen sehr böse dreinblicken, war überhaupt eher böse. Die Eitelkeit

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Baudelaires, den George bewunderte, war Koketterie, Bluff, Dandytum, löste sich leicht ab oder ließ sich wie gute Schminke abwaschen. Die Eitelkeit des Individualisten aber geht nicht so leicht weg und sieht oft wie ein Leiden aus. War aber George Individualist? Seine Lehre ist offenbar gegen den Individualismus. Und doch war er es, und das brachte bei ihm das hervor, daß er zugleich eitel und leidend erschien oder auch war.
Ich habe vorhin den deutschen Individualismus transzendierend genannt. Das hängt zweifellos aufs allerengste mit der deutschen Sprache zusammen, die eben um des Transzendierenden, Hinübergreifenden willen so menschlich ist. Wie anspruchsvoll ist nicht das Wort: Persönlichkeit! Wie hoch wollen wir damit nicht hinaus, über uns selbst hinaus und hinweg, so hoch, daß einem hinterher oft nichts anderes übrig bleibt, als auf uns zurückzufallen, ja darunter zu gehen und uns zu genieren! Houston Stewart Chamberlain hatte die Gewohnheit angenommen, Persönlichkeit mit großer Persönlichkeit zu verwechseln und zum Teil darauf, auf etwas also, das wie ein Trick aussehen konnte, seine politischen Anschauungen aufgebaut. Ich habe einmal versucht, ihm das klarzumachen. Als Deutscher. Da brach aber plötzlich der Engländer bei ihm durch, der das nicht wahrhaben wollte, und zwar aus einer gewissen natürlichen Anlage zum politischen Denken. Es sei eben richtig und gut, den Menschen ein Bild, ein vergrößertes, vorzuhalten, sie damit anzuspornen, zu locken. In Chamberlain war ein Pragmatist versteckt. Pragmatismus, von England und Amerika geliefert, ist im besten Fall die Philosophie von Politikern. Ich war aus Instinkt, möchte ich sagen, gegen jede Art von Pragmatismus, von Als ob. Er ist mir stets billig, ja schäbig, entschieden unheroisch

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vorgekommen, als ein Zeichen einer präformierten Verkalkung des Geistes, zudem auch falsch.

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Sicherlich kommt der deutsche Individualismus ebenso wie der griechische aus dem Idealismus. Beide Individualismen sind geistiger Art zum Unterschied vom englischen, der mehr seelisch ist. In dem Jahrzehnt aber, darin ich geistig geweckt werden sollte, stand der Individualismus dem Idealismus sehr unversöhnlich gegenüber. Man war Idealist ebensowenig wie liberal. Die Väter, heißt das, waren noch liberal gewesen, die Söhne sind es nicht mehr, sind allerhand statt dessen und dagegen. Wenn man will, kann man im Liberalismus unserer Väter einen Übergang, eine Vermittlung, eine Mittelmäßigkeit sehen: vom Idealismus zum Individualismus, zwischen dem einen und dem anderen. Der Individualist wollte aber in diesen Tagen ebensowenig mittelmäßig wie Idealist sein; man ist versucht zu behaupten, daß er sich darauf hatte ein Patent geben lassen, im Idealisten Spuren des Mittelmäßigen und, umgekehrt, im Mittelmäßigen solche von Idealismus entdeckt zu haben. Was wollte er aber nun wirklich sein, was war er in Wirklichkeit? Psychologe und zugleich Realist. Eines schien ihm mit dem anderen gegeben und durch das andere hervorgerufen. Die Zusammenfassung aber aller Bestrebungen, Wünsche und Ziele schien in der Figur Henrik Ibsens in Erscheinung zu treten, weshalb es auch so aussah, als ob bei den Erstaufführungen Ibsenscher Stücke in den neunziger Jahren der Geist in Person zu Wort gekommen wäre, und zwar ein für allemal.
Die Figur Ibsens war mehr als irgend eine andere zu einer Art Mythos geworden, nicht trotz, sondern mit

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allen ihren kleinen, überaus menschlichen Eigentümlichkeiten und Skurrilitäten. Darin lag eine gewisse Kraft: in dieser Verbindung des Geheimnisvollen mit dem Schrullenhaften. Daß er im Zylinder innen einen kleinen Spiegel angebracht hatte oder daß gelegentlich Kritiker den von allzuvielem Rotwein Wankenden nachts nach Hause begleiten durften, das tat dem Mythischen seiner Person in keiner Weise Abbruch.
Ich sage: Kritiker. In der Tat ist vielleicht zu keiner Zeit der Kritiker in seiner Position zwischen dem Dichter und dem Publikum so wichtig, so entscheidend und auch so berühmt gewesen wie in den neunziger Jahren. Ich erinnere mich sehr genau all dieser Ibsen-Erstaufführungen meiner Studentenzeit in Wien und in Berlin. Die Kritiken erschienen nachher, das verstand sich von selber, sie erschienen aber auch schon vorher. Vorher   u n d   nachher. Ich kannte einen gescheiten Mann, der dazu vom Schicksal berufen zu sein schien, sehr ausführliche und tiefsinnige Artikel über das zu erwartende Stück eine Woche oder mehr vorher zu veröffentlichen. Es ging vor allem anderen um das Symbolische im ,Baumeister Solneß‘, in ,Klein Eyolf‘, in der ,Frau vom Meer‘, und dazu besaß er allein oder zunächst die Schlüssel, so schien es wenigstens. Nun ist die Symbolik Ibsens meist entweder geschmacklos oder platt, darauf war man ja mit der Zeit gekommen, und darüber hatte man sich auch irgendwie beruhigt. Mein Kritiker schien sich aber diese Entdeckung so zu Herzen genommen zu haben, daß er später überhaupt nichts mehr schrieb im Leben, denn ich bin seinem Namen in keiner Zeitschrift mehr begegnet, so daß mir manchmal der Gedanke kam, ob er nicht daran gestorben sei. Was ich nicht hoffe, was ich zu keiner Zeit gehofft habe und dann nur hätte wollen können,

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wenn ich ein Ibsensches Symbol und nichts anderes gewesen und mir der Wunsch freigegeben worden wäre nach einem Menschen, einem Wesen, das aus Mitgefühl mit mir hätte dahingehen wollen in die Vergessenheit.
In diesen Jahren war es auch, daß die Idee des schöpferischen Kritikers konzipiert wurde. Zum Unterschied von irgendeinem, sagen wir: unberühmten. Man schien vielfach in Gedanken mit der Frage beschäftigt, wann etwa und unter welchen Voraussetzungen ein Kritiker einem Dichter an Wert, an Ewigkeitswert gleichkomme, ob etwa nicht ein sehr guter Kritiker doch um einiges mehr als ein wenig guter Dichter, um uns in einer so heiklen Angelegenheit nicht bestimmter auszudrücken, oder ob sich so etwas wie eine Gleichung ansetzen ließe zwischen diesem sehr guten Kritiker und einem gut mittleren Dichter, wenn Mittleres hier überhaupt noch Geltung haben könne. Was damals nicht so ohne weiteres hingenommen worden wäre. Solche Gleichungen aber sind schwer aufzulösen; in den meisten Fällen blieb es bei kolossalen Eitelkeiten, mußte es dabei bleiben und noch bei dem, daß man einen geringen Dichter gelegentlich mit der Feder schöpferisch niedermachte.
In dem Jahrzehnt des Individualismus fehlte es keineswegs an Talent, o nein, aber an der Idee und Vorstellung von Art. Das gab es nicht, das wurde auch nicht in den Mund genommen: Art. Es gab Großes, es gab Kleines und zwischendurch Persönlichkeit, aber nicht das, was wir Art nennen. Die Psychologen, die damals das große Wort zu führen begannen, hatten erst recht kein Interesse daran, und die Psychoanalytiker gingen schließlich darauf aus, Art zu zerstören oder von vornherein nicht gelten zu lassen. Man bewunderte und liebte auch dies und jenes: den Dichter, die Natur, London, Paris,

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und war doch nicht ohne Neid und Mißgunst. Art ist aber bestimmt dazu da, das auseinanderzuhalten: die Bewunderung und den Neid oder ähnliches. Und wenn das alles nicht auseinandergehalten werden könnte, so würde es auch keine Art geben oder müßte man derselben entbehren.
Wie war uns damals Berlin nicht wichtig und maßgebend, uns, die wir aus Wien oder Graz kamen! Ich kannte einen Grazer Studenten, der zwei Semester lang mit entzückten Blicken durch die Straßen Berlins, auch durch die Friedrichstraße, langbeinig einherschritt. Ich erinnere mich so eines abendlichen Spazierganges unter den Linden im Juli kurz vor Schluß meines letzten Semesters dort. Mein Begleiter war ein rechtskundiger Mann, älter als ich, schon im Amt, ein lieber, im letzten auch bescheidener und wohlgesinnter Mensch, nicht ohne allgemeine Bildung, den Klassikern der Schule Treue bewahrend, auf seiner Reise durch Sizilien einen Thukydides in der Ursprache im Koffer mitführend. Er war Junggeselle, und seine extreme Kurzsichtigkeit wußte er bei Gelegenheit mit einem überlegenen Zwinkern unter sehr dicken Brillengläsern zuzudecken. Es war unvermeidlich, im Gespräch wieder einmal darauf zu sprechen zu kommen, ob Berlin und wann es London oder Paris erreichen oder gar übertreffen werde an Größe, Reichtum, Schönheit und Weltwichtigkeit. „Sie haben ja Ihre alte Kultur“, meinte er zu mir, damit den Wiener von vornherein aus dem Wettbewerb ausschließend. Dann kam, weiß ich noch, zur Sprache, daß Fontane, dessen Effi Briest und Irrungen, Wirrungen derzeit viel gelesen wurden, eine so vornehme Art habe, welche anderen, jüngeren, fehle, gewisse Dinge zu übergehen, Dinge, die geschehen, geschehen müssen, die man aber erraten könne. Man ißt

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abends im Restaurant am See, beim ersten gemeinsamen Ausflug, Schleie in Butter, am Morgen danach trinkt man auf der Terrasse, den See vor sich im Sonnenglanz, Kaffee, sie streicht die Semmeln. Was brauchte es da weiter umständlicher Erläuterungen, eingehender Schilderungen von Dingen, die wir alle kennen und erlebt haben? Gewiß, er hatte recht, aber ganz habe ich vielleicht doch nicht begriffen, kommt mir jetzt vor, warum er eine gar so große Befriedigung darüber empfunden hatte, daß ,alles‘ stets übergangen werde.
Plötzlich aber war er darauf gekommen, daß er keinen Unterschied mache zwischen einem Dichter wie Gerhart Hauptmann und sich, dem Rechtsanwalt, wie immer die Welt sich dazu stellen möge, er sei ebensoviel oder ebenso groß. Er sagte das so von der Seite her, aber es war darum nicht weniger aufregend, aufreizend. So daß ich unmittelbar das Bedürfnis empfand, etwas zu erwidern. Etwa: es käme dabei doch wohl auch auf die Welt an, wie immer diese Welt sei oder wir sie einschätzen und wenn sie sich auch beim Anblick der Großen nicht durch mehr als durch Fingerzeige, Flüstern, Ins-Ohr-Tuscheln zu manifestieren die Fähigkeit besitze. Oder: hoffentlich bleibe auch Gerhart Hauptmann groß und passiere ihm später nichts. Schon Ihretwegen. Doch ich sagte lieber nichts und blickte auf den Boden. Es war besser so. Als ich aber nach einer Weile sehen wollte, wie er sich nach einer so kühnen, ja herausfordernden Erklärung befände, blickte auch er auf den Boden, und so wurde weiter nicht mehr von Größe unter uns gesprochen.

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Eine kleine Episode, die immerhin zeigt, wie der Künstler und der Kritiker damals aufeinander eingestellt waren.

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Eines Sonntags, am Nachmittag, es war im Herbst 1910, mietete Rilke ein Auto, ich sollte mit ihm nach Meudon zu Rodin, wir würden erwartet. Am Eingang der sehr berühmten und vollkommen unschönen Villa kam uns ein altes, fast kümmerliches Weiblein in den Weg, das ich für die Frau des Concierge nach seinem Aussehen und der Kleidung halten mußte, bis mir Rilke, nachdem er es mit großer Höflichkeit begrüßt hatte, ins Ohr flüsterte, daß es Frau Rodin selber wäre. Von welcher uns auch gleich angezeigt wurde, daß der Meister sehr verkühlt sei und uns darum nicht im Atelier, sondern oben im Schlafzimmer empfangen werde. So ging es also erst eilig durch die vielen und geräumigen Säle mit Statuen, Büsten, Studien in Gips hindurch, Rilke machte den Führer, vielleicht zu schnell, das meiste war uns beiden schließlich bekannt, und wir wollten zu ihm, dem Schöpfer, mehr als zu dessen Werken. Wir trafen ihn dann auch oben an, neben seinem Bett in einem Empirefauteuil sitzend, die beiden auffallend dicken, ungeformten Hände auf den vergoldeten Sphinxen der Lehne lastend. Das ganze, nicht große Schlafzimmer war Empire. Lauter sehr schöne Stücke, von ihm selber gesammelt. Es war aber zwischen den einzelnen nichts, keine Luft, Stück stand neben Stück, Ding neben Ding. Auch er war so wie ein Stück da, ein Stück großer Meister, im Fauteuil sitzend, welcher etwas von einem Thron hatte. Das schien sehr merkwürdig bei einem Künstler, und ich habe es mir daraus erklärt, daß Rodin sein Leben im Atelier gelebt habe, daß das Atelier seine Welt gewesen sei, so sehr, wie diese es nie für Michelangelo, noch weniger für Donatello oder die Meister der Kathedralen war. Und so standen auch diese kostbaren Möbel neben- und gegeneinander wie Gegenstände im Atelier: unverbunden, vor-

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läufig, zufällig, als ob das wahre, das lebendige Leben für die Dinge nur in der Seele und im Geiste des Schöpfers gelebt werden und daraus allein alle Verbindung und Verbindlichkeit für die Dinge draußen geholt werden dürfte.
    Mit sehr heiserer Stimme, voller Schnupfen und Niesen, begann nun Rodin alles das über seine Kunst, über die Kunst überhaupt zu sagen, was man aus seinen eigenen Büchern, aus den vielen anderer über ihn lange schon kannte; er sagte es her, sagte es auf, zwischendurch niesend, und wandte sich dabei an mich. Was schließlich ganz begreiflich war. Rilke hatte ihm nämlich gesagt oder geschrieben gehabt, daß ich vor Jahren einmal über ihn einen Aufsatz veröffentlicht hätte, er durfte oder konnte mich also für einen Kritiker halten, für den Mann einer ausländischen Revue oder Zeitung. Plötzlich aber hielt er inne, fuhr in seinem Auf- und Hersagen nicht mehr fort, einen schnellen Blick aus schlau verdutzten Augen auf meine Hände werfend, die völlig müßigen, unbewaffneten, und sagte bis zum Abschied nur noch Gleichgültiges, von nun an mehr zu Rilke als zu mir gewandt.
    Ich konnte mir es nicht erklären, bis Rilke, vom Ganzen ein wenig enttäuscht, mir auf der Rückfahrt eröffnete, Rodin hätte mich sicherlich für einen Journalisten gehalten oder einen Mann einer ausländischen Revue, irgendeinen, und sich gewundert, daß ich das, was er sage, nicht mitschriebe. Daher sein Blick auf meine Hände ohne Bleistift und Notizbuch. Zu Rodin hatten in der Tat die Kritiker dazugehört; man erzählte damals in Paris, daß alle ein wenig gesuchten Titel seiner Skulpturen von Männern der Feder herkämen, daß zum Beispiel der Titel Penseur jener Männerstatue mit dem ge-

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waltigen Rücken und dem kleinen Kopf eines Ringers von Octave Mirbeau stamme. Rodin selber wäre eine solche Benennung nie eingefallen.
Und doch war kurz vor dem Weltkrieg das Verhältnis zwischen Künstler und Kritiker locker geworden. Im Jahre 1912 habe ich Maillol oft in dessen Atelier besucht. Von Kritik, Kritikern war nicht mehr die Rede.
Der Herbst des Jahres 1910 war aus zwei Gründen für mich bedeutsam. Erstens begründeten er und das vorangegangene Frühjahr meine Freundschaft mit Rainer Maria Rilke, den ich früher nur einmal gesehen hatte, da er mich zwei oder drei Jahre zuvor in Hietzing besuchen kam. Wir sahen uns jetzt zeitweise täglich und oft von Mittag an, da wir zusammen in einem kleinen Restaurant irgendwo frühstückten, bis spät in den Abend oder gar in die Nacht hinein, die letzten Stunden bei einer Camomille im Café de la Paix zubringend. Mit Rilke kam es selten zu Diskussionen irgendwelcher Art, sondern es war meist so, daß der eine erzählte oder beschrieb und der andere zuhörte. Rilke konnte ebenso trunken zuhören wie sehend erzählen. Sein ganzes Wesen war durchsetzt mit Charme und Hingabe, was sollten da Diskussionen!
Er hatte eine Einladung zu einer Reise nach Algier und Ägypten erhalten, die er mit geteilter Empfindung aufnahm. Ich sollte nun entscheiden, ob er die Einladung annehmen solle oder nicht, während er mit einem vor Unentschiedenheit, Wollen, Nichtwollen und Tränen aufgedunsenen Gesicht bei mir im Hotelzimmer saß mitten unter Wäsche, Kleidern und Büchern, die alle in zwei Koffer sollten, da ich unmittelbar vor meiner Abreise stand. Ich entschied: Ja. Reisen Sie! Nehmen Sie an! Nach Monaten schrieb er mir dann nach Wien ungefähr

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so: Lieber Kassner, wenn ich die ganze Zeit über statt die schönsten Dinge zu sehen in einem Pariser Hospital gelegen hätte mit dem Gesicht gegen die Wand, so würde ich ebensoviel von allem gehabt haben und ebenso glücklich gewesen sein.
Zweitens aber habe ich damals in Paris die Elemente der menschlichen Größe beendet, die ich in der Bretagne, in St. Lunaire, bei Ebbe auf den dunklen Steinen des Meeresstrandes sitzend, begonnen hatte. Mit diesem schmalen Bändchen, das ich einem der wunderbarsten Menschen meines Lebens, dem Gatten der durch ihre Freundschaft mit Rilke bekannten Fürstin Maria von Thurn und Taxis, gewidmet habe, glaubte ich mit Recht die Periode meiner Jugendproduktion zu beschließen und eine neue der Reife zu inaugurieren. Wir Deutsche sind entsetzliche Überwinder, ewige Überwinder, und in den ‚Elementen‘ wollte ich aus dem Antithetischen, das jeder Jugend anhaftet, heraus zu dem, was ich Maß nannte oder was mir zum ersten Male als Maß aufgegangen war. Ich begann alles Antithetische und die ganze, mir zu billig erscheinende Kompensationspsychologie, die damals im Schwange war, zu hassen und darin das sichere Anzeichen von Maß- und Artlosigkeit zu erblicken. Ich hatte das Gefühl, daß Größe, Menschengröße ohne Maß, Maßeinheit, daß Persönlichkeit ohne Art, Persönlichkeit als Parade, mir nichts, dir nichts, sinnlos sei. Wo Maß ist, dort ist auch Art. Beides muß gespürt werden. Die bloße Individualität ohne Hintergrund bleibt ein spiel von Antithesen, ist leck und indiskret.
Die Welt, die ich kannte, schien mir damals voll von solchen etwas lecken, durch und durch indiskreten Persönlichkeiten. Persönlichkeiten, die meinten, es so zu sein, wie sie Fritz oder Kurt hießen und ein rotes Hemd

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anhatten. Es war mir einmal gelungen, zwei Verleger von großem Ruf bei mir zu versammeln, unter ein Dach zu bringen. Nachdem der eine von beiden, der weltläufigere, sich von uns verabschiedet hatte, sagte der andere eher ungeniert, ja kühn, wenn man will: Ihr Freund ist ja sehr tüchtig und gescheit, hat auch meist Erfolg mit seinen Büchern. Bei mir aber, sehen Sie, stehen die Dinge anders: ich bin zunächst Persönlichkeit. Ich schrie: Mein lieber D., Sie sind ein Idealist, das ist es. Doch das wollte man nicht hören, auf keinen Fall. Man war nicht mehr Idealist, oder wenn man es war, so verschwieg man es, obgleich man sehr wohl hätte sagen können und noch dazu ohne Verletzung des guten Geschmackes: Ich bin Idealist. Statt dessen aber: Ich bin eine Persönlichkeit und so weiter, worin doch die denkbar unglücklichste Eröffnung zu was immer in der Welt lag.
Ein boshafter Mann schrieb mir ungefähr um dieselbe Zeit aus Berlin, er habe unlängst bei Soundso, einem geistreichen, in mancher Hinsicht bedeutenden Mann der Industrie, der Feder, Verwaltungsrat unzähliger Gesellschaften und so weiter, ein Diner mitgemacht, zu welchem, damit das Dutzend voll sei, die elf gescheitesten Männer von Berlin geladen gewesen wären. Gewiß war der eine oder andere nicht dabei, aber immerhin saßen zwölf an der Tafel, und alle waren sehr gescheit und hielten sich auch dafür. Leider sei beim Ganzen nicht viel herausgekommen, denn keiner hätte dem anderen getraut, und alle hätten einander mit der Frage angesehen: Bist du wirklich eine Persönlichkeit? Ich kenne dich doch. Sind wir es wirklich alle? Oder ist es am Ende keiner? Und ist die einzige wirkliche Persönlichkeit draußen geblieben?

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Eines darf nicht übersehen werden und ist zudem sehr aufschlußreich, daß Persönlichkeit ein mittel- und norddeutscher, ein protestantischer Begriff ist und das bloße Wort in Österreich, im katholischen Süddeutschland selten gebraucht wurde. Hier hat es genügt, daß einer jemand, sehr jemand oder niemand, sehr niemand sei. Was alles letztlich auf die reichere Struktur des Gesellschaftlichen, des Katholischen und manches andere daneben zurückgeleitet werden muß. Man war Persönlichkeit, ohne weiter einen Begriff oder eine Vorstellung davon zu haben. Der letzte unter den Menschen Nestroys hatte irgendwie Persönlichkeit oder war eine wenn auch überaus lächerliche Persönlichkeit, aber es ist gar nicht zu denken, daß Nestroy selbst das Wort je in den Mund genommen hätte.
In dem Jahrzehnt oder in den zwei Jahrzehnten des Individualismus aber war das gesellschaftliche Gefüge gelockert, der reine Begriff des Katholischen getrübt, Katholisches und Protestantisches nicht zuletzt dank dem Einfluß Richard Wagners durcheinandergebracht worden, und so konnte das, was sich als Persönlichkeit und sonst nichts durchsetzen wollte, zur Geltung kommen oder seine neue Bestimmung finden. Die norddeutsche Persönlichkeit hatte es, wie ich schon angedeutet habe, mehr auf Entwicklung abgesehen, so zwar, daß dabei ein Ende nie recht abzusehen war, ja ein solches im gegebenen Fall leicht kläglich werden konnte. In Wien hingegen, um dabei zu bleiben, wurde von denen, die ihre Wünsche in Prosa oder in Versen zu äußern verstanden, derjenige gerne als Persönlichkeit bezeichnet, qui brûle la chandelle aux deux bouts, der Mann also, der die beiden Enden der Dinge geschickt in die Hände bekommt, der

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Mann des Tiefsinns und des Lebensgenusses oder der Leidenschaft. Man nehme, welche Gegensätze immer man wolle.
Es war so um die Mitte der neunziger Jahre, ziemlich genau, daß Wiens berühmtester Kritiker und Ankündiger neuer Richtungen und Stellungen des Geschmackes und des inneren Lebens der Seele von Paris, wohin er sich zur Orientierung auch für andere zeitweise zu begeben hatte, nach Wien zurückkam und von Maurice Maeterlinck, der damit, daß er von dem schon einmal genannten Octave Mirbeau im ‚Figaro‘ mit Shakespeare verglichen wurde, den Gipfel des Ruhmes für uns unten erklommen zu haben schien, die Kunde brachte, er sei ein Mystiker, der Bier trinke. Abends im Restaurant oder überhaupt. Das war viel, das war verblüffend, der Mann wurde einem zugleich fern und nahe, er war wie wir selbst und dann eben... Man hatte jedenfalls die beiden Enden des Lebens oder, wie Heraklit sich ausdrückt, die beiden Enden der Leier in der Hand.
Einige Jahre nach dieser Eröffnung, als der Ruhm des biertrinkenden Mystikers wohl schon von einigen Schriftstellern in Paris, aber keineswegs noch in Deutschland bezweifelt zu werden begann, besuchte ich Maeterlinck, durch einen Brief seinerseits, als Antwort auf mein erstes Buch, dazu aufgefordert, in Paris in seinem Heim in Passy oben mit dem Blick auf die Seine, einem Rokokoschlößchen, von dem ich gerne annahm, daß es ein großer Herr des 18. Jahrhunderts für seine Geliebte gebaut hatte. Ich habe niemals später einen Mann der Feder, Dichter, Mystiker in einer gleich reizvollen, ja beneidenswerten, den Neid direkt herausfordernden Umgebung gesehen. Ich kam damals zu ihm aus dem Zimmer eines kleinen Hotels im Quartier latin,

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in der Nähe des Panthéon. Mein Zimmer ging auf den Hof und war, da ich auf Schlüssel keinen Wert legte, später nicht, zu allen Stunden des Tages und der Nacht jedermann zugänglich. Das Hotel hieß ebenso simpel wie großartig: de la France, lag rue Touillier 11 und wird von mir hier darum erwähnt, weil Rilke nach mir und, wie er mir gestand, durch mein Beispiel veranlaßt, nicht nur sich, sondern auch gleich seinen Doppelgänger Malte Laurids Brigge darin einquartierte. Ich habe mich sicherlich nicht einen Augenblick lang im Inneren des Gemütes bei einem Vergleich der beiden Behausungen aufgehalten, da ich Maeterlincks Schlößchen betrat, und mich nur betroffen gefühlt, als dieser von meinem Quartier, das damals noch ganz seinen Charakter bewahrt hatte und mir unendlich lieb war, nichts anderes zu sagen wußte, als daß es schmutzig sei.
Maurice Maeterlinck machte mir den Eindruck eines vollkommen glücklichen Menschen, wenn Glück im Harmonischen eines Ganzen gesucht werden darf. Er war ein schöner Mann, die Haut des Gesichtes trocken, sonngebräunt, das Auge blau wie gewisse altitalienische Fayencen, sein ganzes Wesen und nicht nur der kräftige, geradegewachsene Körper strömten Wärme aus, warm war auch seine Stimme, er beklagte sich nur, daß ihm sein Doktor derentwegen das Rauchen untersagt hätte. Mir fiel das auf: sein Doktor, mein Doktor. Ich würde mich nur schwer daran gewöhnen können zu sagen: mein Doktor, mein Schneider und so weiter. Er erschien mir vorurteilslos — wenn ich von seinem Urteil über das Quartier latin absah —‚ offen, teilnehmend. Kaum daß ich bei ihm eingetreten, war er erstaunt über mein junges Aussehen und meinte, nach meinem Buche habe er einen bejahrten Philosophen in mir erwartet. Das war

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vage und zudem falsch, denn dieses mein erstes Buch sah womöglich noch jünger aus als ich selber. Daß er ein Mystiker sei oder von den Leuten dafür gehalten werde, das fiel mir in seiner Gegenwart nicht ein und nicht auf. Hingegen sagte er mir, daß er gerne koche und besonders Kartoffeln zuzubereiten wisse wie niemand. Ich glaube gelesen zu haben, daß er später einem Klub der Gourmets in Paris angehörte. Es scheint also auch schon damals nicht mehr gar so bedeutsam oder für ihn und andere wichtig gewesen zu sein, daß er Bier trinke. Ebensowenig, wie es weiter noch Sinn gehabt hätte, ihn gerade Mystiker zu nennen. Auf einem sehr langen Tisch Louis XVI. lag das Pelzcape jener Frau, die damals das Leben mit ihm teilte, der er seine Bücher widmete und für die er sein erstes richtiges Theaterstück schrieb, und neben dem Pelzcape ein Manuskript, daran er eben geschrieben, da ich eintrat. Es war, wie er mir erklärte, das Manuskript zu La vie des abeilles. Da ist mir, als ich dieses ein wenig mehr ins Auge faßte, etwas aufgefallen: daß er daran schrieb, wie ich einen Brief, einen längeren, schreibe, nicht anders. Er schrieb es einfach hin, seitenweise, so wie man etwas auf einem Geleise vor sich herschiebt. Das Geleise war da. Ich sah es vor mir...
Wie kann man nur in einem Geleise schreiben! Man kann in einem Geleise besitzen, oder man kommt, indem man besitzt, bald und leicht in ein Geleise und bewegt sich in ihm weiter. Man kann aber in einem Geleise nicht entbehren. Wodurch ein gewisser, ja nicht nur ein gewisser, sondern auch ein eminenter Wesensunterschied zwischen Besitzen und Entbehren entsteht und beides zusammen mehr und anderes bedeutet als die positive und negative Seite einer Skala. Und man kann, noch einmal, in einem Geleise nicht schreiben. Man kann

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und man darf es nicht. Ich konnte und durfte es nicht. Oder ich hätte es nur als Seiltänzer können, wenn mir die Natur dazu nicht von Anfang an den Weg verlegt hätte. Indem ich schrieb, so war meine Vorstellung, die mich nie verließ, bewegte ich mich, mit der Feder meinetwegen, in eine andere, in eine neue Dimension, schrieb ich aus der Welt der Gegebenheiten und Besitztümer, schrieb ich mich aber auch aus der Welt des Glücks, glücklicher Gegebenheiten heraus. Nicht flüchtend, sondern darum, weil das Schreiben nur dann und unter solchen Umständen zu allem anderen dazu auch einen Sinn bekäme. So wie Maeterlinck hier schrieb, schreibt man Tautologieen, schreibt man sie gleich in großer Menge. Ich hatte aber die Vorstellung, mehr als das: die Idee, daß ich nur schrieb, um aus der Welt der Tautologieen herauszukommen. Diese Vorstellung und Idee hatte ich zu dieser Zeit, hatte ich in meiner Jugend in einem sehr hohen Grade. Sie war so stark in mir, daß ich auch dem Glück, dem Glücklichsein, dem Besitz auf gewisse Weise die Eigenschaft des Tautologischen zuerkennen mußte. Später fand ich dann den Begriff und die Idee der Imagination für alles das, was sich nicht in einem Geleise vollzieht. Damals aber in meiner Jugend hatte ich sie noch nicht: die Vorstellung der Imagination.

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Ich habe ein Frühstück in Erinnerung, das eine Dame aus der großen Welt in ihrem Palais in der inneren Stadt gab. Es waren außer nächsten Verwandten nur Dichter geladen. Und ich. Die Dame des Hauses selbst hatte sich gelegentlich in patriotischen Stücken versucht, die, glaube ich, an Gedenktagen der Monarchie das eine oder andere Mal auch aufgeführt worden sind. Eines der-

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selben, wurde erzählt, war durch die Anwesenheit des Kaisers ausgezeichnet worden. Zuweilen stand in einer der leitenden Zeitungen, wohin sie dank ihrem illustren Namen leichter Eingang gefunden hatte, als ihrem Talent vielleicht entsprochen hätte, eine Erzählung, darin Hauslehrer und Kammerjungfrauen Sätze zu sagen hatten, die für komisch galten oder gelten sollten. Unter den Gästen befand sich auch der damals berühmteste von Dramatikern der Stadt, einer von den Führern der jungen Wiener Schule, von dem gerade ein Napoleonstück seine Erstaufführung in der ‚Burg‘ erlebt hatte. Das Stück hatte Erfolg gehabt, es erschien mir schlecht, heute ist mir nur noch, aus einer Äußerung des Helden oder zum Helden — das weiß ich nicht mehr — hervorgehend, durchaus sentimentale, auch theatralische, zudem für meinen Geschmack fade Auffassung von menschlicher Größe als einziges im Gedächtnis hängen geblieben. Im Gespräch nach Tisch äußerte nun unser Dramatiker, ohne Zusammenhang mit dem Stück übrigens, daß er im Leben bisher noch keinem großen Menschen begegnet sei, wie sehr auch immer er darauf gepaßt oder sich dazu angestellt hätte. Stets verliere sich der erste Eindruck, sooft dieser auch anfangs vorhanden gewesen sein mochte; nach einer Weile sei dann der ‚große‘ Mann, auf den andere ihn vorzubereiten versucht hätten, kein großer Mann, sondern nicht viel mehr oder nicht anders als andere Leute auch. Eine Zeit lang habe er vor Jahren sich der Meinung hingeben wollen, Mitterwurzer, der sei groß und halte Farbe, oder neben dem käme man nicht auf und fühle sich von Anfang bis zu Ende klein...
Ähnliche Ansichten sind wohl zu allen Zeiten geäußert worden. Bezeichnend erschien und erscheint mir noch, und zwar nicht nur für einen Wiener der neunziger

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Jahre, der sich auch das Paradies nicht ohne Theater und das entsprechende Privatleben von Schauspielern hätte vorstellen wollen, wie der Schauspieler gleich einbezogen wurde bei der Bemessung der menschlichen Größe, ein Umstand, der in den Jahrhunderten der großen Formen unvorstellbar gewesen wäre. Dr. Johnson würde weder im Wachen noch im Träumen auf den Gedanken gekommen sein, Garrick zu den großen Menschen zu zählen oder mit solchen zu vergleichen. Zu den zwei Jahrzehnten vor dem großen Kriege gehört nun nicht nur das dazu, daß darin die allergrößten Schauspieler und Schauspielerinnen vorkamen: Mitterwurzer, die Duse, die Wolter, die Sada Yakko, wobei ich eine ganze Schar der außerordentlichsten auslasse: Kainz, Matkowsky, Sonnenthal, Girardi, Else Lehmann, Baumeister, Robert, sondern eben noch das, daß der Mensch des wirklichen und der des scheinhaften Lebens mit demselben Maß gemessen wurden oder daß, wenn einer große Menschen nannte, Schauspieler darunter vorkommen durften.
Das war nun Individualismus, oder das bestimmt den Individualismus wesentlich. Und das war noch etwas: gegen den Geist der Kirchen, Orthodoxieen und Dogmen welcher Art immer und damit in Verbindung gegen den Geist der großen Formen. Die alle zusammen, Kirche und große Form, das Streben aufweisen, die Individualität innerhalb einer, innerhalb ihrer Ordnung zu fixieren. Der Individualismus jener Zeit nun, zu welcher meine Erinnerung mich zurückführt, hatte es weder verstanden noch auch gewollt, die Individualität zu fixieren.
Angeregt durch den häufigen Besuch des Burgtheaters in meinen Wiener Studentenjahren und später des Deutschen Theaters in Berlin, das mit Recht damals als die

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zweite deutsche Bühne gelten konnte, aufmerksam gemacht durch die Wichtigkeit des Schauspielers im sozialen und geistigen Leben der beiden Städte, vornehmlich Wiens, bin ich sehr bald dazugekommen, mir Gedanken zu machen über die Beziehung der Persönlichkeit zum Schauspieler, allgemeiner: über die Beziehung zwischen dem, der etwas ist, und dem, der es scheint oder spielt.
Viele werden mich hier nicht begreifen, indem sie meinen, mittels einer vernünftigen Auffassung von den Dingen, worauf sie ein Recht hätten, den möglichen Gegensatz, der in dieser angedeuteten Beziehung liege, aus der Welt zu schaffen oder zum mindesten zu ignorieren. Denen sei hiermit die folgende Generalerklärung abgegeben, daß mir die Welt stets oder doch zunächst als eine der Formen und Gestaltungen aufgefallen sei und so mein höchstes, unaufhörliches Staunen erregt habe und nicht als eine in ihren Ursprüngen und Zielen vernünftige oder in den Einrichtungen und Anordnungen ganz und gar vernunftgemäße. Vom Vernunftgemäßen her braucht es uns freilich nicht wunderzunehmen, daß eine große Persönlichkeit des wirklichen Lebens und eine der Bühne nebeneinander bestehen, ohne einander zu genieren, aber die Welt ist nicht ohne weiteres vernünftig oder mittels Vernunftschlüssen aufzudecken. Wenn sie es wäre, würde ich, um ein allernächstes Beispiel anzuführen, keine Zeile im Leben niedergeschrieben und das Ungeformte damit zu formen versucht haben.
Was in den neunziger Jahren und früher als Mystik, Mystizismus gelten wollte und unter gewissen Kautelen gelten konnte, das bestand aus einigen noch sehr vagen Vorstellungen von der genannten Tatsache. Das muß noch eingeschoben und diesem soll noch das folgende an-

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gefügt werden: In jener Anschauung der jungen Wiener Dichterschule, die damals das Interesse der um solche Dinge im Geiste Bekümmerten auf sich gezogen hatte, daß wir nämlich selber die Schauspieler unseres Lebens seien, habe ich unter allen Umständen nur den Ausdruck einer falschen, einer scheinbaren Tiefe und einer trügerischen Vernunft erblicken können, im besonderen Sinne auch kaum mehr als eine jener Tautologieen, wie solche meine Jugend gestört haben, und es ist mir gelungen, zugleich mit der Ablehnung der genannten Anschauung mir jene Idee der ‚Umkehr‘ anzueignen, die letztlich den ‚Inhalt‘ meiner frühen Gleichnisse bildet, welche unter dem Titel Der Tod und die Maske vereinigt sind.
Nachdem ich die zwei kurzen Bemerkungen eingeschoben habe, setze ich fort: die Gedanken also, die ich mir über die Beziehung zwischen dem, der etwas ist, und dem, der es spielt, machte, waren im Grunde dieselben wie jene, die den jungen Rousseau beschäftigten, als er seine berühmte Abhandlung über den Einfluß des Theaters auf die Sitten und den Charakter des Menschen niederschrieb.
Nur besteht der folgende Unterschied zwischen ihm und mir: Rousseau, der Kalvinist, hatte den Mann der Tugend vor Augen und forderte dessen Schutz, ich aber hatte der zugleich geheimnisvolleren und durch Abstammung, Umgebung begrenzteren Persönlichkeit zu gedenken. Rousseau war Moralist mit dem Ziel einer für die ganze Menschheit gültigen Tugendlehre, ich grub, auch hier von der Form ausgehend, unter der Tugend mir einen Raum aus, darin eben jenes Metaphysische, Wenn es so gesagt werden darf, aufgespeichert liegt, in welches die Persönlichkeit ihre Wurzeln senkt. Rousseaus Einstellung kam von jener der ganzen antiken

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Welt bis zu Augustinus eigentümlichen, gemäß welcher oder aus welcher her das Originale und die Nachahmung zwei voneinander getrennte Sphären bilden, und war nur innerhalb einer Welt der großen Formen zu halten gewesen. Der Individualismus hat nun die beiden Sphären der Natur und der Nachahmung durcheinander geworfen, woraus unmittelbar die Gefahr entstehen mußte, daß die Persönlichkeit zum Schauspieler werde, wofür es in den Jahrzehnten vor dem Krieg sehr hervorragende Beispiele gegeben hat, und der Schauspieler wiederum als die zugleich eindringlichste, plausibelste und auch ehrlichste Persönlichkeit übrig bleibe.

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Ich habe das europäische Theater von 1892 an in allen Hauptstädten erlebt, war wiederholt auch Zeuge so im Stil und Geist vollkommener Aufführungen wie jener Molières im Théâtre français oder im Théâtre des Variétés mit der sublimen Lavallière, die sicherlich durch ihre spätere Konversion zu den ergreifendsten Frauengestalten der Jahrhunderte gehört, ich saß in Moskau im Parkett, da Tolstois Lebender Leichnam in Gegenwart der Hinterbliebenen des Dichters als eine Art Totenfeier von der Truppe Stanislawskis zum ersten Male aufgeführt wurde, darin selbst das durch alle anderen Darstellungen des Moskauer Künstlertheaters festgelegte Niveau überschritten wurde und neben welcher mir die deutschen Aufführungen mit ihrer vielgerühmten Darstellung des Helden nur schwer erträglich erschienen. Das größte Theatererlebnis aber waren mir jene beiden Schauspieler, die ich für die größten meiner Zeit, dreist gesprochen, für die größten aller Zeiten halte: Friedrich Mitterwurzer und Eleonora Duse.

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Ich habe sie in allen ihren Rollen gesehen und will jetzt von ihnen in einer Weise reden, welche dem gegenwärtigen Geschlecht vielleicht übertrieben, auf alle Fälle befremdend erscheinen muß, die ich aber trotzdem vor dem Geist der gesamten Kunst, wenn ich mir einen solchen jetzt vorstellen darf, zu verantworten imstande bin. Beide, der Deutsche und die Italienerin, konnten nur in einer Epoche zur Geltung kommen und ihre Kunst auf den denkbar höchsten Gipfel bringen, da Persönlichkeit und Schauspieler sich gegenseitig auf die eben bedachte Art herausforderten. Bisher war der Schauspieler von der Persönlichkeit und umgekehrt diese von jenem durch die gesellschaftliche Ordnung, durch eine das ganze Menschenwesen erfassende Orthodoxie der Sitte getrennt, hier und jetzt aber schlugen beide zusammen, einander durchdringend, und zwar dank der einzigen Genialität der beiden Künstler, dank aber auch dem neuen Sinn, welcher durch sie ihrer Kunst verliehen wurde. Dazu war es in der Tat gekommen, zu dem neuen Sinn, wobei Sinn nichts anderes ist oder sein kann als die vollkommene Auflösung jener zwei Antinomieen des Wirklichen und des Scheins. Solange oder soweit nämlich zwischen den beiden Reichen oder Sphären oder Antinomieen des Wirklichen und des Scheins noch so etwas wie Ordnung, Kaste, Sitte und Orthodoxie dazwischenlag, konnte es nicht zu einer so reinen Sinnbildung kommen. Etwas mußte erst ins Wanken kommen, etwas sich seinem Ende nähern. Und in den neunziger Jahren mit ihrer uns heute sagenhaft erscheinenden Sekurität war etwas ins Wanken gekommen und war zugleich etwas in Bildung begriffen, doch so, daß Erschütterung und Neugestaltung einander noch störten. Störten und trübten im Gebiete der

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ganzen übrigen Kunst, der Dichtung, der Malerei, der Skulptur. Und daneben mußte und durfte mir die Kunst dieser beiden einzigen Mimen als etwas viel Reineres, Schlackenloseres erscheinen, als etwas Vollkommenes und darum Göttliches, weil wir das schlechthin Vollkommene aus unserem Menschentum heraus nicht auf sich beruhen lassen dürfen und dem Göttlichen gleichsetzen müssen, welches Göttliche dann allein in der endgültigen Einigung, in der Ureinheit von Sein und Sinn erblickt werden darf.
Mitterwurzer pflegte zu sagen, er sei mit seiner ganzen Kunst, die ungefähr alle großen Rollen des europäischen Theaters, die tragischen ebensogut wie die komischen, umfaßte, nichts anderes und nicht mehr als solche Gaukler, Feuer- und Schwertschlucker, wie man sie noch in den neunziger Jahren in den Straßen Londons abends bei Fackelbeleuchtung ihre Künste produzieren sehen konnte, und nichts daneben oder darüber: kein Bürger, kein Gentleman, Hofrat, Staatsrat und weiß Gott was sonst noch. Er wollte zum Ursinn der Schauspielkunst durchdringen, und dank seinem Genie gelang ihm mehr: zum Ursinn der dramatischen Kunst durchzudringen, will sagen: zu den Verwandlungen des Dämons.
Ich gedenke seines Franz Moor in den Räubern. In der letzten Szene begann Mitterwurzer plötzlich zu tanzen, in roten Stöckelschuhen zu tanzen, rasend schnell, so daß es aussah, als dränge rotes Feuer aus den Sohlen und mengte sich mit dem Feuer, das aus dem Zimmerboden des brennenden Schlosses und aus den Wänden und Mauern zu lecken anfing. Franz Moor war nicht mehr der von Höllenangst gejagte böse Mensch, sondern der Teufel, der Dämon selber, er war es ganz und gar, bis zu den Fußsohlen herab, daraus das Höllenfeuer

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spitzte, Franz Moor hatte aufgehört als Person zu existieren, und wir im Parkett oder auf der Galerie waren nicht mehr Zuschauer, sondern Mitglieder einer Kultgemeinschaft, welche der Verwandlung eines Dämons, dessen Gaukelei beiwohnt.
Die Verwandlung hätte nicht vor sich gehen können, wenn irgendwie ein Beiläufiges, eine Spur davon, vorhanden gewesen oder übrig geblieben wäre. Das Beiläufige, auch das, was in der Idee von der Bohème liegt oder damit zusammengeht, hat gefehlt, fehlt im Leben und Werk des Genies. Man könnte das Geniale damit definieren: Fehlen alles Beiläufigen, aller Beiläufigkeit.
Damit im Zusammenhang steht dann auf wunderbare Weise das Paradox, die Ironie im Leben des genialen Menschen, welches Paradox und welche Ironie innerhalb einer Welt von Beiläufigkeiten gar nicht hätte aufkommen können. In seiner Todesstunde ist es Mitterwurzer wie durch einen Gnadenakt des Schicksals gelungen, den Sinn seines ganzen Lebens: die Anonymität des Dämonischen, aufzufangen und preiszugeben. Er hatte drei Wohnungen: bei seiner Frau, bei seiner Geliebten und in einem Zimmer des Residenzhotels in der Nähe des Burgtheaters. Dort erkrankte er eines Tages und mußte das Bett hüten. Nachts spürt er Durst und greift statt des Wasserglases die Medizinflasche und trinkt sie aus. Zwischen dem am Gift Sterbenden und dem herbeigeholten Hotelarzt findet das folgende kurze Gespräch statt: Wie heißen Sie? Mitterwurzer. Was sind Sie? Schauspieler. Wo? Am Burgtheater. Worauf der Tod erfolgte.
Indem Mitterwurzer zum Ursinn seiner Kunst strebt und ihn, nichts ahnend, trifft, ging er nicht von irgendeiner Idee aus, vom Pathos des Allgemein-Menschlichen, son-

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dern direkt vom Männlichen, von der zeugenden Kraft desselben, vom Geschlecht. Woraus sich dann ergeben mußte, daß er sich in den anderen verwandelte, und zwar restlos: verwandelte als Eindringender, daß es für seine Kunst keinen anderen Weg gab als diesen: den männlichen der Verwandlung. Während die Duse das Andere in sich, das Theater in ihr Leben, in ihre eigene ungeheure Lebendigkeit verwandelte. Mitterwurzer brachte das ganze Leben auf die Bühne; wohin er trat, war Bühne, Brett, Sprungbrett, der Teppich darauf. Nur Gott war für ihn nicht auf der Bühne. Wenn er, wie das täglich vorkam, in einer der Kirchen Wiens auf den Altarstufen kniete, so war das dann nicht mehr Bühne. Auch indem er fest an ein Wiedersehen mit seinem verstorbenen Töchterchen glaubte, hatte er sich der Bühne, allem Bühnenhaften entzogen.
Die Duse war nicht fromm, sie spielte nicht, sondern sie lebte auf der Bühne, als ob diese der einzige Raum wäre, worauf sie, in welchen Rollen immer, ihr wahres Leben leben könnte. Und wenn in ihr Frömmigkeit war, so konnte diese in gar nichts anderem zum Ausdruck kommen als im wahren Leben einer Rolle. Wo anders hätte sie fromm sein können? In ihrem Leben fehlte dementsprechend ganz und gar das Paradox, die Ironie. Oder war das ihr Paradox, daß sie außerhalb ihres Raumes, fern vom Volk, in der fremdesten Fremde, weit, weit weg in einer grauslichen, rauchigen Stadt Amerikas starb? Oder daß sie die Schauspielerei haßte? Oder daß sie einmal zu einer gemeinsamen Freundin ungefähr so redete: Theater ist Unsinn, alles im Leben ist coucher avec quelqu’un qui vous aime et que vous aimez.
Auch in ihrer Kunst fehlte alles Beiläufige oder war durch sie das Beiläufige für alle Ewigkeit getilgt. Und so allein

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konnte es auch hier zum Verwandlung kommen, zum Mythos, zur Aufhebung des Gegensatzes.
Ich gedenke ihres Spiels in L’altro pericolo, einem französischen Boulevardstück. Darin gab es eine Szene, vor welcher das Publikum aufhörte, Publikum zu sein, sondern einen einzigen Körper bildete, indem buchstäblich jeder dem, der ihm zunächst saß, körperlich näher zu kommen suchte, indem er an ihn heranrückte: um des einen ringförmig-riesigen Körpers willen, zu welchem die eine übermäßige, riesige Empfindung die Menschen jetzt zu schmieden schien. Die Szene ist an sich sehr banal: Die Tochter beginnt zu ahnen, daß ihr Bräutigam der Geliebte der Mutter gewesen sei. Ihre erschrockenen, forschenden Blicke wollen sich zur entscheidenden Frage verdichten. Die Mutter, von der Duse gespielt, will die Frage zurückdrängen, ersticken und schreit, indem sie sich mit ihrem Leib auf die Tochter stürzt, diese mit sich selber und mit der Hand den Mund zudeckend: No, no, no, no.
Das war alles, und das war der größte Schrei, der im Leben je an mein Ohr gedrungen ist; es war die Flamme eines Schreis, was da ausbrach. Und so kam Flamme zu Flamme, Feuer zu Feuer, denn auch das, was aus der Tochter aufzüngelte, Frage, Zweifel, Haß, war Flamme, war wie ein Feuer, plötzlich sich entzündend, das ein Mensch damit löschen will, daß er sich darauf mit seinem ganzen Körper legt. So kam Flamme zu Flamme, Seele zu Seele, der Gegensatz war aufgehoben.

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Ich hatte also damals in Mitte der neunziger Jahre nicht nur das Glück, im selben Jahr und in derselben Stadt den Mitterwurzer und die Duse spielen zu sehen, die sich, um

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das noch zu sagen, so wundervoll in ihrer Art ergänzten, wie sich in indischen Mythen göttliche Wesenheiten oder Prinzipien vom Geschlechtlichen her ergänzen oder wie in den über ganz Indien verstreuten Lingamfiguren das Männliche und Weibliche ineinandergefügt sind, sondern es war mir auch die Gelegenheit geboten, die zwei größten Schauspielerinnen: die Wolter und die Duse, die oft am selben Abend jede in ihrem Theater in Wien spielten, und damit zugleich die zwei Stile der Schauspielkunst zu vergleichen: den idealistischen und den realistischen, welche gerade damals einander ablösten.
In Wien wurde unter den Theaterkundigen der Gesellschaft und der Kritik das Stilproblem damit aufgeworfen, daß die Frage ein wenig zu naiv so gestellt wurde, wer größer sei: die Wolter oder die Duse. Daß die Antwort verschieden, und zwar von Seiten der Älteren zugunsten der Wolter, von seiten der Jüngeren zugunsten der Duse, ausfallen mußte, ist nur zu begreiflich. Ich möchte nach so vielen Jahren nun meine Antwort so geben, daß damit auch ein Prinzipielles jeglicher Kunst hervorgekehrt wird.
Für das Spiel der Wolter war es wesentlich, daß es erstens einem Gesamtkörper eingefügt war, darin sie selber immer nur als Erste unter Gleichen, als Chorführerin im besten Falle, gelten konnte, und daß zweitens in jener Welt, die sich in ihrem Theater spiegeln sollte, Ordnung und Rang gegeben waren, und zwar genau dieselbe Ordnung, welche in der Wolter selber die Schauspielerin von der gesellschaftlichen Persönlichkeit: Bürgerin, Gattin, Geliebte, zu trennen berufen war. Die Wolter war die größte Tragödin in der Ära des Liberalismus, welcher als Übergang vom Idealismus zum Realismus gelten kann und muß. Die Idee und Einzigkeit ihrer Darstellung lag

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nun darin, daß sie die Welt des Maßes, von welcher sie ausging, am Gipfel oder am Ende mit einem ihr allein eigenen Realistischen, mit dem berühmten Schrei, aufriß. Dieser ihr Schrei war Todesschrei, der Schrei der Duse hingegen war nicht Todes-, sondern Lebensschrei, der Schrei einer neuen Geburt, der Schrei der Geburt in eine neue seelisch-geistige Welt. Ich kann die Welten der beiden Künstlerinnen nicht besser charakterisieren als damit, und es bedeutete schon etwas, daß diese beiden Schreie an das Ohr und in die Seele eines sehr jungen und völlig unversierten Menschen dringen konnten und von ihm vernommen wurden.
Versteht man mich, wenn ich sage, daß die Wolter wesentlich Tragödin, die Duse einfach Schauspielerin war? Schauspielerin, die das Leben an sich riß. Die mit ihrer Kunst das Leben auftrank, aufhob. So daß am Schlusse gar nicht mehr zu entscheiden war, wo Kunst anfange, Leben aufhöre, Kunst aufhöre und Leben anfange. Die Wolter mußte aus diesem Grunde mit der Rolle, mit dem Wert des ganzen Stückes wachsen. Die Duse hingegen war in den schlechtesten Stücken am besten und versagte nur einmal ganz: als Kleopatra in Shakespeares Tragödie. Shakespeare gibt unter allen Bedingungen eine Welt mit unverstellbaren, unverrückbaren Maßen. Es ist ganz töricht, ihn maßlos zu nennen. Er ist es ebensowenig, wie die Natur oder die Welt der Gestirne maßlos sind. Maßlosigkeit liegt nur dort vor, wo Kunst und Leben sich aneinander verbrauchen. Und Maß kann aus dieser Maßlosigkeit nur durch eine neue Geburt, aus einer solchen gewonnen werden.
Es gab damals allerhand Stile innerhalb der Schauspielkunst: den Verismus der meisten italienischen Virtuosen Wie Novelli oder Zacconi, den puren Naturalismus, der

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in Berlin gepflegt wurde, aber wie jeder Naturalismus an seiner Armut zugrunde ging, und dann eben den Realismus der Duse, der über sich hinausführte in einen neuen Mythos, und zwar in den der Seele selber. Hier erweist die Duse ihre Verwandtschaft mit den großen Russen wie Gogol, Dostojewski und Tolstoi. Von diesem neuen Mythos, von Mythos überhaupt, war im Spiel der Wolter nichts, denn darin wurden und blieben die Götter- und die Menschenwelt durch das Pathos geschieden. Und ebensowenig wie die Duse je hätte die Verse des Anfangsmonologs der Iphigenie sprechen können, so daß der Zuhörende zum ersten Mal fühlt und begreift, was und warum Verse seien, würde die Wolter die Sätze der Gioconda des d’Annunzio im letzten Akt so haben sagen können, daß Rhetorik zur Dichtkunst erhoben und die Metapher, das Bild als die gegebene Sprache der sich ewig aus sich selbst erneuernden Seele erschien.
Es ist viel über die Bedeutung des Wiener Theaters für Wien selbst und für das alte Österreich geschrieben worden. Es kann nicht geleugnet werden, daß im allgemeinen eine gewisse Beziehung zwischen dem Talent und der Liebe zum Theater und dem Talent oder der Unbegabung zur Politik besteht. Möglicherweise gehen Theater und Politik bei den Italienern und Franzosen besser zusammen als bei den nordischen Völkern. Das England des spätviktorianischen Zeitalters hatte außerordentliche Politiker und dilettantenhafte Schauspieler gezeitigt, unter letzteren den unleidlichen Virtuosen Henri Irving, dessen Shylock von den vielen, die ich gesehen, der schlechteste war. Nach dem Weltkrieg scheint sich hier das Verhältnis zugunsten der Schauspieler ein wenig verschoben zu haben. So wie das Wiener Theater in meiner Jugend nun einmal war, sind davon der Katholizismus,

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der Hof, die Gesellschaft nicht wegzudenken und mußte es einer Generation wie jener nach dem Weltkrieg fremd werden. In der herrlichen Fidelio-Aufführung zum hundertsten Todestage Beethovens unter Franz Schalk mit Lotte Lehmann in der Titelrolle sehe ich den letzten Versuch, an die große Tradition des Wiener Theaters anzuknüpfen.
Die Jugend von heute steht dem Individualismus mit dessen Kult des Schauspiels und der Schauspieler fremd, wenn nicht feindlich gegenüber. An Stelle des Individualismus mit seinen Erziehungsmöglichkeiten und Erziehungswilligkeiten durch das Theater ist das Verhältnis des einzelnen zum Kollektiv, des Führers zur Volksgemeinschaft getreten. Da ich hier meine Erinnerungen an lang Vergangenes niederschreibe, habe ich auf dieses Verhältnis nicht einzugehen. Nur eines soll bemerkt werden: Im Moskauer Künstlertheater war schon vor dem Weltkrieg eine Spur von dem Kollektivismus einer kommenden Zeit zu verfolgen. Ich habe Tschechows Onkel Wanja, auch um mein Ohr an das Russische mehr und mehr zu gewöhnen, wenn ich nicht irre, fünfmal hintereinander oder in den allerkürzesten Pausen gesehen und wahrnehmen können, daß jede Aufführung an sich vollkommen und eine der anderen gleich, ja mit ihr bis ins Allerkleinste hinein identisch war. Ohne mich hier über das Prinzipielle einer solchen Behandlung von Stück und Schauspieler entscheiden zu wollen, möchte ich doch auch darin den Grund dafür sehen, warum im Rußland von heute nach der Aussage aller, die von dort kommen, das Theater allein von allen öffentlichen und privaten Unternehmungen seinen Rang behauptet hat.
Man könnte von da aus, von der Stellung des Schauspielers innerhalb des Kollektivismus, eine neue Staats-

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lehre schreiben, die sich in manchem als das Gegenstück zu jener platonischen erweisen müßte, welche, roh gesprochen, davon ausgeht, daß Dichter und Schauspieler lügen. Wer lügt nun und wer lügt nicht innerhalb eines puren Kollektivums? Ist der Schauspieler darin überhaupt noch Schauspieler im Sinn eines nachahmenden Wesens? Und ist hier nicht vielmehr jede mögliche Originalität welcher Art immer vom Schauspieler untrennbar? Das Theater Meyerholds, das ich nach dem Kriege in Paris gesehen habe, basiert irgendwie auf dem genannten Vollkommenheitsprinzip Stanislawskis. Der Schauspieler spielt im kommunistischen Theater nicht mehr das Dichtwerk, sondern er spielt mit demselben. Er stellt sich über den Dichter. Die Welt mündet in ihn oder endet darin. Der Schauspieler darf darum die Spitze einer Pyramide ohne Basis genannt werden.

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Hatte der Individualist der neunziger Jahre Lehrer? Oder hatte er nicht am Anfang der Lehrzeit wenigstens gerne und leicht die falschen? So daß er meist nur auf Umwegen zum Richtigen und Anerkennenswerten gelangen konnte. Die Idee einer Disziplin war durch den Liberalismus sehr verblaßt, der Individualist stand ihr in gewissem Sinne direkt feindlich gegenüber. Ich habe aus den ‚falschen‘ Büchern sicherlich mehr gelernt als aus den ‚richtigen‘. Alle Orthodoxie beruht zuletzt darauf, daß es Verführung nur zum Schlechten oder Falschen gebe. So ein Individualist aber hatte irgendwie das Gefühl, daß es Verführung auch zum Guten geben dürfe und müsse.
An der Wiener Universität fehlte ich durch zwei Jahre hindurch in keiner Vorlesung von Alfred Freiherrn von Berger, einem geistreichen Mann und ganz außerordent-

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lichen Redner, der alles auf das Theater bezog, für den die ganze Welt um des Theaters willen geschaffen schien. Ich bin nur einmal aus seinem Kolleg ausgeblieben, als dieses Leonardo da Vincis Traktat von der Malerei behandelte. Hier war der Theatermann nur deplorabel, denn bei Leonardo kann durchaus nichts auf das Theater bezogen werden. Berger war sehr geistreich oder was man damals gerne so nannte, offenbar aber genügt das Geistreiche allein nicht, um endgültig einzusehen, daß von allen großen Künstlern der Erde in Leonardo da Vinci am wenigsten Theater ist. Hingegen hat Berger als geistreicher Mann eines verstanden, was mir das ganze Leben lang versagt blieb: um ein einziges Aperçu herum oder, wenn man es so vorzieht: darüber oder darunter eine ganze Vorlesung von dreiviertel Stunde anzulegen. Ich habe das damals sehr bewundert, wohl wissend, daß ich die Fähigkeit dazu nie erlangen würde. Zuweilen war wohl das geistreiche Aperçu nicht mehr als das folgende in einer Vorlesung über Shakespeares Sommernachtstraum: daß uns allen, so wie wir nun einmal sind, sitzen oder stehen, Puck den Saft der Blume Love in Idleness, ‚Liebe im Müßiggang‘, in die Augen träufle, damit jeder von uns sich dann gleich Titanien in ein Monstrum mit einem Eselskopf verliebe. Vielleicht erscheint dieses Aperçu heute manchen nicht mehr allzu geistreich, und das müßte hingenommen werden. Wie wurde es aber am Schluß der Vorlesung, diese vorzeitig beendigend, gebracht! Mit einem Lächeln, das in einem stimmreichen, mit einem mannigfaltigen Kehlhals versehenen Schlund auf und ab zu fahren und den Kehlhals oder Kehlbraten ausgiebig zu schütteln hatte, mit einem Auge, das nur mehr noch im allgemeinen verweilen wollte, nicht ohne Selbstgefälligkeit ein ebenso entzücktes wie überzeugtes Audi-

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torium rasch überblickend, und mit einer Gebärde der nach der Saaldecke zu geöffneten linken Hand, die in die Gegend des Magens postiert wurde und folgendes ausdrücken sollte: Was ich da behaupte, ist abgewogen und ein für allemal so sichergestellt, daß wir es ruhig mit nach Hause nehmen und dort pflegen dürfen. Und ist zudem eine Wahrheit, derentwegen ein Mensch sich nicht erst zerreißen muß, sondern bleibt, was er ist. Das sollte sie ausdrücken, die Gebärde der linken Hand, in der Gegend des Magens postiert, nach oben geöffnet.
Die neunzigerjahre bedeuten neben manchem anderen — den letzten Jahren der Herrschaft des Pferdes vor dem Motor etwa — den sehr allmählichen Übergang von der streng wissenschaftlichen, naturwissenschaftlichen, kausalen Methode zu einer geistesgeschichtlichen Konzeption der Dinge. Als Gerhart Hauptmann wieder einmal einen der damals zu vergebenden Dichter- oder Dramatikerpreise oder auch denselben zum zweiten Male erhielt und dementsprechend gefeiert wurde, begrüßte ihn einer der Leuchten der Wiener Universität, der große Geologe E. Sueß, erinnere ich mich, mit einer Rede, darin er zu eigener Befriedigung, wohl auch zur Zufriedenheit des Gefeierten darzulegen versuchte, wie beide, der Dichter und der Mann der Wissenschaft, mit demselben Instrument, will sagen: mit der kausalen Methode, jeder in seinen Gegenstand einzudringen suchen, diesen bloßlegend, der Geologe Erdschichten, der Dichter den Fuhrmann Henschel oder das Rautendelein. Eine solche Auffassung vom Dichterischen, uns heute grotesk anmutend, war damals möglich, als man noch von einer Versöhnung von Glauben und Wissen durch irgendein Mittleres, Akzeptables oder von einer Eroberung der Glaubensgebiete

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durch das Wissen redete und der Pfarrer von Kirchfeld als tragisch empfunden wurde.
Ich hatte allerhand Kollegs belegt, geschichtliche, sprach- und literaturwissenschaftliche, auch, wie erwähnt, ästhetische. In meinem Inskriptionsbuch finde ich ein einstündiges über Byrons Kain, das ein Dozent der Philosophie hielt. Es muß darin wohl auch um das Thema Glauben und Wissen gegangen sein. Die neunziger Jahre sind dadurch gekennzeichnet, daß man in ihnen zum letzten Mal Inhalt und Form einer Dichtung zu trennen und die Dichtung als Substrat eines Gedankengebäudes hinzunehmen wagte, was alles auf die große Antinomie des Liberalismus: Glauben und Wissen betreffend, zurückgeführt werden darf. Ich muß das Geständnis ablegen, daß ich niemals ein philosophisches Kolleg zu Ende gehört oder ein Lehrbuch der Psychologie in der Hand gehabt habe. Was neben offenbaren Nachteilen den einen Vorteil hatte, daß ich eine ganz primitive Stellung zu allen Fragen der Philosophie lange bewahren durfte, daß ferner so einfache Angelegenheiten derselben wie etwa der Satz des Widerspruchs von mir und für mich entdeckt oder gar erfunden werden mußten. Die Sprache in Zahl und Gesicht kann nur verstehen und einsehen, wer fühlt, daß Philosophie für mich ebenso ein Geisteserlebnis wurde und nach meiner Anlage werden mußte wie für die griechischen Philosophen des 6. Jahrhunderts vor Christus.
Ich habe, um darauf noch einmal zu kommen, zu keiner Zeit unter dem Konflikt von Glauben und Wissen gelitten, ja diesen auch nur nachzufühlen vermocht. Irgend etwas in Byrons Kain oder in Renans Das Leben Jesu schien mir nur aufgeschwollen und mit Nichts, mit Leerem angefüllt. Die Zeit war dafür schon vorbei. Aber

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gerade darum, weil ich die Konflikte und Scheinlösungen eines Renan nicht mehr empfinden und hinnehmen mochte, mußte es mir in der Philosophie einzig und allein darauf ankommen, das Primitive oder Leidenschaftliche mit dem Geistigen zu vereinigen, damit ein Ganzes und ein Lebendiges da sei. Ich habe zu allen Zeiten die banale Gegensätzlichkeit von Sinnlichkeit und Geist, wie sie von der Jungdeutschen Schule, die Antinomie: Griechentum und Christentum, wie sie von Heinrich Heine affichiert wurde, unverbindlich, unleidlich gefunden, darin durchaus ein Ergebnis eines flachen Denkens und Empfindens gesehen und darum auch gehaßt. Je sinnlicher, um so geistiger — so schien es mir richtig. Und zwar schon zu einer Zeit, da ich noch lange nicht wußte, daß das Wesentliche einer solchen Spannung zwischen Sinnlichkeit und Geistigkeit eben jene Einbildungskraft ausmache, ohne welche Sinnen- und Geisteswelt auseinanderfallen müßten oder niemals zusammengekommen wären.
Aus der eminenten Bedeutung, welche die Idee der Einbildungskraft für mich und jenes Weltbild erlangte, das sich in mir formen sollte im Laufe eines Menschenalters, ergibt sich zweierlei: Erstens, daß ich, noch einmal, nie unter der sogenannten Unversöhnlichkeit von Glauben und Wissen zu leiden hatte, und zweitens, daß mich das Ideal vieler junger Leute aus meiner Jugendzeit, das Ideal: zugleich tiefsinnig und, um einen Nestroyschen Ausdruck zu gebrauchen, ein verfluchter Kerl zu sein, nicht zu kaptivieren oder auch nur zu beunruhigen vermocht hat, da ich wohl fühlte, daß es auch hier auf wahre Einbildungskraft ankommen müsse, wenn der Tiefsinn und der ‚verfluchte Kerl‘ nicht alsogleich auseinanderfliegen sollen, daß also in keinem Fall mit Summierungen

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etwas erreicht würde. Sollte doch mit meiner Idee von der Einbildungskraft schließlich nicht mehr, aber auch nicht weniger behauptet werden, als daß Summierungen nicht gelten oder man mit ihnen nicht weiter- oder aus den Kulissen des Lebens herauskomme.
Die Methode jener Wissenschaft, darin ich meine Doktorprüfung gemacht und das Doktorat der Philosophie freilich bloß mit Mehrstimmigkeit erlangt habe, war wie alle anderen, die streng wissenschaftlich gehandhabt werden sollten, die kausal-genetische, welche im speziellen Falle etwa in solchen Fragen zusammengefaßt werden konnte: Woher hat der Autor, Goethe oder sonst einer, den Stoff? Wie wurde derselbe Stoff von anderen Autoren welcher Größenklasse immer, auch von ganz minimen, behandelt? Woher kam der Stoff überhaupt? Welcher Einfluß liegt bei diesem oder jenem Werk vor, wenn wir endlich vom Stoff absehen? Gibt es noch etwas anderes auf der Welt als Stoff und Einfluß? Welche Frau also hat Goethe am meisten geliebt, und von welcher wurde er am meisten geliebt? Hat er es selber noch genau gewußt, als er sich darüber nach Verlauf einer geraumen Zeit zu anderen mündlich oder schriftlich äußerte? Oder können wir erst so etwas ganz richtig wissen und uns dabei beruhigen?
Das Fazit einer ausgiebigen Behandlung von Stoff und Einfluß waren dann langwierige Inhaltsangaben von solchen Romanen und Dramen aus allen Jahrhunderten, die ein Mensch nur zur Strafe für allerlei Begehungs- oder Unterlassungssünden zu Ende lesen könnte. So mußte ich in einem Kolleg über das Drama des 19. Jahrhunderts Inhaltsangaben der meisten Stücke von Kotzebue oder doch sehr vieler davon mitschreiben oder anhören. Die wichtigste von allen Fragen aber war die

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nach dem Einfluß. Es sah manchmal so aus, als ob der Einfluß dazu bestimmt wäre, jede Inspiration niederzuhalten gleich von Anfang an, oder als ob es ohne Einfluß zu gar nichts hätte kommen können auf Erden oder wir samt dem Professor, wenn es diesen Einfluß nicht gäbe, nicht erst ins Kolleg zu gehen brauchten und jeder hübsch zu Hause bleiben könnte, was meinerseits freilich oft genug auch geschah.
Was gänzlich fehlte in den Auseinandersetzungen der Professoren, war die Idee der Form, war das Formsehen, die Einsicht, daß Form vor Einfluß gehe und die Welt nicht des Einflusses, sondern der Form wegen geschaffen wurde, daß Form und Art in verschiedenen Reihen korrespondieren. Noch behauptete der Darwinismus die Herrschaft über die Köpfe der Gelehrten und Laien, und das Forschen nach Einflüssen war letztlich nichts anderes als Darwinismus, auf das Gebiet der Geisteswissenschaften übertragen. Dieser war in der Tat zum Dogma geworden, ja man hatte sogar ein Wort gefunden, welches das Dogmatische der Angelegenheit besser zu fixieren vermochte: Monismus. Jeder große Geist der vergangenen Jahrhunderte wurde auf seinen möglichen Monismus hin geprüft, und Goethe galt vielen sogar als einer unter den Erzvätern desselben. Die Annahme oder das Bekenntnis oder die Aussicht, alles zusammen: daß die Schwere eines Steines, der auf der Straße liege oder von einem Knaben geworfen werde, und der Wille des Menschen ein und dasselbe seien oder der weiteren Forschung im Verlaufe des Fortschrittes sich als ein und dasselbe erweisen würden ganz am Ende, bedeutete schon Seligkeit oder zum mindesten Vorwegnahme derselben, kürzer gesagt: den Himmel auf Erden. Was sollte da noch Art und Form?

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Ich bin niemals Darwinist oder gar Monist gewesen, ich bin höchstens einmal vor einem Monisten sehr erschrokken, als dieser in einer Gesellschaft harmloser Menschen, Frauen und Männer, die Tee tranken und Sandwiches dazu aßen, erklärte: Auch wir Monisten haben, 1848 auf den Barrikaden stehend, unser Leben opfern wollen und in der Tat auch geopfert. Genau so wie Jesus. Wo ist da cm Unterschied? Es soll einer aufstehen und den Unterschied aufzeigen!
Niemand ist damals aufgestanden von den Teetrinkenden, auch ich bin sitzen geblieben. Aus Feigheit oder um des großen Schreckens willen, den mir der Monist mit seiner überaus endgültigen oder endgültig scheinenden Erklärung über die Einheit oder Einigung zwischen ihm selber oder einem aus seiner Schar von Gesinnungsgenossen und Jesus Christus einjagte.
Obgleich aber dieser wahrhafte Schrecken meine Erkenntnis hätte beschleunigen müssen und wohl auch beschleunigt hatte, bin ich doch erst im Laufe der Jahre allmählich darauf gekommen, daß, wenn die Welt tatsächlich nach dem Prinzipe Darwins entstanden, oder auch so: wenn, populär und zugleich monistisch ausgedrückt, alles eines wäre und einem jeden von den auf Barrikaden herumpuffenden Männern nur durch Zufall die Kraft gefehlt hätte, durch Jahrtausende als Symbol zu wirken, daß dann, sage ich, auf Erden lauter Schimären umherlaufen oder -hüpfen müßten, veritable Zwischenfälle, Zwischenglieder, Summierungen von Eigenschaften, Summen, die sich bewegen könnten, ohne daß dabei in einem fort Eigenschaften abfielen und die Summierung zuletzt ganz verloren ginge, aber keine Gebilde. Oder auch, aufs Geistig-Sittlich-Politische übergehend, Narren, denen man die Waffen aus der Hand zu nehmen hat und

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die in Isolierzellen gehören. Darauf bin ich, noch einmal, erst allmählich gekommen, ebenso wie zu meiner Konzeption der Einbildungskraft, ohne welche es weder Gestalt, Spannung zwischen Art und Einzelwesen, Inhalt und Form geben würde, noch auch einen wesentlichen Unterschied zwischen Jesus Christus am Kreuz und dem ersten besten oder meinetwegen: dem besten, dem tapfersten Barrikadenkämpfer von Anno 1848. Ein Monist hat keine Einbildungskraft. Kräftiger ausgedrückt: in Rücksicht auf Einbildungskraft ist er ein Entmannter und der Zeugung Unfähiger. Einbildungskraft ist für ihn Illusion, Verführung, Distanz, Nichthaben, Fehlen, Massenwirkung und Konfusion.
In Berlin hospitierte ich eine Zeit lang in den Vorlesungen über Geschichte der Philosophie von Dilthey. Ich kam nicht ganz mit, weil mir auch hier die notwendige Vorbildung dazu gefehlt hat. Mit dem Namen Dilthey wird der Einbruch der geisteswissenschaftlichen Methode verbunden, doch fehlte ihm nach meinem Dafürhalten ebenso wie Henri Bergson der wahre Begriff von der Form, und zwar darum, weil er den wahren von der Einbildungskraft nicht besaß. Dilthey war noch zu sehr auf Psychologie eingestellt, auf psychologische Inhalte, möchte ich sagen, suchte dort, wo sich ihm ein Spalt oder Loch zu bieten schien, einzuschlüpfen und sah nicht. Form muß gesehen, geschaut werden, zur Form gehört die Distanz dazu. Form darf nicht eingerissen werden. Form hat nirgendwo ein Loch oder einen Spalt oder eine Ritze, in die einer hineinkann wie ein blutdürstiges Frettchen in einen Kaninchenbau. Geschichte wird darum erst durch die Einbildungskraft des Menschen zur Idee, will sagen: zu mehr als einem Verlauf oder Ablauf von Ereignissen, zu mehr als einer Summierung von Ereignissen in der Zeit.

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Diltheys Auge hatte den kahlen Blick eines solchen Frettchens, den kahlen Blick dessen, der eindringen, einschlüpfen und drinnen meinetwegen auch etwas wüsten will. Sein Auge war nicht das des Sehers mit der Seherdistanz zu den Dingen, sondern es war so, wie wenn ein Werkzeug einmal Augen bekommen hätte, richtige Werkzeugaugen. Und dazu paßte der feste, gedrungene, kleine Kopf mit dem kurz geschnittenen Haar und das zusammengeraffte Gesicht, das nicht feurig war, aber doch aussah wie etwas, das im Feuer gelegen hatte und dann ausgekühlt war. Und dem entsprach seine Rede. Wie riß er darin und damit nicht bei Spinoza das Richtige vom Unrichtigen weg oder von dem, was ihm so schien! Wie grausam, mit wie kahlem, unsehendem Blick, den Körper nach vorne geneigt, als ob er auch damit der Sache näher rückte und sie besser in die Hände bekäme!
Sein Antipode schien mir Herman Grimm. Ganz ohne Methode, auch nicht bemüht um eine, aus einer sehr hohen Kultur heraus zu uns redend, sich auf Goethe berufend, auf Emerson, auf seinen Vater, auf Kaiser Wilhelm und Kaiserin Augusta, vieles durcheinander werfend und doch wiederum dann dank seiner großen Vornehmheit auseinanderhaltend. Er las damals ein Kolleg über das Porträt. Als Gottfried Kellers Porträt von Stauffer-Bern auf die Wand projiziert wurde, sagte er nur: Sieht er nicht aus wie einer, der nach Tabak riecht?
Im selben Saale wie Dilthey, wenn mich mein Gedächtnis nach zweiundvierzig Jahren hier nicht im Stich läßt, nach oder vor ihm hörte ich Heinrich von Treitschke. Sein Auge war nicht so sehr sehend wie trunken. Das War es in der Tat. Von allen meinen Lehrern auf beiden Universitäten die einzige große Persönlichkeit, ein tyrtäischer Mann. Die Trunkenheit seiner braunen Augen

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ward noch durch das Taube des Profils erhöht und wirkte darum unmittelbar ergreifend. Treitschkes Erscheinung und Rede ist sicherlich von vielen seiner Hörer in Briefen und Erinnerungen festgehalten, letztere gelegentlich auch nachgeahmt worden von Virtuosen der Nachahmung: wie sich die unartikulierten Laute eines, der sich selber zu hören nicht imstande ist, erst allmählich im Mund, der voll schien von solchen, als wären es große Kerne, zu Wörtern formten und als Wörter und Sätze herauskamen, während er im dunklen Jackett am Katheder stand, seine braunen, etwas durchfetteten Glacéhandschuhe aufknöpfend und nicht ohne eine gewisse Anstrengung von den kleinen, dicken, geröteten Händen ziehend. Gerötet war sein starker Hals, waren die ungeformten Backen, auch die ein wenig dickhäutige Stirn, das gräuliche Haar völlig ungelockt und fett glänzend. Alles an ihm schien gedrungen und nicht gelöst. Wie mir schien, um der Trunkenheit des Auges und des tauben Gehöres willen. Auge und Ohr vertrugen sich bei ihm sozusagen erst im Mund, der zugleich beredt und geschwollen schien. Seine Rede war voller Ausfälle, im besonderen gegen England, gegen die Königin Viktoria, die er auf eine ganz ungehörige Weise der Neigung zum Trunke zieh, gegen Österreich, vornehmlich gegen Wien, gegen Metternich, gegen alle kleinen Staaten. Seine Bewunderung galt außer Preußen den Franzosen, Cavour, aber auch den Magyaren und ein ganz klein wenig den Tschechen, zum mindesten deren hussitischer Vergangenheit und soweit sie in Opposition zu Wien oder den ‚backhändelessenden‘ Österreichern gestanden hatten. Sein Abgott war Friedrich der Große, dessen Vater er einmal ein ‚borniertes Genie‘ nannte. Es fehlte ihm aber darum nicht an Mut dem preußischen Königshause gegenüber. Er sprach in

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einem seiner letzten Kollegs wenige Tage vor seinem Tode einmal von der ‚traditionellen Undankbarkeit‘ der Hohenzollern, von welcher er allein Friedrich II. ausgenommen wissen wollte.
Treitschkes Familie kam, wie ich erst viel später gehört habe, aus Deutschböhmen, aus dem Siedlungsgebiet, das heute Sudetendeutschland genannt wird und aus dem die Vorfahren Rainer Maria Rilkes stammten.¹ Mein Vater war nach Südmähren gezogen und hat sich in einem östlich von der Thaya gelegenen Gebiet unweit von den Pollauer Bergen mitten unter Slawen niedergelassen, ein großer Landwirt und Mann der Zuckerrübe. Meine Onkel und Vettern väterlicher- und mütterlicherseits lebten in beiden Schlesien auf größeren oder kleineren Gütern, waren deutschnational gesinnt und hielten zu Bismarck.

¹ Ich habe schon einmal in der Quadratur des Zirkels (Das physiognomische Weltbild) von meiner Herkunft gesprochen und füge hier noch das Folgende bei: Aus den von einem meiner schlesischen Vettern durchforschten Kirchenbüchern jenes Zipfels des alten Österreich-Schlesiens, das nordwestlich von Jauernig sich in das Preußische hineinspitzt, ergibt sich, daß alle Latzels, meine Vorfahren mütterlicherseits, Bauern waren bis ins 15. Jahrhundert herunter, und zwar ganz ausnahmslos. Von der Mitte des 19. Jahrhunderts an und schon früher gab es dort wenig Dörfer, darin nicht neben meinem Großvater einer von meinen vielen Onkeln, Großonkeln ein mehr oder weniger großes oder kleines Gut mit einem Herrenhaus besaß. Die Vorfahren meines Vaters waren Bürger, Kaufleute, Beamte kleiner Städte in den angrenzenden Kreisen des preußischen Schlesiens, und es scheint, daß jeder von ihnen etwas Grund und Boden vor den Toren der Städtchen sein eigen nennen durfte. Mein Vater war, nach Mähren ziehend, am weitesten nach dem Süden gelangt und war noch, bevor ich geboren wurde, Österreicher geworden und hatte sich als Österreicher gefühlt; er liegt in Groß-Pawlowitz begraben. Seine beiden Schwiegersöhne, die Söhne des älteren von beiden, meine Schwäger und Neffen, hatten und haben noch hohe Posten im deutschen Heere inne, so daß es den Anschein haben könnte, als hätte er sich damit von seinem Vaterland losgekauft.


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Ein Bruder meiner Mutter, der Schönererpartei im österreichischen Abgeordnetenhaus angehörend, hatte an einer der Pilgerfahrten des Parteiführers nach Friedrichsruh teilgenommen, wohl kaum ahnend, daß nach vielen, vielen Jahren einmal einer seiner Neffen lange nach dem Tode des gewaltigen Mannes der edelsten Gastfreundschaft an dieser Pilgerstätte der Deutschen genießen sollte. Wir Mährer aber, nahe von Wien in dessen Bannkreis lebend und dem großen Einfluß und der Einwirkung der über alle Vorstellung zauberhaften Stadt von damals unterliegend, waren mehr österreichisch gesinnt und hatten heftige Kämpfe mit unseren schlesischen Vettern zu bestehen. Und doch war es Treitschke und dessen hinreißender Beredsamkeit gelungen, mir das alte Preußen und Friedrich II., auch dessen Vater, eben das ‚bornierte Genie‘, nahe zu bringen und mich das alles so fühlen zu lassen, wie er wollte, daß es von jungen Menschen, jungen Deutschen gefühlt werde.

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Aus Treitschkes Mund ist zum ersten Mal in meinem Leben das Wort Macht an mein Ohr gedrungen. Es ist in der Tat so gewesen, wie ich es niederschreibe: ich hatte das Wort vorher nicht zu hören bekommen. Es war unterschlagen, verschwiegen, umgangen worden in den Jahrzehnten des Liberalismus. Oder es hatte sich für den Österreicher im Begriff der habsburgischen Hausmacht verhärtet. Ich weiß nun sehr genau, wie mich das Wort und der Begriff Macht samt allem, was daran hing, betroffen machte, ich habe da etwas Neues gefühlt, eine neue Idee von beträchtlicher Durchschlagskraft, ich empfand darin einen neuen Lebensstil, eine größere ‚Aufrichtigkeit‘. Das war überhaupt ein Wort, das ich im

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Umgang mit mir selber oft im Sinne und im Verkehr mit anderen im Munde führte: aufrichtig, Aufrichtigkeit. Darunter ging dann allerlei Disparates: die durch Ruskin verbreitete Idee von der Echtheit des Materials, woraus das groteske Mißverständnis der ganzen Kunst des 18. Jahrhunderts hervorging, der Realismus mit seiner Unbilligkeit gegen das, was etwa Schillers Art ausmacht, die Abneigung gegen falsche, unechte Metaphern in der Dichtkunst, gegen eine Metaphorik, die nicht aus der Sprache selbst gezogen ist, gegen eine Dichtkunst, die neben dem Leben einherginge und dieses nicht in sich aufnähme. ‚Aufrichtig‘ schienen mir also: Ruskin, die sehr überschätzten Präraffaeliten, die großen Russen, Treitschkes Apologie der Macht und der Mächtigen, aber auch Hofmannsthals frühe Gedichte, darin die Metapher das primär Gegebene und nicht die Verkleidung von etwas anderem vorstellte. Ich weiß heute noch, wie um die Jahrhundertwende André Gide im Gespräch mit mir sich gegen diesen meinen Begriff der Aufrichtigkeit (sincère) kehrte und ihn gar nicht aufgenommen haben wollte in das Vokabular seiner, meiner, unser aller, kurz der neuen Ästhetik. Sicher ist, daß die Franzosen darum einen anderen Begriff von Aufrichtigkeit besitzen, weil sie einen anderen von Konvention haben. Das, was bei ihnen artiste heißt, beruht auf der Einigung, Einheit des ‚Aufrichtigen‘ und des Konventionellen. In diesem Sinne müssen die Deutschen, wenn sie wirken wollen, ‚aufrichtiger‘ sein, weil ihnen jede Konvention fehlt oder weil sich bei ihnen Konvention und Mittelmäßigkeit decken. Oder in diesem Sinne gelingt es ihnen leichter, sich selber als andere zu belügen.
Auf eine zauberhafte Art und Weise, unser Staunen nie erschöpfend, sind Macht und Konvention im Barock in-

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einandergeschlungen. In den neunziger Jahren aber war das Barock noch nicht so eingesehen wie später, war es weder von den englischen Ästhetikern noch von Treitschke, schon gar nicht von den Franzosen verstanden, am allerwenigsten aber von Carlyle. Der damals noch, zum letzten Male, wie es scheinen möchte, Einfluß ausübte auf junge Menschen. Es kann in der Tat so formuliert werden, daß die Macht des Schotten nicht nur über mich, sondern mehr oder weniger über alle im europäischen Geistesleben zu sinken begann, da ein besseres Verständnis des Barock und damit des Katholischen, auch des magischen Elementes in allem Religiösen aufkam. Der Held (hero) Carlyles mit seinen Ansprüchen auf Verehrung, auch sein Ableger, Emersons ‚repräsentativer Mensch‘, sind beide etwas gänzlich Unbarockes, ja dem Barocken Feindliches. Eine Figur wie die des Prinzen Eugen ist damals unverstanden geblieben. Es gehört zu den Paradoxieen des Geschichtlich-Menschlichen, daß man die Idee des Barock in dem Maße besser erfaßte, ja dieses um so mehr liebte, als der von Gott erkorene Träger desselben, das alte Österreich, sich seinem Untergang näherte.
Wer hat, um das an dieser Stelle einer Schrift, der Erinnerung geweiht, vorzubringen, wer hat den lebendigen Zusammenhang von Männern und Ideen der Geschichte, wer hat somit Geschichte im einzigsten Sinne so erleben können wie die Menschen, welche gleich mir heute zwischen sechzig und siebzig in der Mitte stehen? Niemand, auch nicht die Menschen um 1793 oder 1815 oder 1648 oder 1517. Aus einem bestimmten religiösen Empfinden heraus habe ich mich dagegen gesträubt im Geiste, Geschichte und Tragödie zusammenzukoppeln, vom Tragischen des geschichtlichen Verlaufes zu reden, aber so viel muß denen, welche das Tragische aller Geschichte

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gerne apostrophieren, zugestanden werden, daß Geschichte noch niemals vorher der Tragödie so ähnlich gesehen habe. Auf alle Fälle steht fest, daß Umkehr, Peripetie Erscheinungen des Tragischen bedeuten. Nun behaupte ich, daß die bessere Einsicht aus dem Machtmenschen des scheidenden 19. Jahrhunderts, aus dessen Idee, aus Bismarck, dem hero Carlyles, den ‚Geschichte bildenden‘ großen Männern Heinrich von Treitschkes und den neuen Herrschaftsformen, der deutlichere Begriff davon, zwischen ihnen liegt: im Barockmenschen, — daß sich gleichsam an ihm, am Menschen des Barocks, wenn wir ihn richtig sehen, an dessen Bild, rein zeitlich genommen, jene Wendung vom einen ins andere vollzogen hat. Wovon eine von mir angedeutete Staatslehre später handeln soll.
Der Unterschied zwischen unserer Zeit und jener um das Jahr eins aber ist der, daß die Menschen damals, als aus der Zeit selber der Glauben geboren ward, die Zeit, welche sie lebten, die Geschichte als solche nicht einsehen konnten. Wohl um eben des Glaubens willen, der damals der Menschenzeit entsprungen ist.

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Treitschkes Vorlesungen dürfen für mich als eine Art Vorbereitung für Nietzsche gelten, wozu gleich bemerkt werden soll, daß damals um 1895 herum weder der Lehrer noch der Schüler von Nietzsche viel mehr als den Namen wußten. Treitschkes Machtbegriff war ein rein politischer, in keinem Widerspruch befindlich mit der Idee von der Freiheit des einzelnen Individuums, hervorgegangen aus der Vielfältigkeit des geschichtlichen Lebens, der verschiedenen Begabung und geographischen Lage der Völker. Treitschkes Machtbegriff war gegen die politische

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Utopie, gegen das Utopische im Liberalismus, auch im reinen Idealisten, war letztlich nur ein prägnanter Ausdruck für Realismus, Realpolitik und so weiter.
Nietzsches Machtbegriff hat ungleich tiefer gehende Wurzeln und kommt direkt aus Schopenhauers Willensbegriff. Ich habe mich im Innern sehr lange gegen Nietzsches Willen zur Macht gewehrt und darin eine Verflachung oder, wie ich mich damals ausdrückte, eine Allegorie des Schopenhauerschen Willens zum Leben sehen wollen, bis ich gefunden habe, und zwar spät, da ich lange, lange Nietzsches Bücher nicht in die Hand genommen, daß er, so wie er ist, herauswächst, herausragt aus Nietzsches besonderem Nihilismus: Es gibt keine Wahrheiten, oder daß er darin steckt wie eine Fahnenstange mit flatterndem Wimpel im Gemäuer eines alten Turmes. Nietzsches Nihilismus ist ein deutscher Nihilismus, die leidenschaftliche, die gereizte Leugnung einer metaphysischen Welt, und darf nicht mit dem russischen verwechselt werden, der tiefere Schichten des Menschlichen aufgedeckt hat.
Nietzsche ist ein Schicksalsmensch erster Ordnung, und so ist sein Buch: Der Wille zur Macht ein Schicksalsbuch. Sind nicht alle großen Deutschen Schicksalsmenschen, sind sie es nicht ungleich mehr als große Franzosen oder auch große Engländer? Ich bin der Meinung, daß dieses Schicksalhafte der großen Deutschen mit der besonderen deutschen Einstellung zur Zeit zusammengeht, mit dem eigentlich Unzeitgemäßen des großen Deutschen, mit der langen Verkennung, der späten, immer wieder wechselnden Wirkung, damit also, daß der Deutsche oft erst mit seinem Tode geboren wird und dementsprechend dann weiterwächst, abnimmt, wiederum wächst...

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Nietzsche ist der Mann der Weltwende zwischen dem 19. und dem 20. Jahrhundert, keiner kann neben ihm als das gelten, und so ist dieses eine Buch das einer Weltwende, sooft ich es aufschlage. Noch gestern abend fand ich die Geschichtsphilosophie Spenglers in einem einzigen Satz darin vorweggenommen. Spengler war ein Mann von sehr großem, von durchaus überlegenem Verstand und gar keinem Geschmack, ein Un-schmeckender, was sich in seinem rohen Stil unmittelbar verrät. Was bei Spengler wie ein Schmecken der Dinge aussieht, ist nur scheinhaft. Es hat nur den Anschein, als ob er schmecke. Freilich schließt ein gewisses Prophetisches in ihm, das nicht geleugnet werden soll, das wirkliche Schmecken der Dinge aus. Propheten schmecken nicht. Ob solche Menschen, frage ich, nicht viel heftiger der Beeinflussung durch andere unterliegen, als sie es selber oder als es ihre Schüler wissen oder wahrhaben wollen? Ob sie nicht von den Ideen anderer direkt unterminiert werden? Spengler erscheint mir oft so ein Unterminierter zu sein, was auch daran, von außen gesehen, bevor es also zu einer Explosion kommt, zu erkennen ist, daß er eigentlich keine Form hat. So etwas ist immer gefährlich: wirklich formlos sein. Eben um möglicher Explosionen und der davon verursachten Schäden willen.
Ich habe die Geburt der Tragödie nie ganz einsehen können, sie scheint mir nicht durchsichtig genug, die Analogieen mit der modernen Oper und dem Musikdrama sind gewollt, künstlich und im letzten falsch. Und doch ist es ein wunderbares Buch, das Buch einer ‚neuen Seele‘ und mit einer solchen und in seiner Bedeutung mit den Romanen Tolstois und dessen neuer Art, Körper und Seele zusammen zu sehen, und mit nichts anderem zu vergleichen. Hier wird nicht erklärt, sondern gedeutet, zum

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ersten Mal gedeutet, aus dem Mythischen gedeutet, und zwar so, daß von jetzt an nur noch Deutungen aus dem Mythischen, aus der Gegenwärtigkeit des Mythischen gültig sind. Nietzsche ist jener Durchbruch vom Geschichtlichen ins Mythisch-Metaphysische gelungen, welcher Herder, mit dem Nietzsche noch am ehesten verglichen werden kann, versagt blieb. Damit war eine neue, aus dem tiefsten Wesen des Menschen heraus freie Betrachtung der Geschichte gegeben ohne alle Willkürlichkeiten und ohne das Zufallhafte, das dem Diltheyschen Geschichtsbegriff noch anhaftet.
Ich habe Nietzsches Bücher der Konversion zum Freigeist (Menschliches — Allzumenschliches, Fröhliche Wissenschaft, Morgenröte usw.) immer eher langweilig gefunden, Also sprach Zarathustra formlos und in seiner Formlosigkeit direkt unglücklich. Ich kann es nicht anders sagen. Letzteres ist ein Buch ganz und gar ohne schöpferische Mitte, darum so entsetzlich aufdringlich, zudringlich, laut. Die Leichtigkeit oder, wie Nietzsche sagen würde, die Leichtfüßigkeit darin ist scheinbar, ist die Folge einer großen Überanstrengung, eines schauerlichen Sichübernehmens. Es ist ganz und gar nicht ein wahnsinniges Buch, aber das nächste wird es sein, kann es sein. Je mehr ich den Wahnsinn in den nächsten, in den letzten Büchern zu spüren meinte, um so aufmerksamer wurde mein Ohr, und um so wichtiger erscheinen mir diese nächsten, letzten. Gleich von Anfang an. Damals, als ich sie in Göggingen in der Hessingschen Anstalt zu lesen begann. Welche Ursachen dieser Wahnsinn immer gehabt haben mochte im Physischen, im Zufälligen, im Arbiträren eines armen Menschenlebens, er war schicksalhaft. Nietzsches Seele lief in ihm aus, genau so wie seine Idee des Geschichtlichen aus dem Mythischen

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entsprang. Nietzsches Wahnsinn war dessen Mythisches, und so besteht, über den Wahnsinn hinüber, hinweg, eine wundervolle Übereinstimmung zwischen Mensch und Werk trotz Zarathustra und den Büchern der Konversion.
Es war unschön und in hohem Grade ungenerös von Bayreuth und dem, was sich daran gehängt hatte, in diesem schicksalhaften Wahnsinn Nietzsches den Ausdruck gekränkten Ehrgeizes, das Ende der Nacheiferung eines absolut und wesentlich Ungenialen, zur Ungenialität Verdammten zu erblicken, Neid, der endlich birst. Ich komme darauf, weil ich in dieser Sache persönlich berührt erscheine, und zwar im Rahmen eines der Briefe aus der im Jahre 1934 veröffentlichten Korrespondenz zwischen Houston Stewart Chamberlain und Cosima Wagner. Die Szene ist folgende: Chamberlains Studierzimmer in der Blümelgasse 1, Wien VI, im vierten Stock, der Indologe Leopold von Schroeder und ich sind zu Gast. Ich werde im Briefe mit Namen nicht genannt und figuriere als der ‚ungewöhnlich begabte‘ junge Mann, der in London und Paris gelebt und ein Buch über englische Dichter und Mystiker geschrieben hat. Leopold von Schroeder, ein geistig keineswegs sehr beträchtlicher Mann, den Chamberlain vielleicht gerade um dessen Harmlosigkeit willen gerne leiden mochte, findet es plötzlich im Gespräch sehr traurig, daß das deutsche Volk sich einen Wahnsinnigen zum Lehrer gewählt habe. Damit Nietzsche meinend. Worauf ich, der junge Mensch, der Vertreter der Jugend von heute, als welcher ich Frau Wagner mit den notwendigen Vorbehalten im Briefe vorgestellt werde, aufgesprungen sei und eine Verteidigungsrede eben auf Nietzsches Wahnsinn gehalten, gerade diesen, den Wahnsinn, für wesentlich, wichtig, sinnvoll,

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notwendig und höchst genial oder als Ausdruck des Genialen ausgegeben habe. Nachdem ich diesen Unsinn von mir gegeben, hätte ich neuerdings gar Sinniges über andere Männer wie Diderot, Voltaire gesprochen...
In ihrer Antwort auf diese Schilderung schreibt Cosima Wagner ungefähr so: Ihr junger Mann (ich also) erinnere sie an jenen Jüngling in einer Erzählung des Don Quijote, der ganz vernünftig und sinnvoll rede und erzähle, bis er mit einem einzigen Wort verrate, daß er wahnsinnig sei.
Nietzsche ist der Ohrmensch unter den großen Philosophen; ich wüßte keinen anderen daneben zu nennen Höchstens noch Giordano Bruno. Nietzsches Stil, auch seine Rhetorik, seine Bilder, wo solche vorkommen, die Unform des Zarathustra, endlich das entschieden Prophetische seiner Rede und seiner Seele verrät mir den Ohrmenschen. Und aus diesem Ohrmenschentum leite ich sein geringes, nein: sein fehlendes Verhältnis zur Zahl ab, wie ein solches Augenmenschen eignet, und zwar im allerhöchsten Maße dann, wenn der Augenmensch Denker ist oder wird. Nietzsches unmögliche Idee von der Wiederkehr des Gleichen ist die Idee eines Ohrmenschen, drückt das Fanatische eines Menschen aus, der in die Ewigkeit hineinzuhören, zu horchen sucht. Nur so vermag ich ihr einen Sinn abzugewinnen. Nietzsches Meister war der wahrhaft große Heraklit. Statt der Wiederkehr des Gleichen steht bei dem frühen Griechen die Idee des ‚großen Feuers‘, die gleich allen echten, gleich den ‚möglichen Ideen‘ aus Auge und Ohr, aus beiden, kommt oder beides bindet.
Nietzsches Unverhältnis zur Zahl hängt sehr deutlich zusammen mit seiner Psychologie, besser: mit zwei psychologischen Ideen, die ihm ganz allein angehören und die auf mich in meiner Jugend eine starke Wirkung aus-

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übten. Die erste Idee läßt sich in der Frage zusammenfassen, ob wir, ob die Künstler aus Überfluß oder aus Not schöpferisch seien. Und die zweite in der Behauptung, daß wir die Dinge beschenkt haben mit unserer, mit ihrer Schönheit und daß es somit jetzt darauf ankomme, das von den Dingen zurückzuerhalten, womit wir sie beschenkt oder auch was wir in sie hineingedeutet haben, daß es, kürzer gefaßt, unser Geschäft für alle Zukunft bleibe, die Dinge aus dem Himmel, den ganzen Himmel auf die Erde zurückzubringen, da das alles dorthin gehöre, woher es gekommen und genommen sei: auf die Erde. Dieser zweite Programmpunkt hat den Individualisten der neunziger Jahre noch mehr zu gewinnen gewußt als der erste, da er ein Allgemeineres, ein Allgemeinstes zu erfassen schien. Mit ihm, meinte er, sei der Idealismus ein für allemal überwunden und an dessen Stelle ein dreifaches getreten: Psychologie, Realismus und Sozialismus.
Und doch stimmt da etwas nicht, fiel mir bald auf, ist da etwas falsch, und es sollte meine Aufgabe für die nächste Zeit sein, darauf zu kommen: auf das Falsche. Ich kann das, was folgt, hier nicht so ausführen, wie ich möchte und auch sollte, da darin ein Erziehungs- und ein Seelenproblem allererster Ordnung liegt oder richtiger: dieses Erziehungs- und Seelenproblem von einem neuen Menschen ausgeht und darum auch nur neue Menschen angehen kann. Ich behaupte nämlich, daß der letzte Sinn der Zahl, wenn wir uns die Mühe nehmen, Zahl groß zu sehen, der sei: Trennung von Himmel und Erde, Verhinderung einer Konfusion, eines Zusammenfließens beider. Statt Trennung darf auch Spannung stehen, Stufung, Leiter. Man muß nun eine sehr ursprüngliche, eine erste Einstellung zur Zahl, zum Zahlhaften haben, wie

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sie die frühen Menschen am Morgen der Welt, wie sie etwa die Pythagoräer noch gehabt haben, eine ganz und gar religiöse, um die Bedeutung dieses Satzes einzusehen und zu fühlen. Und hier muß ein persönliches Eingeständnis erfolgen, daß mir nämlich das Glück zuteil geworden sei einer solchen ursprünglichen, einer solchen ersten Einstellung zur Zahl, zum Zahlhaft-Zahlenmäßigen. War es nicht tatsächlich so und nicht anders, daß ich mich durch Jahre hindurch in sehr heimlichen Augenblicken darüber wunderte, warum Zahlen vorkommen da und dort, warum nicht plötzlich einmal statt eines Kieselsteines eine Zahl am Wege daliege, so daß ich mit dem Fuße darauf stoßen müßte?
Dieses Erstaunen war sehr heftig in mir gewesen, es würde aber seines letzten Sinnes ermangelt haben und möglicherweise nicht viel mehr als die Ausschweifung ins Seelische eines von meinem Vater ererbten außerordentlichen Zahlengedächtnisses gewesen sein, wenn damit zusammen nicht ein anderes Erstaunen in meinen Jugendjahren gegangen wäre und beide Erstaunlichkeiten nicht ineinander gegriffen hätten, wie die Finger der rechten Hand in die der linken greifen oder wie ein Pol am anderen hängt. Dieses andere Erstaunen galt — ach! es war immer da durch Jahre, mir oft gar nicht bewußt, gleichwie wir, wenn wir gehen, nicht auf den Schatten achten, den unser Körper wirft —‚ dieses andere Erstaunen also galt dem schier unbegreiflichen Umstand, daß ich ich sei, dieses andere Erstaunen sprang stets in die Frage über, warum ich statt in mir nicht in einem Baum, einem Tier, im Wasser, in irgendeinem Ding außerhalb von mir selber sei, welcher Baum, welches Tier, Wasser, Ding alle mehr Realität hätten als ich selber in mir. Es würde falsch, vage, auch lächerlich sein,

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vor allem aber ungenau, das mit Pantheismus und ähnlichcn Schulausdrücken zu bezeichnen, welche ich um des Vagen willen mein ganzes Leben lang gemieden habe. Ich bin zu keiner Zeit irgend etwas dergleichen gewesen oder habe mich so zu nennen beliebt, sondern die beiden Wege des Erstaunens der Seele bedeuten deren ewiges, unendliches Drama und Handlung und nichts anderes, zeichnen vor unserem Blick die Gestalt der Seele ab, der anfangs- und endlosen, oder heben deren Gestalt als solche heraus.
Was in der Ewigkeit aneinander gebunden ist oder ineinandergreift wie, um zum Bild zurückzukehren, die rechte und die linke Hand des Menschen, das liegt in der Zeit auseinandergerissen da, wenn wir darauf achten. Mit meinem großen Staunen darüber, daß ich in mir selber und nicht ebenso in einem Baum oder Ding, oder mit der Frage, ob ein Baum oder Ding nicht mehr, nicht wirklicher wäre als ich in mir selbst, ging gut zusammen, daß mich Nietzsches Idee von der Beraubung unserer selbst durch die Dinge, die Idee, daß die Dinge von uns, von unserer Substanz lebten, und ähnliches in ihm festhielt. Welcher Halt so lange dauerte, bis sich mir jener obgenannte letzte Sinn der Zahl von einer Trennung zwischen Himmel und Erde, Himmel und Hölle, Erde und Gestirn langsam eröffnete. Und damit hatte ich für mich vorläufig einen sehr entscheidenden Begriff gewonnen: den des Maßes. Das da ist, um auseinanderzuhalten und zu binden: beides zugleich. Der staunenden Seele meiner Jugendjahre hatte dieser Begriff gefehlt. Oder die Menschen hatten ihn mir schlecht gemacht, so daß ich ihn nicht wollte. Melancholia ist der Titel jenes Buches, mit dem ich meine Jugendzeit, wie mich dünkt, beschlossen habe, und in dieser Melancholia ist das ent-

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halten als deren Mitte, daß das Maß, daß die Idee des Maßes fehlt, weshalb sich in ihr der Mensch verzehrt, nicht anders als sich ein Kreis in sich selber verzehrt. Was ganz und gar in der Komposition des Werkes herauskommt, worin das erste Gespräch oder Gleichnis mit dem letzten, das zweite mit dem vorletzten, das dritte mit dem drittletzten korrespondieren. In der Mitte steht dann das lange Gespräch oder Drama zwischen dem Menschen und dem Gliedermann, und die Mitte dieser Mitte bildet das Gleichnis von jenem Menschen oder Erznarren, der seine Besitztümer nicht verschließt, weil seine Welt ohne Schlüssel ist, sondern höchst sinnvoll versteckt, und zwar aus Einbildungskraft.
Als ich Die Elemente der menschlichen Größe schrieb, hatte ich mich in meiner Gesinnung am weitesten von Nietzsche entfernt und stand ich dessen Welt fast feindlich gegenüber. Auch war darin aus dem Individualisten ohne Ende der neunziger Jahre für mich das geworden, was ich, das Buch einleitend, den ‚indiskreten Menschen‘ nenne. Der dann wenige Jahre darauf in den Weltkrieg zog, um zu siegen und besiegt zu werden. Hüben und drüben. Ich kann das heute nicht anders sehen. Es hat sich etwas Ähnliches früher nicht so zugetragen, daß Sieg und Niederlage so ineinander eingegriffen hätten. Woraus gleichfalls eine gewisse Maßlosigkeit innerhalb des Menschlichen, ein kreishaft Melancholisches in einem ganz neuen Sinn spricht.
Wenn ich mir heute nach ungeheuersten Geschehnissen den Individualisten, den Indiskreten vor dem Weltkrieg noch einmal, so deutlich wie es nur irgend geht, vergegenwärtige, so scheint mir seine Formel, soweit er auf eine solche gebracht werden kann, die gewesen zu sein: Höchster Egoismus ist höchster Altruismus und umge-

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kehrt. Eine Formel, die aus Nietzsche zu gewinnen und mit der ein Monist leicht zu bezaubern war. Meine Idee vom Maß war nun dazu da, um dazwischen eingekeilt zu werden und beides so auseinander zu halten, wie die heilige Zahl Himmel und Erde auseinanderhält. Damit Ordnung und Sinn da sei und nicht alles, Welt- und Menschengeschehen, auf eine kolossale Indiskretion und Sinnlosigkeit hinauslaufe. Das sollte durch das Maß hintangehalten werden. Dieses sollte aber noch mehr leisten, aus ihm oder aus seiner Idee sollte die Idee der Umkehr für den hervorgehen, der einmal die Beziehung der Einheit zum Unendlichen und weiter, daraus entspringend, die Idee der weltschöpferischen Einbildungskraft einzusehen gelernt hat.

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Man wollte Künstler sein um die Jahrhundertwende. Alle wollten es sein, auch Kaufleute, Industrielle wollten es bei Gelegenheit oder Leute, die genug Geld hatten, um Monate in den besten Hotels der europäischen Hauptstädte zu verbringen. Man hatte auch bald das Wort ‚genial‘ bei der Hand. Das konnte einem gar schnell passieren, daß man für genial ausgegeben wurde unter Freunden, für einen genialen Arbeiter etwa, wenn die Freunde das Gefühl hatten, daß man nicht unbedingt unter die Allergrößten zu zählen sei. Diese ganze Genialität kam von weither, von Wagner, von noch weiter: von Schopenhauer. Nach der Lektüre Schopenhauers glaubte mancher sich dafür vor aller Welt entscheiden zu müssen, ob er unter die Genies zu zählen sei oder nicht. Es gab sicher viele, die lieber unglücklich sein wollten als keine Genies.
Das mußte vorbeigehen, es war nichts dagegen zu

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machen, und es ist auch vorbeigegangen. Man hatte zudem gar keinen Geschmack, man war in der Tat aus lauter angenommener Genialität sehr geschmacklos. Als Beweis genüge ein Blick auf die schauerliche Architektur der Jahrhundertwende. Man wollte wohl genießen, es gab auch Anweisungen dafür. Zum Genuß fehlte es aber an Vernunft, fehlte es an einem gewissen Rationalismus. Der Genießende braucht nämlich eine Art von Schutz, damit er nicht auseinandergehe, ausfließe, und diesen kann ihm nur eine Portion Rationalismus gewähren. Man denke an die Chinesen, die im Genuß tiefsinnig werden, die Franzosen, die Menschen des 18. hunderts.
Das Genie genießt nicht so ohne weiteres. Auch das, was sich Genie nennt, dilettiert im Genuß, kommt nicht bis zum Genuß, spricht höchstens davon oder schreibt Artikel darüber. Oder erlebt. Die Epoche zog das Erlebnis dem Genuß vor, und zwar aus einer gewissen feindlichen Einstellung gegen die Vernunft, gegen das Vernünftige. Was gleichfalls von weit, von noch weiter herkommt: von Kant möchte ich sagen. Wo liegt der Unterschied zwischen Genuß und Erlebnis? Wer im Genuß oder durch ihn seinen Charakter gefährdet, der hat oft das und das erlebt und das und das nicht genossen. In der Tat habe ich gefunden, daß die sogenannten Genießer, die Genießenden oft mehr Charakter haben oder ihren Charakter besser bewahren als die Erlebenden. Was sicherlich auch mit der damals grassierenden Form des ‚Genies‘ zusammenhängt.
Es ist begreiflich, daß man damals mitten unter ‚Künstlern‘, ‚Schaffenden‘, ‚Schöpferischen‘, in einer höchst literarischen Epoche also, eines lernen mußte: den Schluß vom Werke auf den Schöpfer. Womit der Psy-

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chologe an die Stelle des Philologen getreten ist und die Fragen nach dem Einfluß und ähnlichem eingestellt werden mußten. Der Philologe war rein historisch orientiert und mit fortlaufenden Daten beschäftigt, der Psychologe aber hat ‚Geschichte‘ mit ‚Leben‘ vertauscht. Man muß den Individualismus mit dem Begriff des Lebens zusammendenken, wenn man ihn richtig erfassen will. Ich mochte letzteren nicht, instinktiv nicht, ich scheute mich ihn auszusprechen, das ‚Leben‘ kam mir wie ein Ding ohne Enden vor. In Indien habe ich einmal im Korbe eines Schlangenbändigers eine gelblichrosa Schlange liegen sehen, bei der nicht gleich auszumachen war, wo der Kopf und wo der Schwanz wäre. So sah ich in dem Leben, von dem fortan die Rede war, ein Ding ohne Enden. Und ich habe erst sehr viel später gelernt, was diesem vielgebrauchten Lebensbegriff gefehlt hat, für mich, für meinen Instinkt und mein Gefühl: der Traum, das Traumelement, die Innenseite oder auch so: die Enden des Traumes. Davon habe ich in meinem Aufsatz über Hugo von Hofmannsthal im Physiognomischen Weltbild gesprochen, und darauf will ich mich hier berufen. Was aber dort explizite vorliegt, war in meinem ersten Buch, das den später von mir verworfenen Titel Die Mystik, die Künstler und das Leben führte, implizite schon vorhanden und brauchte später nur aufgewickelt zu werden.
Mit diesem meinem ersten Buch ist für mich der Name eines Mannes verknüpft, der heute dank seinem ersten Werk weltanschaulichen Inhalts zu größter politischer Bedeutung gekommen und dem darum aus persönlichen und weltgeschichtlichen Gründen ein paar Seiten gewidmet werden sollen. Ich hatte das genannte Erstlingswerk aus meinem völligen Alleinsein heraus neben an-

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deren von mir geehrten und geschätzten Geistern auch Houston Stewart Chamberlain von Paris aus geschickt, wohin ich um die Jahrhundertwende zu längerem Aufenthalt gezogen war, und nach einiger Zeit von ihm den freundlichsten Dank erhalten, Sätze enthaltend voll Anerkennung und Ermunterung, welchem später die Aufforderung folgte, ihn zu besuchen, sobald ich wieder nach Wien zurückgekehrt wäre. Was alles nach ungefähr einem Jahr geschah und einen freundschaftlichen Verkehr zur Folge hatte, der bis zum Frühjahr 1908 andauerte, da ich um diese Zeit zuerst nach England, dann nach Indien ging und Chamberlains Schicksal es so fügte, daß er Wien für immer mit Bayreuth vertauschen sollte. Ich sah ihn das letzte Mal im Leben von Angesicht zu Angesicht in meiner Wohnung in Hietzing, da ich ihm an zwei Abenden meine Melancholia vorlas, die eben erschienen war. Der geänderte Schluß des Doppelgängers in der zweiten Auflage geht auf seinen Rat zurück, wofür ich ihm heute noch dankbar bin. Wir haben später Briefe und unsere Bücher getauscht bis zu meinem Zahl und Gesicht, worauf von ihm keine Antwort mehr kam. Meine geringe naturwissenschaftliche Bildung hatte Chamberlain stets ein wenig Kummer bereitet, und die Versicherung meinerseits, daß ich die Hoffnung hege, in meinen Arbeiten aus dem Gefühl heraus nie gegen die Gesetze der Naturwissenschaft zu verstoßen, vermochte ihn wenig zu trösten. Nun waren Zahl und Gesicht, woran ich drei Jahre gearbeitet habe, fast zwei Jahre einer ziemlich intensiven, einer leidenschaftlichen Beschäftigung mit Physik und Mathematik vorangegangen. Chamberlain hätte sich durch die Lektüre des Buches davon überzeugen können und meinetwegen auch daran freuen sollen. Und er hätte davon auch

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etwas lernen müssen. Ich will gleich sagen: was. Nach seinem Tode ist ein Büchlein erschienen, das, lange vorher verfaßt, mir gelegentlich von seiner ersten Frau mit dem Augenzwinkern der Eingeweihten als ‚Houstons Lebenslehre‘ bezeichnet wurde, auf welche die Welt gespannt sein dürfte und so weiter. In diesem Büchlein, Gestalt und Leben, fand ich, als ich darin blätterte, die Idee, das Wort eines Gesetzes von der Erhaltung der Gestalt ausgesprochen, in Analogie zum Gesetz von der Erhaltung der Kraft, eine Idee, die mir ebenso falsch wie unsinnig erscheint. Leben wir doch davon oder herrscht Leben in uns darum, daß und weil es ein solches Gesetz weder gibt noch geben kann. Wofür in Zahl und Gesicht sozusagen der Beweis geliefert wird.
Völlig eingesehen habe ich vielleicht nie, was Chamberlain an meiner Jugendproduktion so angezogen hat. Er meinte einmal zu mir, meine Art erinnere ihn an die des Jules Laforgue, mit dem er wenige Jahre vor dessen Tod freundschaftlich verkehrt haben muß. Chamberlain war von äußerster Diskretion, und es war nie ganz aus ihm herauszubekommen, wann, wo oder wie er seine mehr oder weniger berühmten Freunde gekannt oder kennen gelernt hatte. Eine gewisse Verwandtschaft zwischen meiner Art und jener des Jules Laforgue mag wohl für Tod und Maske geltend gemacht werden können. Chamberlain hatte eine große Liebe für viele moderne Franzosen, so für Stéphane Mallarmé, den er kannte, während er die moderne deutsche Literatur nicht mochte, ja kaum beachtete. In Richard Wagner waren für ihn alle Möglichkeiten des Modern-Poetischen vorweggenommen. Was wollten andere Deutsche daneben? Chamberlain, der nebenbei Französisch wie ein Franzose sprach und schrieb, liebte die einzelnen Franzosen, die

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Tatsache, möchte ich sagen, des Franzosen. Beim Deutschen kam es ihm mehr auf die Idee an; oft hatte man das Gefühl, daß er sich an dieser Idee des Deutschen und vom Deutschen schadlos halte für manches, was ihm der einzelne Deutsche vorenthielt.
Von 1902 an wurden Leseabende veranstaltet, zu denen außer mir noch der spätere Botschafter in Moskau Ulrich Graf von Brockdorff-Rantzau, damals Sekretär der Deutschen Botschaft in Wien, und Hermann von Keyserling, der jüngste von uns, damals noch in der Geologie steckend, geladen waren. Leopold von Schroeder wurde wohl auch zuweilen zugezogen und las einmal seine wenig glückliche Übersetzung der Sakuntala vor. Chamberlain ‚sekretierte‘ ihn ein wenig vor uns, ebenso wie er den deutschen Kaiser, nach einem Briefe an diesen zu urteilen, vor uns, vor seinen ‚Freunden‘, ‚sekretierte‘. Was gewiß aus Liebe und Bewunderung für beide geschehen sein mochte und deren außerordentliche Stellung im Tempel der Freundschaft bezeichnen sollte, aber doch auch ein wenig darum betrieben wurde, weil der eine oder andere von uns Jüngeren hier nicht ganz mit ihm fühlen konnte. Chamberlain liebte es, die Freunde, soweit es anging, nicht oder nicht zu häufig zu mischen. Ich habe oft bei ausgesprochenen Strebern beobachtet, daß sie ihre Freunde auseinanderzuhalten suchen; bei Chamberlain aber, der nichts vom Streber hatte, entsprang es einer sehr großen Sensibilität. Er war im persönlichen Verkehr ebenso scheu und zurückhaltend, wie er in seinen Büchern, vornehmlich in Vorreden dazu, oder auch in Briefen aggressiv werden konnte.
An diesen Abenden war ich zumeist der Vorlesende: aus Stefan George, aus Rilke, aus Kierkegaards Buch des Richters und den Angriffen auf die Christenheit, meiner

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Übersetzung des Gastmahls, sehr oft aus Tod und Maske. Chamberlain las aus seinem Platobuch, daran er damals schrieb, oft aber aus seinen geliebten Franzosen, Rousseau, Voltaire. Mir fiel auf, wie er sich gegen alles Neue wie Kierkegaard oder die großen Russen etwa sperrte. Sternes Tristram Shandy las er nach seinem eigenen Geständnis alle Jahre einmal. Er war der erste, der mir davon sprach.
Ich bin keinem bedeutenden Menschen begegnet mit größeren Widersprüchen. Die meiner Meinung nach nicht auf ein eminent Schöpferisches in Chamberlain weisen, auf welches er selber niemals Anspruch erhoben hätte, sondern auf zweierlei zurückgehen: auf die genannte sehr große Sensibilität und auf die Tatsache, daß er sein ganzes Leben lang in der Fremde gelebt hat und auch in England niemals zu Hause gewesen ist. Wenn Widersprüche aus dem Schöpferischen kommen, so gebären sie im Menschen die Imagination. Statt dieser war hier aber die Sensibilität. Sie sprach unmittelbar aus dem Blick seiner schönen Augen, aus der Gliederung des Gesichts- und Schädelganzen mehr als aus den einzelnen Teilen des Gesichtes wie Mund oder Nase, sprach aus der überaus zarten Schläfenpartie, dem freien Nacken und noblen Schädelansatz. Ergebnis dieser Sensibilität war eine enorme Kultur, vielleicht die größte ihrer Zeit. Schädel und Gesicht erinnerten ein wenig an das Gesicht und den Schädel Arthur Balfours, der ebenso wie Chamberlain aus einem alten schottischen Geschlecht kam, das in ein englisches hineingeheiratet hatte. Beide übten eine große Faszination auf Menschen aus, auf Frauen und Männer, eine Art sittlicher Faszination; nur ging sie bei Chamberlain in gleichem Maße vom Werk und von der Persönlichkeit aus, während sie sich bei

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Arthur Balfour ganz und gar auf letztere beschränkte, wo sie freilich einen höchsten Grad erreicht hat, einen so hohen zum mindesten, daß er es sich ohne weiteres gestatten durfte, das zäheste und langweiligste Buch seines Jahrhunderts zu schreiben. Ich habe nur einmal mit dem bedeutenden und viel bewunderten Mann ein langes Gespräch führen dürfen, und zwar ausschließlich über englische Lyrik, was wohl nur mit einem englischen Staatsmann möglich ist.
Chamberlain konnte leicht ins Weinen geraten über Dinge, die ihn angingen, ihm gefehlt haben im Leben. Er war nie wirklich ironisch, gelegentlich aber nicht ohne eine gewisse Selbstgefälligkeit, die seinem schwärmerischen, überschwenglichen Wesen einen eigentümlichen Geruch verlieh. Darf man ihn einen Hypochonder nennen, oder entsprang seine dauernde Sorge um die Gesundheit nicht auch der Sensibilität, die ihrerseits wiederum in körperlichen Leiden ihre Wurzel hatte? Einmal kam ich abends zu ihm. Seine Hauptmahlzeit war zur Zeit das Abendessen. So etwas wechselte bei ihm, eine Zeit lang war es aus Gesundheitsrücksichten das Mittagessen gewesen. Er schnitt übrigens nach alter englischer Sitte das Fleisch selber vor. Als ich ihn nach der Ursache seiner strahlenden Laune und seines guten Aussehens fragte, meinte er, weiter strahlend, er habe heute nachmittag den Arzt bei sich gehabt, der habe ihn zwei ganze Stunden lang untersucht und nichts gefunden. Sein Bruder Basil, Professor an der Tokioter Universität, die köstlichste Mischung von Gelehrtentum und Weltvornehmheit, die ich im Leben angetroffen habe, sagte mir einmal, seinen trockenen Greisenfinger auf einen imaginären Punkt in der Luft setzend: Auf einer ganz kleinen Insel mit einem winzig kleinen Hotel darauf im Stillen Ozean

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genau in der Mitte zwischen San Franzisko und Tokio finde ich die Luft, die mir zuträglich ist, und fühle ich mich vier Wochen lang in jedem Jahre wirklich wohl.
Es ist gefährlich, bei Chamberlains umfassendem Wissen, die verschiedensten Dinge betreffend, noch von Dilettantismus zu reden, wie das von seiten der Gelehrten geschah. Sein Dilettantismus war, soweit davon geredet werden kann, englisch, er war wörtlich zu nehmen und lag in einem Sich-Delektieren an den Dingen des Wissens. Für meinen Geschmack und für mein Gefühl machte er sich zuviel aus dem Urteil von Gelehrten wie Harnack und anderen. Bei Tisch in Liebenberg erklärte Harnack, daß Rousseau und Voltaire als die wahren Repräsentanten des 18. Jahrhunderts übrig bleiben würden und daß alles, was in Kant steht, von Plato besser und schöner gesagt worden sei. Ich könnte mir vorstellen, daß ich auf eine solche Flachheit vielleicht ein ganzes Leben lang nicht mehr viel zu erwidern gehabt hätte, weil ich dem Verkünder derselben von nun an ausgewichen wäre. Chamberlain durchschaute die Menschen nicht. Und zwar nicht aus Kindlichkeit, sondern wiederum aus Sensibilität, aus einem gewissen Gefühl für Schutz. Und, was ganz und gar englisch ist, aus einem natürlichen Machtbewußtsein. Der Engländer braucht gar nicht erst ‚Psychologe‘ zu sein, ihm genügt der Takt, um so viel von den Menschen zu wissen, als er braucht, damit er die Menschen beherrsche. Chamberlain war Antisemit und widmete seine Grundlagen des 19. Jahrhunderts einem der Rasse nach reinen Juden. Er sprach den Juden das Genie, die Fähigkeit ab, genial zu schaffen, und nannte Weininger, den Verfasser von Geschlecht und Charakter, ein Genie, nur weil dieser den Juden erst recht, mit einer gewissen Verzweiflung, das

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Genie abgesprochen hatte und, selber ein Jude, Antisemit war. Weininger hatte mich einigemal, noch vor der Veröffentlichung seines berühmt gewordenen Buches, besucht. Ich bin im Leben keinem gleich begabten, gleich vielseitig begabten Menschen begegnet, der zugleich so wenig das gewesen wäre, was man Persönlichkeit nennt, der so wenig Faszination und Macht ausgeströmt hätte wie er. Weininger hatte das Aussehen und Gebaren eines tief beunruhigten jungen Mannes aus der Handelswelt, wenn sich das so sagen läßt. Und darum schoß er sich die Kugel durch den Kopf. Im Sterbehaus Beethovens.
Chamberlain sah und fühlte so etwas nicht. Er stellte das eine Mal die Idee über die Persönlichkeit und dann wiederum die Persönlichkeit über alles, und doch kommt es auf die richtige Erkenntnis der Beziehung beider zueinander an, wenn man nicht immer ausgleiten oder sich als Schwärmer erweisen will. Auf Chamberlains Seele lag in Augenblicken etwas von Schwärmerei, von der Schwärmerei Wagnerscher Musik. Schwärmerei muß offensichtlich in uns das Verhältnis zwischen Idee und Persönlichkeit stören. In wie vielen Fällen ist sie nicht mehr als das Verdampfen des Eigensinns. Als ich Chamberlain zum ersten Mal besuchte, hatte ich als Katholik ein wenig Angst vor ihm, geschah es doch um eben diese Zeit, daß er sich in den heftigsten Angriffen gegen das Katholische, gegen die Jesuiten schriftlich auslebte. Wie mußte ich nicht überrascht sein, da er mir sehr bald gestand, die einzigen Priester, mit denen sich reden ließe, wären die katholischen. Er mochte das Slawische nicht, nahm heftig Partei gegen die Tschechen und Polen des alten Österreichs, hörte weg, wenn einer Dostojewski vorbrachte, bewahrte aber das ganze Leben lang, wie auch aus seiner Briefen hervorgeht, eine Schwärmerei für die Serben,

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er — man denke! —‚ drei Wochen lang in Bosnien reisend, sich dort als Reisender überaus wohlgefühlt hatte. Seine Liebe zum deutschen Wesen war englisch, nichts war so englisch an ihm, darum mußte sie von selbst in Schwärmerei übergehen, überlaufen.
Der Blick seiner Augen war, sagte ich, sehr schön und doch der Blick eines Ohrmenschen. Damit möchte ich physiognomisch das Schwärmerische seines Wesens ausgedrückt haben. Er liebte Augenmenschen, liebte den An-Schauenden, wie Goethe einer war, und war selbst eigentlich kein Anschauender. Ob alle Schwärmerei zuletzt nicht doch mehr vom Ohr her kommt? Vom Ohr her sich ins Auge verschlägt, sooft sie dort aufleuchtet? Ich habe vorhin den Grafen Ulrich von Brockdorff-Rantzau erwähnt als einen der wenigen ständigen Teilnehmer an unseren Leseabenden, und ich will, da sein Name für alle Zeiten mit der Weigerung verbunden bleiben wird, den Vertrag von Versailles zu unterzeichnen, das über ihn sagen, was mir damals an ihm und für ihn bedeutsam und wesentlich erschienen ist. Wobei ich gleich hinzufüge, daß uns später der Zufall nicht mehr zusammengeführt hat. Eines Abends, als er mich im unnumerierten, von zwei Rappen gezogenen Fiaker eines Kollegen an der Botschaft zu Chamberlain nach der Blümelgasse abholte, sagte er während der Fahrt, sich in den Fond zurücklehnend und mich mit seinem zugleich schwelenden und scharfen Blick fixierend: Es gibt auf der Welt nur noch einen Menschen, der ehrgeiziger ist als ich, und das ist mein Bruder. (Den ich nicht kannte und der ihm so ähnlich gesehen haben soll, daß beide von Freunden auf der Straße oft verwechselt wurden.) Dieses Geständnis war meinerseits durch keine bestimmte Äußerung irgendwelcher Art hervorgerufen worden, kam durchaus

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unvermittelt, so daß ich verlegen wurde. Zu erwidern war nichts, und mir fiel nur, und zwar im Augenblick, Mime ein, der Siegfried in einer Szene von großer Genialität des Dichterischen, ihm den Sud hinhaltend, übereifrig gesteht, daß er ihm den Kopf abhauen werde...
Das war damals und ist auch heute noch, wenn auch seltener, so eine Redensart, sooft das Gespräch auf einen sehr ehrgeizigen Menschen kam oder kommt: dieser gehe über Leichen. Rantzau ging nun nicht über Leichen, was immer sonst Kollegen über ihn gesagt haben mochten, er war nämlich dazu ein viel zu komplexes Wesen, nervös, fast ein Neurastheniker, voller Verdrängung. So ein Neurastheniker geht vielleicht über Leichen, die ein anderer vor ihn hingelegt hat... Rantzau war in der Tat eines der komplexesten Wesen, die mir im Leben begegnet sind: boshaft, zynisch, schlagfertig, anhänglich, auch gütig, nicht ohne ein gewisses Schwärmerisches, merkwürdig unsicher und plötzlich hochfahrend. Er hielt seine Familie für ‚hundertmal vornehmer‘ als die Schwarzenbergs — die im alten Wien immer als der Gradmesser des Vornehmen zu gelten pflegten, die Liechtensteins waren als Regierende wiederum zu vornehm für die Funktion des Gradmessers —‚ und doch mußte es ihm passieren, daß er sich in seiner ersten Ministerrede in Weimar vor den Abgeordneten der Nationalversammlung dafür entschuldigte, daß er Graf sei.
Was aber damals im Fiaker mein Staunen erregte, war die Form des Ehrgeizes. Mimes Ehrgeiz ist nämlich deutsch, ist die deutsche Form des Ehrgeizes, ist ein Ehrgeiz, der durchsickert, die Form sprengt, den Träger desselben preisgibt und ihm selbst darum oft schädlicher ist als dem Rivalen oder Nächsten. Der Deutsche hat keine Tragödie des Ehrgeizes wie Macbeth. Schillers Wallenstein

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ist der Versuch einer Philosophie des Ehrgeizes in Versen. Was alles an einer mehr oder weniger deutlichen Zwiespältigkeit von Kopf und Herz, Geistigem und Sinnlichem, Menschlichem und Nationalem liegt, wobei eines
zu kurz kommen muß oder nicht zu reiner Wirkung gelangen kann: das Leidenschaftliche.
An einem der großen Feste des Adels in Wien vor dem Kriege sah ich da einen russischen Botschaftsrat durch die Säle schreiten und mit den Blicken nach solchen sehen, die jetzt und hier wichtig wären, wichtiger als andere. Er dachte vielleicht nicht so sehr daran, mit ihnen in ein Gespräch zu kommen oder von ihnen in ein Gespräch gezogen zu werden, darauf kam es letztlich jetzt nicht an, das war bei so viel Glanz und Hoheit nicht entscheidend, nein, er wollte nur dagewesen, er wollte gesehen worden sein von jenen, die im höchsten Sinn jetzt da sind und einen bemerken. Das wollte er, und das war auch das Entscheidende; alles andere versteht sich einstweilen von selbst und wird auch immer wieder von neuem vergessen, wie in der großen Welt so vieles sich von selbst versteht und so vieles wieder vergessen wird. Und davon lebt, gespenstisch lebt, daß es vergessen wird. Was also jetzt durch die erleuchteten Säle im Frack mit dem Ordensband über der weißen Hemdbrust schritt, spähend und geblendet, das war kein Mensch. Ein Mensch ließe sich wohl unterbrechen oder durch ein Gespräch ablenken oder gar in einen Winkel locken, nein, das war ein Wolf. Oder ein Mensch mit der Maske eines Wolfes oder ein Wolf in der Maske eines Menschen.¹

¹ Man denke nach über den Zusammenhang der Maske mit den einzelnen Leidenschaften. Soweit Leidenschaften auseinandergehalten werden können und trennbar sind, tragen wir Masken. Das deutsche Gesicht eignet sich am wenigsten zur Maske.

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Allem Anschein nach hat das ‚Interessante‘, oder was so genannt wird, an Wichtigkeit und Bedeutung unter den Menschen verloren. Und zwar seit dem Weltkrieg, seit der Herrschaft des Menschen über die Luft, wie das Fliegen genannt wird, seit dem Radio und manchem anderen. Was kann schließlich noch ‚interessant‘ sein im Sinne des Menschen der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, wenn heute irgendein Mensch ohne die geringste Schwierigkeit mittels einer dem Aussehen nach einfachen Apparatur instand gesetzt ist, jeden Tag dem Dalai-Lama bis nach Lhassa guten Morgen zu wünschen? Nichts ist daneben ‚interessant‘. Außer vielleicht das ganz Banale. Dann ist zu erwägen, daß der Kollektivmensch, der nun einmal da ist, weder das Wort ‚interessant‘ gebraucht noch den Begriff hat. Sehr große Rekorde im Sport, enorme Geschwindigkeiten, Flüge rund um die Erde und ähnliches fallen nicht mehr unter die Rubrik des Interessanten und müssen anders gekennzeichnet werden. Man würde wahrscheinlich einen Champion beleidigen, wenn man ihn oder seine Errungenschaften für interessant erklärte. Wettbewerb welcher Art immer vermag keinesfalls die Sphäre des Interessanten zu erweitern oder zu bestimmen. Singularität gehört dazu, Schauspielertum. Die Schauspieler galten früher für interessant. Auf alle Fälle, was immer sie auch angestellt haben mochten. Es sieht so aus, wie wenn das Interessante und das Sachliche im Widerspruch miteinander stünden, wie wenn ein Mensch entweder das eine oder das andere sein müßte und niemals beides zugleich.
Endlich kann das Interessante ohne das Gewöhnliche nicht bestehen. Gleichwie im typischen Schauspielergesicht stets beides zusammen anzutreffen ist. Es gibt,

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um genau zu sein, zweierlei Gewöhnliches: Erstens das Gewöhnliche an sich ohne das Interessante. Das ist einer der Aspekte des Teuflischen. Und dann das Gewöhnliche als Hintergrund des Interessanten, was dann ganz und gar unteuflisch ist. Beiden, dem Interessanten und dem Gewöhnlichen, fehlt: Wirklichkeit. Es ist auch so, wie wenn beide nur halb da wären, gleichwie der Mond immer nur zur Hälfte beleuchtet ist. Der Vergleich mit dem Mond kann ausgedehnt werden: das Interessante leuchtet ebenso wie der Mond mit geborgtem Licht. Daher dann der Mangel an Wirklichkeit, Ursprünglichkeit, an Drama, an dem, was ich das Ungebrochene, die Ganzheit alles Dramatischen, aller Handlung nennen will. Ich habe das Interessante an sich darum nie recht gemocht, besser: gar nicht bemerkt, davon weggesehen. Es schien mir verdächtig, schon von früh an, und es kam mir immer nur so lange interessant vor, als man es nicht zu Gesicht bekam. Von dem Augenblick an war es weg oder verschwand im Gewöhnlichen.
In der Welt des Kindes ist alles oder nichts interessant. Und so soll es sein. Insofern kann der Mensch sich dauernd nach dem Kind richten. In unsere Kinderwelt im mährischen Dorf, in diese Kinderwelt ohnegleichen, brach einmal ein veritabler Graf ein. Aus der Hauptstadt, aus Wien. Er sollte bei uns die Landwirtschaft lernen, ‚volontieren‘, wie das genannt wurde, bevor er die Verwaltung der eigenen Güter antrat. Der war nun interessant, jeder Einzelzug war bei ihm interessant, er bestand eigentlich nur aus solchen interessanten Einzelzügen. Bei den Menschen, den älteren, gereiften, aus der ganzen Umgebung. Er war aber nicht ‚interessant‘ für einen jüngeren Bruder. Sooft nämlich der Graf in unseren Garten kam, was selten geschah, und sich auf die

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Bank vor die Turngeräte setzte, das Kinn auf den Griff seines schönen Stockes gestützt, hing mein Bruder schon am Reck oder Barren oder auf der Strickleiter und fing an sich zu produzieren. Er hatte das Gefühl, nur so, mit seinem Außerordentlichen, mit dessen Vorführung, das Außerordentliche des Grafen aller Grafen, des ganzen Grafentums reagieren, darauf antworten zu können. Da gab es keine Einzelzüge, keine Gebrochenheiten. Meist war der Graf, der kaum hingesehen hatte, schon weg, als mein Bruder noch immer in oder an den Geräten hing. Mir wiederum, der ich damals kaum mehr als sieben Jahre gezählt haben mochte, fiel auf, wie der Graf auf die allereleganteste Art mit seinem schönen Stock die Kuhstalltür zu öffnen verstand, um sich die Hände nicht an der Klinke zu beschmutzen. Ich wartete schon immer darauf, bis er wieder, mit ein paar Sätzen seiner langen Beine die Straße nehmend, vor der Kuhstalltür stünde, um sie auf seine unvergleichliche Art zu öffnen. Es würde nun keinen Sinn gehabt haben, einen meiner Brüder oder meinen Jugendfreund und Spielgenossen auf so etwas aufmerksam zu machen. Diese Produktion war nur für mich da, und ich wartete, wie gesagt, schon darauf. Fühlte auch, daß so etwas nicht nachzumachen wäre oder wie alles Nachahmenswerte gerühmt und besprochen werden sollte. Die überaus wundervolle und zugleich so selbstverständlich gräfliche Aktion würde dann in zwei Teile zerfallen, würde gebrochen werden: in das Originale und in das Nachgemachte. Und das mußte vermieden werden. Wenn ich nicht dieses Gefühl gehabt hätte, würde ich sicherlich meine Brüder um mich herum versammelt und gerufen haben: ‚Kommt und seht, wie der Graf jetzt wieder die Kuhstalltür öffnen wird mit dem schönen Stock! Das kann nur er.‘ Ich sagte nichts, und so war,

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was geschah, viel mehr als bloß interessant. Nein, das Interessante soll es nicht geben, denn wo das Interessante ist, dort hält sich nicht weit davon das Vulgäre auf.
Die Menschen wollen, wenn das Gespräch darauf kommt, immer noch etwas aus Rilkes Leben wissen, ein interessantes Detail. Ich hätte ihn gut gekannt, auch hingesehen, also müsse es da doch noch etwas geben. Die Menschen wollen hier das Interessante wissen nicht um des Gewöhnlichen, sondern um des Geschwollenen willen, das in der Rede über Rilkes Lebensanschauung, Gottesbeziehung, Glauben und so weiter im Schwange und in Büchern über ihn zu lesen ist. Wobei das Geschwollene nur die Umkehrung des Gewöhnlichen ist. In diesem und in jedem anderen Falle auch.
Ich habe Rilke als Ganzes empfunden, weil er ein Ganzes war und nichts bei ihm abfiel und irgendwo liegen blieb. Alles stimmte: das Kleine mit dem Großen, das Alltägliche mit dem Außerordentlichen. Kleine Züge an ihm, über die man lacht oder sich ärgert? Daß er im Sommer weiße Gamaschen aus Leinen trug? Darüber haben sich einige geärgert, denn ein Dichter trägt keine weißen Gamaschen. Oder zum Smoking abends statt der ausgeschnittenen Weste eine hochgeschlossene aus Sammet oder Seide? Es war leicht einzusehen, daß er damit, mit so einer priesterlichen Weste, darüber das russische Kreuz hing, die Weltlichkeit des Smokings einigermaßen aufheben oder auch ein wenig herabsetzen und seinem Aussehen etwas Priesterliches verleihen Wollte. Auch das fanden die Leute zugleich interessant und doch auch ein wenig ärgerlich. Das geht im übrigen sehr gut zusammen, daß einer fort und fort auf das Interessante aus ist und sich dabei über alles Erdenkliche ärgert. Eines Abends erschien Rilke in Gesellschaft einer

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Dame in der Odeonbar in München und hatte eine gewöhnliche, eine ausgeschnittene Weste zum Smoking. Wie alle anderen Menschen. Die Zeit der hochgeschlossenen aus Sammet oder Seide war offenbar abgelaufen. Ich lachte zu ihm an seinen Tisch hinüber, und er verstand gleich mein Lachen, nahm es auf und gab es mir zurück. Er lachte, wie ein kleiner Junge lacht, sein Gesicht war mit Lachen wie übergossen. Ein anderes Detail aus seinem privaten oder auch gewöhnlichen Leben wäre, daß er eine so wundervolle Art hatte, Trinkgeld zu geben. Er gab im Verhältnis zu seinen Mitteln zuviel, denn in diesem Zuviel schien ihm der Sinn des Trinkgeldgebens zu liegen. Und das Trinkgeld war für ihn ganz und gar nicht die Regelung einer Angelegenheit zwischen zwei Persönlichkeiten, einer dienenden und einer, die bedient wird. Es hatte auch seiner Ansicht nach nichts dergleichen zu sein. Ich weiß einen weltberühmten Gelehrten, der, sooft er wo zu Gast ist, sich beim Abschied in die Küche begibt, um sich bei der Köchin für alles Genossene und die Mühe, die sie damit hatte, zu bedanken. Das ist alles, und das ist sehr verschieden von der Art Rilkes, sich zu solchen Dingen zu stellen.
Was mich auf einen kleinen Zug bringt, aus welchem, wie ich ahne, gar viel für sein Großes gewonnen werden könnte, wenn wir dazusehen. Er verstand es, Geschenke zu machen wie nicht leicht ein anderer. Was er schenkte, war sozusagen immer das Richtige, und so eines von seinen Geschenken blieb auch das ganze Leben lang ein Geschenk und wurde nicht mit der Zeit zu etwas, das herumliegt und im Wege ist. Etwas Brauchbares im gewöhnlichen Sinne, etwas Nützliches sollte es eben nicht sein. Er protestierte einmal heftig, als ich ihm Kiebitzeier, einen ganzen schön geflochtenen Korb damit, wie er

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sich in der Auslage unseren Blicken verlockend anbot, zum Geschenk machen wollte. Nein, so etwas: zum Essen, etwas Nützliches, wollte er von mir nicht haben; dazu wären andere da. Es war während des Krieges in München, alle Menschen litten mehr oder weniger Hunger, und da dachte ich mir, ein immerhin Seltenes wie Kiebitzeier könne man doch Rilke gegenüber riskieren, Kiebitzeier seien schließlich doch etwas Besseres und von höherem Rang als ein Schinken oder ein Hase. Doch an seiner Abwehr erkannte ich gleich, Kiebitzeier seien es auch nicht trotz Hunger und Krieg.
Wahrscheinlich ist ihm dabei das eine aufgegangen, daß ich das überhaupt nicht recht verstünde: Geschenke machen, daß ich sehr leicht, wenn ich mich so ausdrücken darf, vorbeischenke, und daß es darum meist ganz unwichtig sei, ob ich schenke oder nicht schenke. Wir haben uns darüber nie unterhalten, obwohl es so recht ein Thema für eine unserer Konversationen gewesen wäre. Seine Art und meine Art, sein Vermögen und mein Unvermögen sind zwei verschiedene Arten der Seele oder des inneren, des verborgenen Menschen, sich auszudrücken, zwei verschiedene Arten des Schicksalhaften, und müssen als das hingenommen werden. Die seine weiß ich im Geiste mit seiner großen Artikuliertheit, mit einer sehr offenbaren Überreife des ganzen Wesens zu verbinden, die sich zudem physiognomisch so deutlich im Gesicht ausdrückte, im Munde, der vor Überreife geplatzt zu sein schien wie eine große Pflaume. Ferner mit seiner Entschlossenheit, Ordnung zu halten und seine eigenen Dispositionen sehr ernst zu nehmen. Es ist nämlich ganz falsch, zu meinen, daß Rilke unpraktisch gewesen sei, hilflos in den Dingen des täglichen Lebens oder je am halben Weg stehen geblieben wäre. Im Herbst

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1910 stiegen wir beide im gleichen Hotel in Paris ab am linken Ufer. Am nächsten Tag morgens, als ich mich nach ihm umsehen wollte, war er schon ausgezogen, denn die Hotelleute müßten, wie er meinte, ihr Metier erst lernen, während ich sechs Wochen blieb und den Schrecken, den mir die Inkompetenz der Hotelleute einjagte, jenem anderen vor dem Einpacken, Ausziehen und erneuten Suchen vorzog. Das sind also solche Details aus dem Leben Rilkes, den heute der größte Ruhm kleidet, kleine Züge, wie die Menschen sie zu hören lieben und die vielleicht nur ich bemerkt habe.
Jetzt will ich aber etwas anderes tun, und zwar den chinesischen Drachen der Deutungskunst und Einbildungskraft so hoch steigen lassen, als es geht, und das von oben ansehen, was unten liegt und unten liegen bleiben soll: ich meine eben die Details und kleinen Züge. Unsere Einbildungskraft ist in der Tat so ein weißer, weißblauer Drachen, wie ihn die Kinder überall an hellen Frühlingstagen in die azurene Luft steigen lassen, ein Ding, ganz Aufflug und Sinken, ohne Herz, ohne Nieren, ohne Eingeweide, ein Ding, da, um flatternd und fliegend den Abstand zu messen zwischen Unten und Oben. Vom chinesischen Kaiser heißt es, daß er auf einem Drachen, einem goldenen, auffährt in den Himmel. Ist ein solcher Drachen nicht darum des Kaisers Wappentier, das Wappentier aller Menschen, die dem Kaiser in den Himmel nachfolgen wollen? Und ist dieses Wappentier darum nicht unbeweglich und festgemacht an den Dingen unten: als ein Wahrzeichen vom Himmel her? Einmal aber war es beweglich gewesen, flatterhaft und emporschießend gleich den weißen Papierdrachen der Kinder und der Phantasie derer, die zum Dichten und Deuten auserwählt, die da sind, um die

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Spanne und den Weg fliegend zu messen zwischen Unten und Oben.
Was sehen wir also von oben? Wie das von oben, was unten ist: Rilkes schöne Gabe, Geschenke zu machen? Und zu empfangen? Denn beides gehört zusammen: das Geben und das Empfangen. Das und so: Für ihn war der Mensch unter allen Bedingungen Liebender oder Geliebter, Liebender und Geliebter, für ihn bestand die Menschheit daraus. Die Welt war wie verteilt unter Liebende und Geliebte. Das war sie in der Tat, und so lohnte es sich, sie zu sehen. Das Geschenk aber, die Gabe, die vom einen zum anderen ging, war Reigen und Brücke, war Spiel zwischen ihnen, zwischen den Liebenden und den Geliebten. Daher also die hohe Bedeutung der Gaben und Geschenke. Was wir Freiheit nennen, ist das dann etwas anderes als der Raum, darin die Gaben vom einen zum anderen gehen?
Die Welt ist aber nicht nur in Liebende und Geliebte, sondern auch in Lebende und Tote eingeteilt, sie ist zwischen den letzteren so ausgewogen, daß sich sagen läßt, das Gewicht der Toten sei genau so groß wie das der Lebenden.
Ist das richtig? Rilke wollte es jedenfalls in seinen Duineser Elegien als seine Lehre so hinstellen. In der Tat gilt oder stimmt es nur für die Seelenwelt. Und Rilkes Welt war, vielmehr ist Seelenwelt. Aus welcher er nicht herausgeschritten ist oder herausschreiten konnte. Darum ist der Vers für ihn das Primäre, die gegebene Sprache und strebt auch seine Prosa nach dem Vers, besser: ist seine Prosa dem Vers verfallen. Ich habe sehr lange nach der höchsten und letzten Deutung, nach dem letzten Sinn des Verses an sich im Geiste geforscht, und ich glaube, ihn jetzt gefunden zu haben: Er ist eben in seinem letzten Sinn die Sprache jener Welt, die geteilt

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ist zwischen Liebenden und Geliebten, Lebenden und Toten und von da allein ihr Gleichgewicht und ihre Freiheit hat. Was sich bis in die kleinsten Details der Verskunst und Verslehre, ins Künstliche derselben verfolgen ließ. Ich könnte von hier von neuem, aus einer anderen Gegend, den Weg finden zu Rilkes Mißverständnis oder Nichtverstehen des Sohnes, denn die Seelenwelt, die pure, ist die Welt des Vaters, in welcher allein Rilke zu leben und leben zu können meinte.
Meine Welt ist primär die des Geistes, und ich habe von ihr erst den Zugang in die Seelenwelt finden können. Die Welt des Geistes mit dem Übergewicht des einen über das andere: ebensosehr, heißt das, der Lebenden über die Toten wie der Toten über die Lebenden, denn darauf kommt es in der Tat an: auf dieses Übersteigen des einen über das andere, auf ein Überhandnehmen des einen durch das andere. In der Welt des Geistes ist die Lehre der Elegien vom Gleichgewicht zwischen den Lebenden und den Toten, zwischen denen im Licht und denen im Dunkel, falsch. So ist die Welt des Geistes. Nur aus dem, was ich das Übergewicht des einen über das andere nenne, aus dem Übersteigen, Überhandnehmen ist schließlich die Welt der Ideen als solche einzusehen, die Welt der Scheidung von Mensch und Idee, von Oben und Unten, die Welt endlich des Einen und Einzelnen so wie ich den Einzelnen verstehe: in dessen Beziehung zum Unendlichen. Der Ausdruck davon ist die Prosa, und zwar die Prosa in ihrer Einzigkeit und auf ihrer höchsten Stufe. Die deshalb darin ihren letzten Sinn findet, daß sich die Welt nicht entzwei- und verteilen läßt: in Liebende und Geliebte, in die Lebenden und die Toten, gleich wie der Mond geteilt ist in eine belichtete und unbelichtete Hälfte.

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Die Alten haben im Dialektischen das Innerste und Eigentliche der Prosa erblickt. Der moderne Mensch von heute ist dem Dialektischen gegenüber mißtrauisch und zieht in der Not das Lyrische vor. Ich habe im Umgang des Jahres das Dialektische für uns heute zu bestimmen und irgendwie brauchbar zu machen versucht, was ich nicht unerwähnt lassen darf. Doch geht es bei uns zum Unterschied von den Alten mehr um Persönlichkeit als um Bestimmung des Begrifflichen. Drei Menschen, drei Geister hatten jene Prosa sich zu eigen gemacht, die den Vers ausschließt: Blaise Pascal, Lawrence Sterne und Sören Kierkegaard. In allen dreien erkenne und verehre ich meine hohen Ahnen.
In der achten Duineser Elegie, über die Rilke meinen Namen geschrieben hat, wendet er sich auf seine lyrische Art gegen meine Idee von der Umkehr, wie er dieser in den Elementen der menschlichen Größe begegnet ist. Rilke wendet sich dagegen, weil er es nicht wahrhat, daß diese Umkehr nur in der Geisteswelt, in der meinetwegen dialektischen Welt des Einen und Einzelnen und nicht in seiner der Liebenden und der Geliebten vor sich gehen kann. Diesen Einen und Einzelnen jener Welt der Umkehr, der Welt des Sohnes, den im letzten, tiefsten und einzigen Sinne Freiheitschaffenden, sah Rilke nicht, gegen den wehrte er sich und an den glaubte er auch nicht. Daher steht dann bei ihm statt der Umkehr etwas anderes: eine sehr merkwürdige, eine oft unheimliche Mischung von Kindlichkeit und Perversion. Aus welcher wiederum, aus welcher allein seine Beziehung zur Psychoanalyse und zu dessen Begründer eingesehen werden kann. Rilke ist dazu ganz allmählich geführt worden. In seiner Vaterwelt. Der Weg war eine Sackgasse. Ich bin den Weg in der entgegengesetzten Richtung gegangen, weil ich um keinen Preis in eine Sackgasse geraten wollte.







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Letzte Änderung: 7. Juni 2020